Überleben
Die wahre Geschichte des Flugzeugabsturzes in den Anden
Am 12. Oktober 1972 stürzt ein Flugzeug mit dem Rugbyteam aus Uruguay in den Anden ab. Ein Überlebenskampf beginnt.
Zehn qualvolle Wochen wird es dauern, bis 16 von den insgesamt 45 Passagieren gerettet werden können. In...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Überleben “
Am 12. Oktober 1972 stürzt ein Flugzeug mit dem Rugbyteam aus Uruguay in den Anden ab. Ein Überlebenskampf beginnt.
Zehn qualvolle Wochen wird es dauern, bis 16 von den insgesamt 45 Passagieren gerettet werden können. In dieser Zeitspanne müssen die Überlebenden des Unglücks schier Unmenschliches erleiden und eine unfassbare Entscheidung treffen.
"Erschreckend, aufregend und ungeheuer unterhaltsam."
New York Times
Klappentext zu „Überleben “
Am 12. Oktober 1972 stürzt eine Chartermaschine mit einem uruguayischen Rugbyteam sowie deren Freunden und Angehörigen an Board mitten in den schneebedeckten Gipfeln der Anden ab. 3657 Meter über dem Meeresspiegel müssen die Überlebenden den Kampf gegen den Tod aufnehmen - ohne Nahrungsmittel und ohne Hoffnung auf Hilfe. Sie müssen eiskalte Temperaturen und tödliche Lawinen überstehen, um dann zu erfahren, dass die Suche nach ihnen aufgegeben wurde. Daraufhin wagen drei von ihnen den lebensgefährlichen und heimtückischen Abstieg, um doch noch Hilfe zu finden. Währenddessen müssen die Zurückgebliebenen eine unfassbare Entscheidung treffen, um das eigene Überleben zu sichern...Dieser Bestseller wurde weltweit bereits über 5 Millionen Mal verkauft und mit Ethan Hawke in der Hauptrolle packend verfilmt.
Lese-Probe zu „Überleben “
Überleben - Die wahre Geschichte des Flugzeugabsturzes in den Anden von Piers P. ReadKAPITEL 1
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Uruguay, eines der kleinsten Länder Südamerikas, am Ostufer des Rio de la Plata gelegen, entstand als Pufferstaat zwischen den sich entwickelnden Riesenstaaten Brasilien und Argentinien. Es war ein idyllisches Ländchen, in dem halbwilde Rinderherden auf endlosen Weiden umherzogen. Seine Bewohner führten ein bescheidenes Leben: in der Hauptstadt Montevideo als Kaufleute, Ärzte und Anwälte, in den weiten Ebenen als stolze, ruhelose Gauchos.
Im 19. Jahrhundert erlebte Uruguay schwere Zeiten. Erst nach hartem Kampf gegen Argentinien und Brasilien errang es die Unabhängigkeit, und anschließend lieferten sich die Blancos, die konservative Partei aus dem Landesinneren, und die Colorados, die liberale Partei in Montevideo, blutige Gefechte. Im Jahre 1904 wurde die letzte Erhebung der Blancos von José Batlle y Ordónez, dem Colorado-Präsidenten, niedergeschlagen. Er errichtete dann ein weltliches, demokratisches Staatswesen, das jahrzehntelang als das fortschrittlichste und aufgeklärteste in ganz Südamerika galt. Die Wirtschaft dieses Wohlfahrtsstaates stützte sich auf die landwirtschaftlichen Produkte, die Uruguay nach Europa exportierte.
Und solange die Weltmarktpreise für Wolle, Rindfleisch und Rindleder hoch genug blieben, lebte Uruguay im Wohlstand. Doch in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts sanken die Preise für diese Güter, und nun ging es mit Uruguay bergab. Arbeitslosigkeit und Inflation griffen um sich, die Unruhe in der Bevölkerung wuchs.
Der Beamtenapparat war überbesetzt und unterbezahlt; Anwälte, Architekten und Ingenieure - einst die Oberschicht des Landes - klagten über Mangel an Aufträgen und sinkende Honorare. Viele sahen sich gezwungen, mit Nebenbeschäftigungen Geld zu verdienen.
Nur die Besitzer großer Ländereien im Inneren waren ihres Wohlstandes noch sicher. Alle Übrigen schlugen sich durch, so gut es eben ging, in einem Land, das wirtschaftlich stagnierte und von korrupten Beamten verwaltet wurde.
In dieser Atmosphäre entstand die erste und bemerkenswerteste Stadtguerillaorganisation Amerikas, die Tupamaros. Sie verfolgten das Ziel, die Oligarchie zu stürzen, die Uruguay mithilfe der Blanco- und Colorado-Partei regierte. Anfangs hatten die Tupamaros Erfolg. Sie entführten Beamte und Diplomaten und infiltrierten die Polizei, die gegen sie eingesetzt wurde. Dann ließ die Regierung die Armee eingreifen, die mit äußerster Brutalität gegen Partisanen vorging und sie aus ihren kleinen Häusern vertrieb. Die Bewegung wurde unterdrückt; die Tupamaros füllten die Gefängnisse. Schon Anfang der 50er-Jahre bat eine Gruppe katholischer Eltern, die besorgt waren über atheistische Tendenzen unter den Lehrern an den staatlichen Schulen und unzufrieden mit dem Englischunterricht der Jesuiten, den irischen Zweig der Christian Brothers, einer katholischen Laienbrüdergenossenschaft für Jugenderziehung und Unterricht, in Montevideo eine Schule aufzumachen.
Ihrer Bitte wurde entsprochen; fünf irische Laienbrüder kamen über Buenos Aires nach Montevideo und gründeten dort, im Vorort Carrasco, das Stella-Maris-College, eine Schule für neun- bis sechzehnjährige Jungen. Im Mai 1955 begann der Unterricht in einem Haus an der Rambla mit Blick auf den riesigen Himmel und das weite Meer.
Zwar sprachen die irischen Brüder nur gebrochen Spanisch, aber trotzdem eigneten sie sich für ihre neue Aufgabe ausgezeichnet. Uruguay mochte weit von Irland entfernt sein, doch es war wie dieses ein kleiner, von der Landwirtschaft geprägter Staat. Uruguayer nährten sich von Rindfleisch wie die Iren von Kartoffeln, und hier wie dort floss das Leben noch gemächlich dahin. Auch die Struktur jener Gesellschaftsschicht, der die Brüder in Uruguay dienten, war ihnen nicht unvertraut. In den freundlichen, modernen Villen unter den Pinienbäumen von Carrasco - dem elegantesten Vorort Montevideos - wohnten zumeist vielköpfige, festgefügte Familien.
Selbst nachdem die Kinder aufgewachsen waren, lockerte sich ihre Beziehung zu den Eltern kaum. Die Zuneigung und den Respekt, die die Jungen für ihre Eltern empfanden, übertrugen sie bereitwillig auf ihre Lehrer. Mit so wohlerzogenen Kindern hatten die Brüder keine Schwierigkeiten, und auf Bitten der Eltern verzichteten die Christian Brothers auf eines ihrer Haupterziehungsmittel: die körperliche Züchtigung.
In Uruguay war es üblich, dass junge Männer und Frauen selbst nach Abschluss der Schule bei ihren Eltern wohnten und erst auszogen, wenn sie heirateten. Oft fragten sich die Christian Brothers, woran es liegen mochte, dass inmitten einer vom Generationskonflikt zerrissenen Welt die Bürger von Uruguay - zumindest aber die Bewohner von Carrasco - vor solchen Konflikten verschont blieben.
Es schien, als ob die ausgedörrte Weite Brasiliens im Norden und die trüben Fluten des Rio de la Plata im Süden und Westen das Ländchen auch gegen die Strömungen der Zeit abschirmten. Nicht einmal die Tupamaros brachten Unruhe in das Stella- Maris-College. Die katholisch-konservativen Eltern schickten ihre Kinder zu den Christian Brothers, weil sie die traditionellen Methoden und die altmodischen Erziehungsziele dieses Ordens schätzten. Politischer Idealismus gedieh eher unter den Jesuiten, denen es darum ging, den Intellekt zu schulen, als bei den Zöglingen der Christian Brothers, die ihre Schüler in erster Linie charakterlich festigen wollten. Die Prügelstrafe, die sie auf Drängen der Eltern abschafften, war nicht ihr einziges Mittel zum Zweck; das zweite war der Rugbysport.
Rugby wurde und wird im Stella-Maris-College wie in Europa gespielt. Zwei je 15 Mann starke Teams stehen einander auf dem Feld gegenüber. Sie tragen weder Sturzhelm noch Schutzpolsterung. Kein Spieler darf ausgewechselt werden. Ziel jedes Teams ist es, den ovalen Ball im gegnerischen Malfeld niederzulegen oder ihn über die Querlatte zwischen die beiden senkrechten Stangen des H-förmigen Mals zu treten. Man kann den Ball treten, tragen oder nach hinten abspielen; wenn ein Gegenspieler den Ball hat, darf man ihn behindern, rempeln und durch Griffe an den Beinen zu Fall bringen. Der Ballträger darf dem Angreifer dabei lediglich ausweichen oder ihn mit der Hand abwehren.
Bei Regelverstößen - wenn zum Beispiel der Ball nach vorn geworfen wird - pfeift der Schiedsrichter ab und ordnet ein Gedränge an. Dabei formieren sich die Stürmer beider Mannschaften zu massiven Acht-Mann-Einheiten und drängen gegeneinander an. In der vordersten Reihe stehen je drei Stürmer - der Mittlere ist der Hakler -, die einander mit den Armen umfassen und sich mit den Köpfen zwischen die Köpfe der Gegner beugen. Hinter den drei Mann der ersten Reihe stehen zwei Mann in der zweiten und drei Mann in der dritten Reihe, die sich stützend gegen ihre Vordermänner drücken. Nun wirft der Gedrängehalbspieler der Mannschaft, die den Vorteil hat, den Ball in den Tunnel zwischen den beiden vordersten Reihen, wonach entweder der Hakler ihn nach hinten tritt oder die Stürmer ihre Gegner zurückdrängen, um mit den Füßen in Ballbesitz zu kommen. Sobald der Ball hinausgespielt ist, nimmt ihn der Gedränge halb auf und versucht, ihn über den zweiten Halbspieler an die Dreiviertelspieler zurückzupassen, die dann einen neuen Angriff starten.
Es ist ein hartes Spiel - schön, wenn das technische Können ausreicht, brutal, wenn Anfänger am Werk sind. Gebrochene Beine und Nasenbeinbrüche sind nicht selten; jedes Gedränge ramponiert die Schienbeine, jedes Fassen des Ballträgers im Sprung erfordert große Anstrengung. Man braucht nicht nur enorme Kondition, um ein 2 x 40 Minuten schnelles Spiel mit nur zehn Minuten Pause in der Halbzeit durchzuhalten; mitentscheidend sind auch Selbstbeherrschung und Mannschaftsgeist. Der Mann, der den Ball ins Malfeld des Gegners bringt, ist nicht unbedingt der beste Spieler, sondern oft nur das letzte Glied in einer Kette gemeinsamer Aktionen.
Als die Christian Brothers in Uruguay ankamen, war Rugby dort so gut wie unbekannt; der Nationalsport - die nationale Leidenschaft - war Fußball. Außer dem Pro-Kopf-Verbrauch an Rindfleisch gab es nur einen Bereich, in dem Uruguay die großen Nationen der Welt übertrumpfte: den Fußball, in dem Uruguay zweimal - 1930 und 1950 - die Weltmeisterschaft gewann. Einen jungen Uruguayer aufzufordern, einen anderen Sport zu betreiben, ähnelte dem Versuch, ihn mit Brot und Kartoffeln zu füttern statt mit Fleisch.
Doch nachdem sie mit der Prügelstrafe eine der Säulen geopfert hatten, auf denen ihre Erziehung ruhte, waren die Christian Brothers nicht bereit, sich nun auch noch von der anderen zu trennen.
Fußball, so argumentierten sie, sei ein Sport für verhätschelte Stars, Rugby hingegen werde die Jungen lehren, sich dem Team unterzuordnen, zu leiden, ohne zu klagen. Anfangs sträubten sich die Eltern, doch schließlich gaben sie nach, und im Laufe der Zeit begannen sie, die Meinung der Christian Brothers über die Vorzüge des Spiels zu teilen.
Ihre Söhne spielten es mit wachsender Begeisterung, und als die erste Generation die Schule hinter sich hatte, konnten sich viele der Absolventen weder vom Rugby noch vom Stella-Maris-College trennen. So beschlossen sie, einen Verein der Ehemaligen zu gründen, und 1965, zehn Jahre nach Gründung der Schule, setzten sie ihren Plan in die Tat um. Sie nannten sich Old Christians Club, und ihre Hauptbeschäftigung bestand darin, sonntagnachmittags Rugby zu spielen.
Jahr für Jahr nahmen diese Spiele an Beliebtheit zu; sie kamen regelrecht in Mode. Jeden Sommer traten neue Exschüler dem Old Christians Club bei und vergrößerten die Auswahl an Spielern für ein jeweils besseres Team.
Inzwischen war Rugby in Uruguay populär geworden, und die erste Mannschaft der Old Christians, mit dem irischen Kleeblatt auf dem Trikot, gehörte zu den besten des Landes. 1968 gewann sie die Landesmeisterschaft, und 1970 triumphierte sie zum zweiten Mal. Mit dem Erfolg wuchs der Ehrgeiz. Die Old Christians überquerten den Rio de la Plata, um gegen argentinische Vereine anzutreten. 1971 gingen ihre Wünsche noch weiter: Sie wollten in Chile spielen. Um das zu ermöglichen und die Kosten in Grenzen zu halten, charterte der Club eine Maschine der uruguayischen Luftwaffe für den Flug von Montevideo nach Santiago. Um alle Plätze des Flugzeugs auszunutzen, verkauften die Spieler überzählige Tickets an Freunde und Schlachtenbummler. Ihre Reise wurde ein voller Erfolg. Sie traten gegen die chilenische Nationalmannschaft und gegen die erste Mannschaft der Old Boys Grange an - ein Spiel wurde gewonnen, eines verloren. Gleichzeitig genossen sie den kurzen Urlaub. Für viele war es die erste Auslandsreise; zum ersten Mal sahen sie die schneebedeckten Gipfel und Gletscher der Anden. Sie waren so begeistert von der Reise, dass sie, kaum nach Montevideo zurückgekehrt, beschlossen, die Tour im folgenden Jahr zu wiederholen.
Am Ende der nächsten Saison stand es schlecht um ihren Plan.
Überheblich geworden, hatte die erste Mannschaft der Old Christians im Kampf um die Landesmeisterschaft gegen ein schwächer eingeschätztes Team verloren; daraufhin erklärte ein Teil des Clubvorstandes, die Mannschaft habe die Reise nach Chile nicht verdient.
Außerdem fiel es dem Verein schwer, für die etwas mehr als 40 Sitze in der Fairchild F-227, die er von der Luftwaffe gechartert hatte, Abnehmer zu finden. Der Charterpreis betrug 1600 US-Dollar. Wenn 40 Plätze besetzt waren, kostete der Flug nach Santiago und zurück pro Mann 40 Dollar - weniger als ein Drittel des Preises für einen Linienflug. Je mehr Sitze leer blieben, desto mehr musste jeder Passagier zahlen, und hinzu kamen ja noch die Kosten für den fünftägigen Aufenthalt in Chile.
Zeitweise sah es ganz danach aus, als werde die Reise abgeblasen. Nun versuchten alle, die fliegen wollten, Freunde, Verwandte und Kommilitonen zum Mitreisen zu überreden. Gründe für einen Chilebesuch gab es genug. Studenten der Volkswirtschaft, die ihre Studien ernst nahmen, reizte es, Präsident Allendes demokratischen Marxismus aus eigener Anschauung kennenzulernen; Vergnügungssüchtige lockte das süße Leben zum kleinen Preis. Denn der chilenische Escudo war schwach; auf dem schwarzen Markt bekam man für den Dollar einen guten Kurs, und als Sportlerdelegation brauchten die Old Christians ihr Geld nicht zum offiziellen Kurs umzutauschen. So köderten die Rugbyspieler ihre Freunde mit Visionen von hübschen und offenherzigen Chileninnen am Strand von Viña del Mar oder im Wintersportzentrum Portillo. Ein Junge überredete seine Mutter und seine Schwester mitzukommen, ein anderer seine älteren Vettern. An dem Tag, als das Geld der Luftwaffe übergeben werden musste, hatten sie genügend Flugtickets verkauft, um die Kosten zu decken.
Am Donnerstag, dem 12. Oktober 1972, gegen sechs Uhr morgens, fanden sich die ersten Passagiere in kleinen Gruppen auf dem Carrasco-Flughafen zum Start der zweiten Chilereise der Old Christians ein. Ihre Eltern und Freundinnen hatten sie hingefahren, und die Wagen parkten unter Palmen vor dem Flughafengebäude, das, von weiten, gepflegten Rasenflächen umgeben, eher wie ein Clubhaus auf einem Golfplatz aussah. Trotz der frühen Morgenstunde und im Gegensatz zu ihren verschlafenen Gesichtern waren die Jungen elegant gekleidet, in Sportjacken und Hosen neuesten Stils. Aufgekratzt und erregt begrüßten sie einander.
Auch die Eltern schienen einander alle zu kennen. Bald drängten sich 50 bis 60 Leute in der Abflughalle. Jeder unterhielt sich mit jedem, alles lachte; es war, als würde jemand hier eine Party geben. Inmitten des Tohuwabohus standen zwei schweigende, untersetzte Gestalten: Marcelo Pérez, der Mannschaftsführer der Old Christians, und Daniel Juan, der Präsident des Clubs, der gekommen war, um dem Team eine gute Reise zu wünschen. Pérez strahlte. Er hatte sich am meisten auf die Reise gefreut und am meisten unter der Enttäuschung gelitten, als sie abgesagt werden sollte. Auch jetzt noch, obwohl dem Start nichts mehr im Wege stand, krauste sich seine Stirn, sobald ein neues Problem auftauchte.
Eines dieser Probleme war das Fehlen von Gilberto Regules.
Der Junge war weder am Treffpunkt erschienen, wo seine Freunde ihn abholen wollten, noch war er zum Flughafen gekommen. Man rief bei ihm zu Hause an, doch er meldete sich nicht.
Marcelo wusste, dass sie nicht mehr lange auf ihn warten konnten.
Sie mussten frühmorgens starten: Die Anden am Nachmittag zu überfliegen war zu gefährlich. Denn um die Mittagszeit erwärmt sich die Luft in der argentinischen Ebene, steigt auf und trifft auf die Kaltluft in den Bergen; dadurch entstehen verheerende Turbulenzen. Die Fairchild war schon vom angrenzenden Militärstützpunkt herübergerollt und stand abflugbereit vor dem Flughafengebäude. Die Jungen, die Marcelo umdrängten, schienen eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft zu sein - die jüngsten waren 18, die ältesten 26 Jahre alt. Doch es verband sie mehr, als auf den ersten Blick ersichtlich war. Die meisten von ihnen gehörten dem Club an, und viele andere hatten das von Jesuiten geleitete Herz- Jesu-College in der Innenstadt Montevideos absoviert. Diejenigen, die nicht zur Mannschaft zählten, waren Freunde, Verwandte der Freunde und Kommilitonen von der Universität, die viele der Old Christians jetzt besuchten: vorwiegend Jura-, Landwirtschafts-, Volkswirtschafts- und Architekturstudenten. Drei der Jungen studierten Medizin - zwei von ihnen spielten in der Mannschaft. Die Eltern einiger Jungen besaßen aneinandergrenzende Viehfarmen im Inneren des Landes, andere waren Nachbarn in Carrasco. Das war kein Zufall, denn sie alle gehörten derselben Gesellschaftsschicht und der gleichen Konfession an. Fast alle Jungen stammten aus reichem Elternhaus, und alle waren römisch-katholisch.
Doch nicht alle Passagiere, die sich am Schalter der uruguayischen Luftwaffe einfanden, waren Old Christians, Jesuitenzöglinge oder auch nur männlichen Geschlechts. Zu den Mitreisenden zählte eine rundliche Frau mittleren Alters, Señora Mariani, die den Flug bei der Luftwaffe gebucht hatte, um an der Hochzeit ihrer Tochter teilzunehmen, die in Chile einen politischen Flüchtling heiraten wollte. Hinzu kamen zwei ältere Ehepaare und ein hochgewachsenes, 20-jähriges Mädchen namens Susana Parrado, die in der Schlange neben ihrer Mutter, ihrem Bruder Nando und ihrem Vater stand, der die drei zum Flugplatz gebracht hatte.
Nachdem sie ihr Gepäck aufgegeben hatten, gingen die vier Parrados ins Flughafenrestaurant, von dem man die Start- und Landebahnen überblickte, und bestellten Frühstück. Ein paar Tische weiter saßen zwei Volkswirtschaftsstudenten, ärmlicher gekleidet als die Übrigen, so als wollten sie ihre soziale Überzeugung auch äußerlich dokumentieren. Besonders stark hoben sie sich von Susana Parrado ab, die einen nagelneuen, eleganten, pelzbesetzten Mantel aus Antilopenfell trug.
Ihre Mutter, Eugenia Parrado, stammte aus der Ukraine, und die beiden Kinder konnten ihre Herkunft nicht verleugnen. Susana und Nando waren beide hochaufgeschossen, hatten dunkelblondes Haar, blaue Augen und sanfte, rundliche, russische Gesichter. Keines von ihnen war eine Schönheit: weder Nando, ein schlaksiger, kurzsichtiger und etwas schüchterner Junge, noch Susana, die zwar frisch und jung aussah und eine hübsche Figur hatte, aber einen ernsten, fast strengen Zug im Gesicht trug.
Während sie ihren Kaffee tranken, wurden die Passagiere aufgerufen. Die Parrados, die beiden Sozialisten und alle anderen verließen das Restaurant und begaben sich in die Abflughalle, passierten die Pass- und Zollkontrolle und gingen nach draußen aufs Rollfeld. Vor ihnen stand die schneeweiß gestrichene Maschine, die sie nach Chile bringen sollte. Durch den Einstieg im vorderen Teil des Flugzeugrumpfs kletterten sie in die Kabine und ließen sich in die Sitze fallen, je zwei Sitze auf beiden Seiten des Mittelgangs.
Um 8.05 Uhr hob die Fairchild Nr. 571 der uruguayischen Luftwaffe von der Piste des Carrasco-Flughafens ab, mit vierzig Passagieren, fünf Mann Besatzung und Gepäck an Bord. Pilot und Kommandant der Maschine war Oberst Julio César Ferradas. Seit mehr als zwanzig Jahren diente er in der Luftwaffe und hatte 5117 Flugstunden auf dem Buckel. Neunundzwanzigmal hatte er die heimtückischen Anden überflogen. Sein Kopilot, Leutnant Dante Héctor Lagurara, war älter als Ferradas, besaß jedoch weniger Erfahrung. Einmal hatte er sich mit dem Schleudersitz aus einem Düsenjäger vom Typ T-33 retten müssen, und jetzt steuerte er die Fairchild unter den Augen Ferradas', um Erfahrung zu sammeln.
Die Maschine - eine zweimotorige Fairchild F-227 Turboprop - stammte aus den USA und war erst vor zwei Jahren von der uruguayischen Luftwaffe gekauft worden. Ferradas selbst hatte sie damals von Maryland, USA, nach Montevideo geflogen. Seitdem war die Maschine nur 792 Stunden in der Luft gewesen; nach flugtechnischen Maßstäben war sie so gut wie neu. Wenn die Piloten irgendwelche Bedenken hatten, so galten sie nicht der Zuverlässigkeit der Maschine, sondern den berüchtigten Turbulenzen in den Anden. Erst ein Vierteljahr zuvor war eine viermotorige Transportmaschine mit sechs Mann Besatzung - die Hälfte davon Uruguayer - in den Bergen spurlos verschwunden.
Laut Flugplan sollte Lagurara die Fairchild ohne Zwischenlandung von Montevideo über Buenos Aires und Mendoza nach Santiago fliegen, eine Strecke von knapp 1700 Kilometern. Die Reisegeschwindigkeit der Fairchild betrug rund 445 Stundenkilometer, die Flugzeit also etwa vier Stunden - in der letzten halben Stunde mussten die Anden überquert werden. Mit einem Start um acht Uhr früh hofften die Piloten, das Gebirge vor zwölf Uhr zu erreichen und so die gefährlichen Nachmittagsturbulenzen zu vermeiden.
Trotzdem dachten sie voller Sorge an die Hochgebirgspassage, denn das Andenmassiv ist zwar kaum 150 Kilometer breit, aber durchschnittlich gut 4000 Meter hoch. Manche Gipfel steigen bis auf 6000 Meter an, und der Aconcagua, nicht weit nördlich der Route Mendoza-Santiago, ist sogar 7014 Meter hoch und damit der höchste Berg des amerikanischen Kontinents, knapp 2000 Meter niedriger als der Mount Everest.
Die Fairchild mit ihrer maximalen Steighöhe von rund 6850 Metern konnte also die Anden nicht beliebig überqueren, sondern musste vielmehr einen der Pässe durchfliegen, die entlang der Grenze zwischen Argentinien und Chile in das Gebirge einschneiden. Bei guter Sicht hatte man die Wahl zwischen vier Pässen - dem Juncal, der kürzesten Verbindung zwischen Mendoza und Santiago, den Nieves, dem Alvarado und dem Planchón. Bei schlechtem Wetter, wenn die Piloten auf Instrumentenflug angewiesen waren, mussten sie den Planchón-Pass nehmen, mehr als 250 Kilometer südlich von Mendoza. Denn für den Juncal ist bei Instrumentenflug eine Flughöhe von 8000 Metern vorgeschrieben - zu hoch für die Fairchild. Und für die Pässe Alvarado und Nieves gab es noch kein Funkleitsystem.
Was die Piloten fürchteten, war nicht so sehr die Gefahr, einfach an einem Berggipfel zu zerschellen, sondern das unberechenbare Wetter in den Anden. Heiße Aufwinde am Osthang des Gebirges dringen in die eisige Atmosphäre an der Grenze des ewigen Schnees vor, der zwischen 4000 und 5000 Metern beginnt. Gleichzeitig stößt der Wind vom Pazifik auf die Westflanke der Anden; durch schmale Täler eingeengt, steigert er sich zu Orkangeschwindigkeit und prallt schließlich auf die heißen und kalten Luftströme aus dem Osten. Wenn ein Flugzeug in die so entstehenden Turbulenzen gerät, kann es umhergewirbelt werden wie ein welkes Blatt im Herbststurm. Um die Wetterlage zu erkunden, rief Lagurara den Kontrollturm von Mendoza.
Unter den Passagieren war keinerlei Beunruhigung zu spüren.
Die Jungen unterhielten sich, lachten, lasen in Comicheften oder spielten Karten. Marcelo Pérez diskutierte Rugbytaktik mit einigen Spielern; Susana Parrado saß neben ihrer Mutter, die an die Jungen in ihrer Nähe Bonbons verteilte. Hinter ihnen saß Nando Parrado mit seinem besten Freund, Panchito Abal.
Jeder wusste von der unzertrennlichen Freundschaft der beiden. Sie waren Kaufmannssöhne und arbeiteten beide in der väterlichen Firma - Parrado handelte mit Eisenwaren, Abal mit Tabak. Auf den ersten Blick schienen die Freunde kaum zueinanderzupassen.
Abal - blendend aussehend, charmant und reich - zählte zu den besten Rugbysportlern Uruguays und war als Dreiviertelspieler eine der Hauptstützen der Old Christians. Parrado hingegen wirkte unbeholfen und schüchtern, sah zwar nett aus, aber keineswegs besonders attraktiv und stand im Sturm seiner Mannschaft beim Gedränge in der zweiten Reihe.
Was sie beide - außer Rugby und ihrem Geschäft - am meisten interessierte, waren Autos und Mädchen, und deshalb galten sie als Playboys. Wagen sind in Uruguay ungewöhnlich teuer, doch jeder von ihnen besaß einen - Parrado einen Renault 4 und Abal einen Mini Cooper. Außerdem hatten sie Motorräder, mit denen sie nach Punta del Este brausten, um dort, mit ihren jeweiligen Mädchen auf dem Sozius, den Strand unsicher zu machen. Auch hierin schienen sie ungleiche Partner: Während sich die Mädchen darum rissen, mit Abal gesehen zu werden, war eine Verabredung mit Parrado weniger gefragt. Ihm fehlten der Glanz und der betörende Charme seines Freundes; es gelang ihm nicht, mehr zu scheinen, als zu sein. Bei Abal hingegen meinte man, hinter seiner leichten, charmanten Art verberge sich eine tiefe, geheimnisvolle Schwermut, die ihn, zusammen mit dem Ausdruck blasierter Langeweile, der gelegentlich über sein Gesicht huschte, unwiderstehlich machte. Abal revanchierte sich für die Bewunderung, die ihm die Frauen entgegenbrachten, indem er ihnen alle verfügbare Zeit widmete. Seine Größe, Körperkraft und Geschicklichkeit erlaubten es ihm, seltener zu trainieren als seine Mannschaftskameraden, und seine so geschonten Kräfte verwandte er auf seine Begleiterinnen, auf Autos, Motorräder, Kleidung und auf seine Freundschaft mit Nando Parrado.
Parrado besaß einen Vorteil gegenüber Abal, für den dieser gern alle anderen eingetauscht hätte: Er war in einem glücklichen Elternhaus aufgewachsen. Abals Eltern waren geschieden. Auch die Ehe, aus der Pancho stammte, war nicht ihre erste. Sowohl sein Vater als auch seine Mutter hatten Kinder aus früheren Ehen. Seine Mutter war sehr viel jünger als sein Vater; trotzdem hatte sich Abal entschlossen, zu seinem nunmehr über siebzigjährigen Vater zu ziehen.
Noch immer litt er unter der Scheidung - seine romantische Melancholie hatte einen echten Kern. Die Maschine flog über die endlosen argentinischen Pampas. Von den Fensterplätzen aus sah man einzelne grüne Rechtecke, bebaute Felder inmitten des Weidelandes und hin und wieder viereckige, angepflanzte Waldstücke oder kleine, von Bäumen umgebene Häuser. Unmerklich wandelte sich die Landschaft; das satte Grün der Weiden verblasste, der Boden wurde bräunlicher und trockener, während man sich dem Fuß der Berge näherte, die sich rechts von ihnen erhoben, Gestrüpp verdrängte das Gras; nur im Bereich von Quellen sah man noch kleine bebaute Felder.
Plötzlich türmten sich vor ihnen die Anden auf - ein gewaltiges, scheinbar unpassierbares Massiv, gekrönt von schneebedeckten Gipfeln, die aussahen wie die Zacken einer überdimensionalen Säge. Dieser Anblick wäre auch erfahrenen Reisenden auf den Magen geschlagen - ganz zu schweigen von den jungen Uruguayern, die größtenteils noch nie höhere Berge gesehen hatten als die kleinen Hügel zwischen Montevideo und dem Seebad Punta del Este.
Während sie sich noch an den schwindelerregenden Anblick eines der unwirtlichsten, höchsten Berge der Welt zu gewöhnen suchten, kam plötzlich der Steward Ramirez aus dem Cockpit und erklärte über den Lautsprecher, die Wetterbedingungen in den Anden machten den Weiterflug unmöglich. Sie müssten in Mendoza zwischenlanden und dort warten, bis sich das Wetter besserte.
Die Jungen stöhnten vor Enttäuschung. Sie hatten nur fünf Tage in Chile vor sich und wollten keinen davon verlieren. Auch ihre wertvollen US-Dollar wollten sie in Chile ausgeben, nicht in Argentinien, wo sie einen schlechteren Kurs dafür bekamen. Doch da sich die Anden, die von einem Ende Südamerikas bis zum anderen reichten, nicht umgehen ließen, war nichts zu machen. Also legten sie die Sitzgurte an und klammerten sich an die Armlehnen, während die Fairchild denkbar hart auf der Piste von Mendoza aufsetzte. Als die Maschine vor dem Flughafengebäude zum Stehen kam und Ferradas dem Cockpit entstieg, sprach ihn ein Dreiviertelspieler namens Roberto Canessa an und beglückwünschte ihn ironisch zu der Landung. »Kein Grund, mir zu gratulieren«, erwiderte Ferradas. »Das Lob verdient Lagurara.« »Und wann kommen wir nach Chile?«, fragte ein anderer Junge. Der Oberst zuckte mit den Schultern. »Weiß ich auch nicht. Wir werden sehen, wie sich das Wetter entwickelt.«
...
© des Titels 2012 by riva Verlag, Münchner Verlagsgruppe GmbH, München
Uruguay, eines der kleinsten Länder Südamerikas, am Ostufer des Rio de la Plata gelegen, entstand als Pufferstaat zwischen den sich entwickelnden Riesenstaaten Brasilien und Argentinien. Es war ein idyllisches Ländchen, in dem halbwilde Rinderherden auf endlosen Weiden umherzogen. Seine Bewohner führten ein bescheidenes Leben: in der Hauptstadt Montevideo als Kaufleute, Ärzte und Anwälte, in den weiten Ebenen als stolze, ruhelose Gauchos.
Im 19. Jahrhundert erlebte Uruguay schwere Zeiten. Erst nach hartem Kampf gegen Argentinien und Brasilien errang es die Unabhängigkeit, und anschließend lieferten sich die Blancos, die konservative Partei aus dem Landesinneren, und die Colorados, die liberale Partei in Montevideo, blutige Gefechte. Im Jahre 1904 wurde die letzte Erhebung der Blancos von José Batlle y Ordónez, dem Colorado-Präsidenten, niedergeschlagen. Er errichtete dann ein weltliches, demokratisches Staatswesen, das jahrzehntelang als das fortschrittlichste und aufgeklärteste in ganz Südamerika galt. Die Wirtschaft dieses Wohlfahrtsstaates stützte sich auf die landwirtschaftlichen Produkte, die Uruguay nach Europa exportierte.
Und solange die Weltmarktpreise für Wolle, Rindfleisch und Rindleder hoch genug blieben, lebte Uruguay im Wohlstand. Doch in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts sanken die Preise für diese Güter, und nun ging es mit Uruguay bergab. Arbeitslosigkeit und Inflation griffen um sich, die Unruhe in der Bevölkerung wuchs.
Der Beamtenapparat war überbesetzt und unterbezahlt; Anwälte, Architekten und Ingenieure - einst die Oberschicht des Landes - klagten über Mangel an Aufträgen und sinkende Honorare. Viele sahen sich gezwungen, mit Nebenbeschäftigungen Geld zu verdienen.
Nur die Besitzer großer Ländereien im Inneren waren ihres Wohlstandes noch sicher. Alle Übrigen schlugen sich durch, so gut es eben ging, in einem Land, das wirtschaftlich stagnierte und von korrupten Beamten verwaltet wurde.
In dieser Atmosphäre entstand die erste und bemerkenswerteste Stadtguerillaorganisation Amerikas, die Tupamaros. Sie verfolgten das Ziel, die Oligarchie zu stürzen, die Uruguay mithilfe der Blanco- und Colorado-Partei regierte. Anfangs hatten die Tupamaros Erfolg. Sie entführten Beamte und Diplomaten und infiltrierten die Polizei, die gegen sie eingesetzt wurde. Dann ließ die Regierung die Armee eingreifen, die mit äußerster Brutalität gegen Partisanen vorging und sie aus ihren kleinen Häusern vertrieb. Die Bewegung wurde unterdrückt; die Tupamaros füllten die Gefängnisse. Schon Anfang der 50er-Jahre bat eine Gruppe katholischer Eltern, die besorgt waren über atheistische Tendenzen unter den Lehrern an den staatlichen Schulen und unzufrieden mit dem Englischunterricht der Jesuiten, den irischen Zweig der Christian Brothers, einer katholischen Laienbrüdergenossenschaft für Jugenderziehung und Unterricht, in Montevideo eine Schule aufzumachen.
Ihrer Bitte wurde entsprochen; fünf irische Laienbrüder kamen über Buenos Aires nach Montevideo und gründeten dort, im Vorort Carrasco, das Stella-Maris-College, eine Schule für neun- bis sechzehnjährige Jungen. Im Mai 1955 begann der Unterricht in einem Haus an der Rambla mit Blick auf den riesigen Himmel und das weite Meer.
Zwar sprachen die irischen Brüder nur gebrochen Spanisch, aber trotzdem eigneten sie sich für ihre neue Aufgabe ausgezeichnet. Uruguay mochte weit von Irland entfernt sein, doch es war wie dieses ein kleiner, von der Landwirtschaft geprägter Staat. Uruguayer nährten sich von Rindfleisch wie die Iren von Kartoffeln, und hier wie dort floss das Leben noch gemächlich dahin. Auch die Struktur jener Gesellschaftsschicht, der die Brüder in Uruguay dienten, war ihnen nicht unvertraut. In den freundlichen, modernen Villen unter den Pinienbäumen von Carrasco - dem elegantesten Vorort Montevideos - wohnten zumeist vielköpfige, festgefügte Familien.
Selbst nachdem die Kinder aufgewachsen waren, lockerte sich ihre Beziehung zu den Eltern kaum. Die Zuneigung und den Respekt, die die Jungen für ihre Eltern empfanden, übertrugen sie bereitwillig auf ihre Lehrer. Mit so wohlerzogenen Kindern hatten die Brüder keine Schwierigkeiten, und auf Bitten der Eltern verzichteten die Christian Brothers auf eines ihrer Haupterziehungsmittel: die körperliche Züchtigung.
In Uruguay war es üblich, dass junge Männer und Frauen selbst nach Abschluss der Schule bei ihren Eltern wohnten und erst auszogen, wenn sie heirateten. Oft fragten sich die Christian Brothers, woran es liegen mochte, dass inmitten einer vom Generationskonflikt zerrissenen Welt die Bürger von Uruguay - zumindest aber die Bewohner von Carrasco - vor solchen Konflikten verschont blieben.
Es schien, als ob die ausgedörrte Weite Brasiliens im Norden und die trüben Fluten des Rio de la Plata im Süden und Westen das Ländchen auch gegen die Strömungen der Zeit abschirmten. Nicht einmal die Tupamaros brachten Unruhe in das Stella- Maris-College. Die katholisch-konservativen Eltern schickten ihre Kinder zu den Christian Brothers, weil sie die traditionellen Methoden und die altmodischen Erziehungsziele dieses Ordens schätzten. Politischer Idealismus gedieh eher unter den Jesuiten, denen es darum ging, den Intellekt zu schulen, als bei den Zöglingen der Christian Brothers, die ihre Schüler in erster Linie charakterlich festigen wollten. Die Prügelstrafe, die sie auf Drängen der Eltern abschafften, war nicht ihr einziges Mittel zum Zweck; das zweite war der Rugbysport.
Rugby wurde und wird im Stella-Maris-College wie in Europa gespielt. Zwei je 15 Mann starke Teams stehen einander auf dem Feld gegenüber. Sie tragen weder Sturzhelm noch Schutzpolsterung. Kein Spieler darf ausgewechselt werden. Ziel jedes Teams ist es, den ovalen Ball im gegnerischen Malfeld niederzulegen oder ihn über die Querlatte zwischen die beiden senkrechten Stangen des H-förmigen Mals zu treten. Man kann den Ball treten, tragen oder nach hinten abspielen; wenn ein Gegenspieler den Ball hat, darf man ihn behindern, rempeln und durch Griffe an den Beinen zu Fall bringen. Der Ballträger darf dem Angreifer dabei lediglich ausweichen oder ihn mit der Hand abwehren.
Bei Regelverstößen - wenn zum Beispiel der Ball nach vorn geworfen wird - pfeift der Schiedsrichter ab und ordnet ein Gedränge an. Dabei formieren sich die Stürmer beider Mannschaften zu massiven Acht-Mann-Einheiten und drängen gegeneinander an. In der vordersten Reihe stehen je drei Stürmer - der Mittlere ist der Hakler -, die einander mit den Armen umfassen und sich mit den Köpfen zwischen die Köpfe der Gegner beugen. Hinter den drei Mann der ersten Reihe stehen zwei Mann in der zweiten und drei Mann in der dritten Reihe, die sich stützend gegen ihre Vordermänner drücken. Nun wirft der Gedrängehalbspieler der Mannschaft, die den Vorteil hat, den Ball in den Tunnel zwischen den beiden vordersten Reihen, wonach entweder der Hakler ihn nach hinten tritt oder die Stürmer ihre Gegner zurückdrängen, um mit den Füßen in Ballbesitz zu kommen. Sobald der Ball hinausgespielt ist, nimmt ihn der Gedränge halb auf und versucht, ihn über den zweiten Halbspieler an die Dreiviertelspieler zurückzupassen, die dann einen neuen Angriff starten.
Es ist ein hartes Spiel - schön, wenn das technische Können ausreicht, brutal, wenn Anfänger am Werk sind. Gebrochene Beine und Nasenbeinbrüche sind nicht selten; jedes Gedränge ramponiert die Schienbeine, jedes Fassen des Ballträgers im Sprung erfordert große Anstrengung. Man braucht nicht nur enorme Kondition, um ein 2 x 40 Minuten schnelles Spiel mit nur zehn Minuten Pause in der Halbzeit durchzuhalten; mitentscheidend sind auch Selbstbeherrschung und Mannschaftsgeist. Der Mann, der den Ball ins Malfeld des Gegners bringt, ist nicht unbedingt der beste Spieler, sondern oft nur das letzte Glied in einer Kette gemeinsamer Aktionen.
Als die Christian Brothers in Uruguay ankamen, war Rugby dort so gut wie unbekannt; der Nationalsport - die nationale Leidenschaft - war Fußball. Außer dem Pro-Kopf-Verbrauch an Rindfleisch gab es nur einen Bereich, in dem Uruguay die großen Nationen der Welt übertrumpfte: den Fußball, in dem Uruguay zweimal - 1930 und 1950 - die Weltmeisterschaft gewann. Einen jungen Uruguayer aufzufordern, einen anderen Sport zu betreiben, ähnelte dem Versuch, ihn mit Brot und Kartoffeln zu füttern statt mit Fleisch.
Doch nachdem sie mit der Prügelstrafe eine der Säulen geopfert hatten, auf denen ihre Erziehung ruhte, waren die Christian Brothers nicht bereit, sich nun auch noch von der anderen zu trennen.
Fußball, so argumentierten sie, sei ein Sport für verhätschelte Stars, Rugby hingegen werde die Jungen lehren, sich dem Team unterzuordnen, zu leiden, ohne zu klagen. Anfangs sträubten sich die Eltern, doch schließlich gaben sie nach, und im Laufe der Zeit begannen sie, die Meinung der Christian Brothers über die Vorzüge des Spiels zu teilen.
Ihre Söhne spielten es mit wachsender Begeisterung, und als die erste Generation die Schule hinter sich hatte, konnten sich viele der Absolventen weder vom Rugby noch vom Stella-Maris-College trennen. So beschlossen sie, einen Verein der Ehemaligen zu gründen, und 1965, zehn Jahre nach Gründung der Schule, setzten sie ihren Plan in die Tat um. Sie nannten sich Old Christians Club, und ihre Hauptbeschäftigung bestand darin, sonntagnachmittags Rugby zu spielen.
Jahr für Jahr nahmen diese Spiele an Beliebtheit zu; sie kamen regelrecht in Mode. Jeden Sommer traten neue Exschüler dem Old Christians Club bei und vergrößerten die Auswahl an Spielern für ein jeweils besseres Team.
Inzwischen war Rugby in Uruguay populär geworden, und die erste Mannschaft der Old Christians, mit dem irischen Kleeblatt auf dem Trikot, gehörte zu den besten des Landes. 1968 gewann sie die Landesmeisterschaft, und 1970 triumphierte sie zum zweiten Mal. Mit dem Erfolg wuchs der Ehrgeiz. Die Old Christians überquerten den Rio de la Plata, um gegen argentinische Vereine anzutreten. 1971 gingen ihre Wünsche noch weiter: Sie wollten in Chile spielen. Um das zu ermöglichen und die Kosten in Grenzen zu halten, charterte der Club eine Maschine der uruguayischen Luftwaffe für den Flug von Montevideo nach Santiago. Um alle Plätze des Flugzeugs auszunutzen, verkauften die Spieler überzählige Tickets an Freunde und Schlachtenbummler. Ihre Reise wurde ein voller Erfolg. Sie traten gegen die chilenische Nationalmannschaft und gegen die erste Mannschaft der Old Boys Grange an - ein Spiel wurde gewonnen, eines verloren. Gleichzeitig genossen sie den kurzen Urlaub. Für viele war es die erste Auslandsreise; zum ersten Mal sahen sie die schneebedeckten Gipfel und Gletscher der Anden. Sie waren so begeistert von der Reise, dass sie, kaum nach Montevideo zurückgekehrt, beschlossen, die Tour im folgenden Jahr zu wiederholen.
Am Ende der nächsten Saison stand es schlecht um ihren Plan.
Überheblich geworden, hatte die erste Mannschaft der Old Christians im Kampf um die Landesmeisterschaft gegen ein schwächer eingeschätztes Team verloren; daraufhin erklärte ein Teil des Clubvorstandes, die Mannschaft habe die Reise nach Chile nicht verdient.
Außerdem fiel es dem Verein schwer, für die etwas mehr als 40 Sitze in der Fairchild F-227, die er von der Luftwaffe gechartert hatte, Abnehmer zu finden. Der Charterpreis betrug 1600 US-Dollar. Wenn 40 Plätze besetzt waren, kostete der Flug nach Santiago und zurück pro Mann 40 Dollar - weniger als ein Drittel des Preises für einen Linienflug. Je mehr Sitze leer blieben, desto mehr musste jeder Passagier zahlen, und hinzu kamen ja noch die Kosten für den fünftägigen Aufenthalt in Chile.
Zeitweise sah es ganz danach aus, als werde die Reise abgeblasen. Nun versuchten alle, die fliegen wollten, Freunde, Verwandte und Kommilitonen zum Mitreisen zu überreden. Gründe für einen Chilebesuch gab es genug. Studenten der Volkswirtschaft, die ihre Studien ernst nahmen, reizte es, Präsident Allendes demokratischen Marxismus aus eigener Anschauung kennenzulernen; Vergnügungssüchtige lockte das süße Leben zum kleinen Preis. Denn der chilenische Escudo war schwach; auf dem schwarzen Markt bekam man für den Dollar einen guten Kurs, und als Sportlerdelegation brauchten die Old Christians ihr Geld nicht zum offiziellen Kurs umzutauschen. So köderten die Rugbyspieler ihre Freunde mit Visionen von hübschen und offenherzigen Chileninnen am Strand von Viña del Mar oder im Wintersportzentrum Portillo. Ein Junge überredete seine Mutter und seine Schwester mitzukommen, ein anderer seine älteren Vettern. An dem Tag, als das Geld der Luftwaffe übergeben werden musste, hatten sie genügend Flugtickets verkauft, um die Kosten zu decken.
Am Donnerstag, dem 12. Oktober 1972, gegen sechs Uhr morgens, fanden sich die ersten Passagiere in kleinen Gruppen auf dem Carrasco-Flughafen zum Start der zweiten Chilereise der Old Christians ein. Ihre Eltern und Freundinnen hatten sie hingefahren, und die Wagen parkten unter Palmen vor dem Flughafengebäude, das, von weiten, gepflegten Rasenflächen umgeben, eher wie ein Clubhaus auf einem Golfplatz aussah. Trotz der frühen Morgenstunde und im Gegensatz zu ihren verschlafenen Gesichtern waren die Jungen elegant gekleidet, in Sportjacken und Hosen neuesten Stils. Aufgekratzt und erregt begrüßten sie einander.
Auch die Eltern schienen einander alle zu kennen. Bald drängten sich 50 bis 60 Leute in der Abflughalle. Jeder unterhielt sich mit jedem, alles lachte; es war, als würde jemand hier eine Party geben. Inmitten des Tohuwabohus standen zwei schweigende, untersetzte Gestalten: Marcelo Pérez, der Mannschaftsführer der Old Christians, und Daniel Juan, der Präsident des Clubs, der gekommen war, um dem Team eine gute Reise zu wünschen. Pérez strahlte. Er hatte sich am meisten auf die Reise gefreut und am meisten unter der Enttäuschung gelitten, als sie abgesagt werden sollte. Auch jetzt noch, obwohl dem Start nichts mehr im Wege stand, krauste sich seine Stirn, sobald ein neues Problem auftauchte.
Eines dieser Probleme war das Fehlen von Gilberto Regules.
Der Junge war weder am Treffpunkt erschienen, wo seine Freunde ihn abholen wollten, noch war er zum Flughafen gekommen. Man rief bei ihm zu Hause an, doch er meldete sich nicht.
Marcelo wusste, dass sie nicht mehr lange auf ihn warten konnten.
Sie mussten frühmorgens starten: Die Anden am Nachmittag zu überfliegen war zu gefährlich. Denn um die Mittagszeit erwärmt sich die Luft in der argentinischen Ebene, steigt auf und trifft auf die Kaltluft in den Bergen; dadurch entstehen verheerende Turbulenzen. Die Fairchild war schon vom angrenzenden Militärstützpunkt herübergerollt und stand abflugbereit vor dem Flughafengebäude. Die Jungen, die Marcelo umdrängten, schienen eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft zu sein - die jüngsten waren 18, die ältesten 26 Jahre alt. Doch es verband sie mehr, als auf den ersten Blick ersichtlich war. Die meisten von ihnen gehörten dem Club an, und viele andere hatten das von Jesuiten geleitete Herz- Jesu-College in der Innenstadt Montevideos absoviert. Diejenigen, die nicht zur Mannschaft zählten, waren Freunde, Verwandte der Freunde und Kommilitonen von der Universität, die viele der Old Christians jetzt besuchten: vorwiegend Jura-, Landwirtschafts-, Volkswirtschafts- und Architekturstudenten. Drei der Jungen studierten Medizin - zwei von ihnen spielten in der Mannschaft. Die Eltern einiger Jungen besaßen aneinandergrenzende Viehfarmen im Inneren des Landes, andere waren Nachbarn in Carrasco. Das war kein Zufall, denn sie alle gehörten derselben Gesellschaftsschicht und der gleichen Konfession an. Fast alle Jungen stammten aus reichem Elternhaus, und alle waren römisch-katholisch.
Doch nicht alle Passagiere, die sich am Schalter der uruguayischen Luftwaffe einfanden, waren Old Christians, Jesuitenzöglinge oder auch nur männlichen Geschlechts. Zu den Mitreisenden zählte eine rundliche Frau mittleren Alters, Señora Mariani, die den Flug bei der Luftwaffe gebucht hatte, um an der Hochzeit ihrer Tochter teilzunehmen, die in Chile einen politischen Flüchtling heiraten wollte. Hinzu kamen zwei ältere Ehepaare und ein hochgewachsenes, 20-jähriges Mädchen namens Susana Parrado, die in der Schlange neben ihrer Mutter, ihrem Bruder Nando und ihrem Vater stand, der die drei zum Flugplatz gebracht hatte.
Nachdem sie ihr Gepäck aufgegeben hatten, gingen die vier Parrados ins Flughafenrestaurant, von dem man die Start- und Landebahnen überblickte, und bestellten Frühstück. Ein paar Tische weiter saßen zwei Volkswirtschaftsstudenten, ärmlicher gekleidet als die Übrigen, so als wollten sie ihre soziale Überzeugung auch äußerlich dokumentieren. Besonders stark hoben sie sich von Susana Parrado ab, die einen nagelneuen, eleganten, pelzbesetzten Mantel aus Antilopenfell trug.
Ihre Mutter, Eugenia Parrado, stammte aus der Ukraine, und die beiden Kinder konnten ihre Herkunft nicht verleugnen. Susana und Nando waren beide hochaufgeschossen, hatten dunkelblondes Haar, blaue Augen und sanfte, rundliche, russische Gesichter. Keines von ihnen war eine Schönheit: weder Nando, ein schlaksiger, kurzsichtiger und etwas schüchterner Junge, noch Susana, die zwar frisch und jung aussah und eine hübsche Figur hatte, aber einen ernsten, fast strengen Zug im Gesicht trug.
Während sie ihren Kaffee tranken, wurden die Passagiere aufgerufen. Die Parrados, die beiden Sozialisten und alle anderen verließen das Restaurant und begaben sich in die Abflughalle, passierten die Pass- und Zollkontrolle und gingen nach draußen aufs Rollfeld. Vor ihnen stand die schneeweiß gestrichene Maschine, die sie nach Chile bringen sollte. Durch den Einstieg im vorderen Teil des Flugzeugrumpfs kletterten sie in die Kabine und ließen sich in die Sitze fallen, je zwei Sitze auf beiden Seiten des Mittelgangs.
Um 8.05 Uhr hob die Fairchild Nr. 571 der uruguayischen Luftwaffe von der Piste des Carrasco-Flughafens ab, mit vierzig Passagieren, fünf Mann Besatzung und Gepäck an Bord. Pilot und Kommandant der Maschine war Oberst Julio César Ferradas. Seit mehr als zwanzig Jahren diente er in der Luftwaffe und hatte 5117 Flugstunden auf dem Buckel. Neunundzwanzigmal hatte er die heimtückischen Anden überflogen. Sein Kopilot, Leutnant Dante Héctor Lagurara, war älter als Ferradas, besaß jedoch weniger Erfahrung. Einmal hatte er sich mit dem Schleudersitz aus einem Düsenjäger vom Typ T-33 retten müssen, und jetzt steuerte er die Fairchild unter den Augen Ferradas', um Erfahrung zu sammeln.
Die Maschine - eine zweimotorige Fairchild F-227 Turboprop - stammte aus den USA und war erst vor zwei Jahren von der uruguayischen Luftwaffe gekauft worden. Ferradas selbst hatte sie damals von Maryland, USA, nach Montevideo geflogen. Seitdem war die Maschine nur 792 Stunden in der Luft gewesen; nach flugtechnischen Maßstäben war sie so gut wie neu. Wenn die Piloten irgendwelche Bedenken hatten, so galten sie nicht der Zuverlässigkeit der Maschine, sondern den berüchtigten Turbulenzen in den Anden. Erst ein Vierteljahr zuvor war eine viermotorige Transportmaschine mit sechs Mann Besatzung - die Hälfte davon Uruguayer - in den Bergen spurlos verschwunden.
Laut Flugplan sollte Lagurara die Fairchild ohne Zwischenlandung von Montevideo über Buenos Aires und Mendoza nach Santiago fliegen, eine Strecke von knapp 1700 Kilometern. Die Reisegeschwindigkeit der Fairchild betrug rund 445 Stundenkilometer, die Flugzeit also etwa vier Stunden - in der letzten halben Stunde mussten die Anden überquert werden. Mit einem Start um acht Uhr früh hofften die Piloten, das Gebirge vor zwölf Uhr zu erreichen und so die gefährlichen Nachmittagsturbulenzen zu vermeiden.
Trotzdem dachten sie voller Sorge an die Hochgebirgspassage, denn das Andenmassiv ist zwar kaum 150 Kilometer breit, aber durchschnittlich gut 4000 Meter hoch. Manche Gipfel steigen bis auf 6000 Meter an, und der Aconcagua, nicht weit nördlich der Route Mendoza-Santiago, ist sogar 7014 Meter hoch und damit der höchste Berg des amerikanischen Kontinents, knapp 2000 Meter niedriger als der Mount Everest.
Die Fairchild mit ihrer maximalen Steighöhe von rund 6850 Metern konnte also die Anden nicht beliebig überqueren, sondern musste vielmehr einen der Pässe durchfliegen, die entlang der Grenze zwischen Argentinien und Chile in das Gebirge einschneiden. Bei guter Sicht hatte man die Wahl zwischen vier Pässen - dem Juncal, der kürzesten Verbindung zwischen Mendoza und Santiago, den Nieves, dem Alvarado und dem Planchón. Bei schlechtem Wetter, wenn die Piloten auf Instrumentenflug angewiesen waren, mussten sie den Planchón-Pass nehmen, mehr als 250 Kilometer südlich von Mendoza. Denn für den Juncal ist bei Instrumentenflug eine Flughöhe von 8000 Metern vorgeschrieben - zu hoch für die Fairchild. Und für die Pässe Alvarado und Nieves gab es noch kein Funkleitsystem.
Was die Piloten fürchteten, war nicht so sehr die Gefahr, einfach an einem Berggipfel zu zerschellen, sondern das unberechenbare Wetter in den Anden. Heiße Aufwinde am Osthang des Gebirges dringen in die eisige Atmosphäre an der Grenze des ewigen Schnees vor, der zwischen 4000 und 5000 Metern beginnt. Gleichzeitig stößt der Wind vom Pazifik auf die Westflanke der Anden; durch schmale Täler eingeengt, steigert er sich zu Orkangeschwindigkeit und prallt schließlich auf die heißen und kalten Luftströme aus dem Osten. Wenn ein Flugzeug in die so entstehenden Turbulenzen gerät, kann es umhergewirbelt werden wie ein welkes Blatt im Herbststurm. Um die Wetterlage zu erkunden, rief Lagurara den Kontrollturm von Mendoza.
Unter den Passagieren war keinerlei Beunruhigung zu spüren.
Die Jungen unterhielten sich, lachten, lasen in Comicheften oder spielten Karten. Marcelo Pérez diskutierte Rugbytaktik mit einigen Spielern; Susana Parrado saß neben ihrer Mutter, die an die Jungen in ihrer Nähe Bonbons verteilte. Hinter ihnen saß Nando Parrado mit seinem besten Freund, Panchito Abal.
Jeder wusste von der unzertrennlichen Freundschaft der beiden. Sie waren Kaufmannssöhne und arbeiteten beide in der väterlichen Firma - Parrado handelte mit Eisenwaren, Abal mit Tabak. Auf den ersten Blick schienen die Freunde kaum zueinanderzupassen.
Abal - blendend aussehend, charmant und reich - zählte zu den besten Rugbysportlern Uruguays und war als Dreiviertelspieler eine der Hauptstützen der Old Christians. Parrado hingegen wirkte unbeholfen und schüchtern, sah zwar nett aus, aber keineswegs besonders attraktiv und stand im Sturm seiner Mannschaft beim Gedränge in der zweiten Reihe.
Was sie beide - außer Rugby und ihrem Geschäft - am meisten interessierte, waren Autos und Mädchen, und deshalb galten sie als Playboys. Wagen sind in Uruguay ungewöhnlich teuer, doch jeder von ihnen besaß einen - Parrado einen Renault 4 und Abal einen Mini Cooper. Außerdem hatten sie Motorräder, mit denen sie nach Punta del Este brausten, um dort, mit ihren jeweiligen Mädchen auf dem Sozius, den Strand unsicher zu machen. Auch hierin schienen sie ungleiche Partner: Während sich die Mädchen darum rissen, mit Abal gesehen zu werden, war eine Verabredung mit Parrado weniger gefragt. Ihm fehlten der Glanz und der betörende Charme seines Freundes; es gelang ihm nicht, mehr zu scheinen, als zu sein. Bei Abal hingegen meinte man, hinter seiner leichten, charmanten Art verberge sich eine tiefe, geheimnisvolle Schwermut, die ihn, zusammen mit dem Ausdruck blasierter Langeweile, der gelegentlich über sein Gesicht huschte, unwiderstehlich machte. Abal revanchierte sich für die Bewunderung, die ihm die Frauen entgegenbrachten, indem er ihnen alle verfügbare Zeit widmete. Seine Größe, Körperkraft und Geschicklichkeit erlaubten es ihm, seltener zu trainieren als seine Mannschaftskameraden, und seine so geschonten Kräfte verwandte er auf seine Begleiterinnen, auf Autos, Motorräder, Kleidung und auf seine Freundschaft mit Nando Parrado.
Parrado besaß einen Vorteil gegenüber Abal, für den dieser gern alle anderen eingetauscht hätte: Er war in einem glücklichen Elternhaus aufgewachsen. Abals Eltern waren geschieden. Auch die Ehe, aus der Pancho stammte, war nicht ihre erste. Sowohl sein Vater als auch seine Mutter hatten Kinder aus früheren Ehen. Seine Mutter war sehr viel jünger als sein Vater; trotzdem hatte sich Abal entschlossen, zu seinem nunmehr über siebzigjährigen Vater zu ziehen.
Noch immer litt er unter der Scheidung - seine romantische Melancholie hatte einen echten Kern. Die Maschine flog über die endlosen argentinischen Pampas. Von den Fensterplätzen aus sah man einzelne grüne Rechtecke, bebaute Felder inmitten des Weidelandes und hin und wieder viereckige, angepflanzte Waldstücke oder kleine, von Bäumen umgebene Häuser. Unmerklich wandelte sich die Landschaft; das satte Grün der Weiden verblasste, der Boden wurde bräunlicher und trockener, während man sich dem Fuß der Berge näherte, die sich rechts von ihnen erhoben, Gestrüpp verdrängte das Gras; nur im Bereich von Quellen sah man noch kleine bebaute Felder.
Plötzlich türmten sich vor ihnen die Anden auf - ein gewaltiges, scheinbar unpassierbares Massiv, gekrönt von schneebedeckten Gipfeln, die aussahen wie die Zacken einer überdimensionalen Säge. Dieser Anblick wäre auch erfahrenen Reisenden auf den Magen geschlagen - ganz zu schweigen von den jungen Uruguayern, die größtenteils noch nie höhere Berge gesehen hatten als die kleinen Hügel zwischen Montevideo und dem Seebad Punta del Este.
Während sie sich noch an den schwindelerregenden Anblick eines der unwirtlichsten, höchsten Berge der Welt zu gewöhnen suchten, kam plötzlich der Steward Ramirez aus dem Cockpit und erklärte über den Lautsprecher, die Wetterbedingungen in den Anden machten den Weiterflug unmöglich. Sie müssten in Mendoza zwischenlanden und dort warten, bis sich das Wetter besserte.
Die Jungen stöhnten vor Enttäuschung. Sie hatten nur fünf Tage in Chile vor sich und wollten keinen davon verlieren. Auch ihre wertvollen US-Dollar wollten sie in Chile ausgeben, nicht in Argentinien, wo sie einen schlechteren Kurs dafür bekamen. Doch da sich die Anden, die von einem Ende Südamerikas bis zum anderen reichten, nicht umgehen ließen, war nichts zu machen. Also legten sie die Sitzgurte an und klammerten sich an die Armlehnen, während die Fairchild denkbar hart auf der Piste von Mendoza aufsetzte. Als die Maschine vor dem Flughafengebäude zum Stehen kam und Ferradas dem Cockpit entstieg, sprach ihn ein Dreiviertelspieler namens Roberto Canessa an und beglückwünschte ihn ironisch zu der Landung. »Kein Grund, mir zu gratulieren«, erwiderte Ferradas. »Das Lob verdient Lagurara.« »Und wann kommen wir nach Chile?«, fragte ein anderer Junge. Der Oberst zuckte mit den Schultern. »Weiß ich auch nicht. Wir werden sehen, wie sich das Wetter entwickelt.«
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Autoren-Porträt von Piers P. Read
PIERS PAUL READ ist einer der faszinierendsten britischen Schriftsteller und neben Überleben der Autor zahlreicher weiterer erfolgreicher Bücher, darunter Die Templer: Die Geschichte der Tempelritter, des geheimnisvollen Ordens der Kreuzzüge und The Mysogynist. Er schreibt und lebt in London.
Bibliographische Angaben
- Autor: Piers P. Read
- 2012, 352 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, Maße: 13,5 x 21,1 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: riva Verlag
- ISBN-10: 3868832629
- ISBN-13: 9783868832624
- Erscheinungsdatum: 15.08.2012
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