Tod im Skriptorium / Ein Fall für Schwester Fidelma Bd.4
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7. Jahrhundert: In einer Abtei am Meer wurde ein berühmter Gelehrter ermordet. Es droht ein Krieg. Schwester Fidelma setzt all ihr Können ein, um ihn zu verhindern. Ein neuer Keltenkrimi mit der berühmten Nonne, die zu einer Zeit agiert, in der der katholische Glaube irisch-keltischer Prägung den Frauen noch Bildung, Macht und Einfluß gestattete.
"Spannung und Humor - das ist die unwiderstehliche Mischung dieses irischen Krimis." NDR
"Schwester Fidelma ist zu einer weltweiten Botschafterin für die alte keltische Kultur geworden." Irish Post
Tod im Skriptorium von Peter Tremayne
LESEPROBE
Kapitel1
DasGewitter brach mit plötzlicher Heftigkeit los. Auf das helle Aufblitzen folgteein wütender Donnerschlag. Im nächsten Moment setzte der Regen mit schweren,eisigen Tropfen ein.
DasPferd und die Reiterin hatten gerade den Schutz des Waldes verlassen undhielten auf einer Anhöhe. Vor ihnen erstreckte sich eine weite Ebene. Die Frauwar in einen langen braunen Wollmantel mit Kapuze gekleidet, der dick und warmwar und sie vor der Kälte des Spätherbstes schützte. Ohne Furcht vor dem Wütendes Sturms sah sie zum Himmel auf. Die dunkelgrauen Wolken jagten niedrig dahinund verhüllten die entfernten Bergspitzen wie ein Nebel. Stellenweise hobensich von diesem Hintergrund dunklere Wolken ab, deren drohende Schwärze denrollenden Donner barg.
DieFrau kniff die Augen zusammen, als ihr der kalte Regen eisig schmerzend insGesicht schlug. Sie war jung und anziehend, ohne hübsch zu sein, undwiderspenstige rötliche Haarsträhnen ringelten sich unter der Kapuze über ihrebreite Stirn. Auf ihrer hellen Haut zeigten sich ganz leichte Sommersprossen.Die Augen sahen augenblicklich so grau aus wie der düstere Himmel, doch imLicht der Blitze leuchtete ein grünes Feuer in ihnen auf. Sie saß mitjugendlicher Gewandtheit im Sattel, und ihre hohe Gestalt beherrschte dasunruhige Pferd sicher. Bei näherer Betrachtung hätte man das silberne Kruzifixentdeckt, das sie am Halse trug, und die Nonnentracht, die der schwereReitmantel und die Kapuze verbargen.
SchwesterFidelma von der Gemeinschaft der heiligen Brigid von Kildare hatte dasGewitter seit einiger Zeit erwartet und wurde von seinem plötzlichen Ausbruchnicht überrascht. Die Anzeichen waren schon lange zu erkennen. Auf ihrem Ritthatte sie gesehen, wie sich die Kiefernzapfen schlossen, die Gänseblümchen undder Löwenzahn ihre Blumenblätter einrollten und die Stengeldes Wiesenklees anschwollen. Das alles verriet ihrem scharf beobachtenden Blickdas Nahen des Regens. Selbst die letzten Schwalben, die sich zum Abflug aus Éirann für die Wintermonate rüsteten, flogen dicht über demBoden, ein sicheres Anzeichen für ein bevorstehendes Gewitter. Schließlichhatte sie, als sie an einer Holzfällerhütte vorbeiritt,gesehen, wie sich der Rauch des Herdfeuers niederschlug, statt sich aufwärts zuringeln. Er wurde nach unten gedrückt und zog in kleinen Schwaden um dasGebäude, ehe er sich in der kalten Luft auflöste. Sie wußteaus Erfahrung, daß ein solcher Rauch unweigerlichnahen Regen ankündigte.
Aufdas Gewitter war sie also vorbereitet, nur nicht auf seine Heftigkeit. Siehielt einen Moment an und überlegte, ob sie in den Schutz des Waldeszurückkehren und das Nachlassen des Regengusses abwarten solle. Aber sie warnur wenige Meilen von ihrem Ziel entfernt, und wegen der Dringlichkeit derBotschaft, die sie zum sofortigen Kommen aufgefordert hatte, stieß sie demPferd die Hacken in die Seiten und ritt den Pfad hinunter, der über die weiteEbene zu dem fernen Berg führte, der trotz des peitschenden Regens und desdunklen Himmels gerade noch zu erkennen war.
Dieserauffallende Hügel war ihr Ziel, ein großer Kalksteinblock, der sich mehr alssechzig Meter über die umliegende Ebene erhob. Seine steilen Flanken zeichnetensich manchmal im Licht der Blitze ab. Fidelma spürte,wie sich ihr die Kehle zusammenschnürte, als sie die vertrauten Konturenbetrachtete. Sie kannte die befestigten Gebäude, die diese natürliche Festungkrönten. Es war Cashel, der Königssitz von Muman, des größten der fünf Königreiche von Éirann. Dort war sie geboren und aufgewachsen.
Währendsie weiterritt, den Kopf gegen den scharfen, böigenWind gesenkt, der ihr den prasselnden Regen entgegentrieb,durchzogen sie widerstreitende Gefühle. Sie war freudig erregt beim Gedanken,ihren Bruder Colgú nach mehreren Jahren wiederzusehen, doch zugleich überlegte sie besorgt, warumer ihr ausrichten ließ, sie solle ihre Gemeinschaft in Kildareverlassen und so schnell wie möglich nach Cashelkommen.
Währenddes ganzen Ritts hatte diese Frage sie bedrängt. Mehrfach hatte sie sich selbstdafür getadelt, daß sie Zeit und Energie daraufverschwendete. Fidelma war in einer traditionellenDisziplin erzogen worden. Sie erinnerte sich an den Rat ihres alten Lehrers,des Brehon Morann von Tara:»Mach dir keine Gedanken über ungelegte Eier.« Eshatte keinen Zweck, sich mit der Lösung eines Problems abzuplagen, ehe sienicht die Fragen kannte, die sie stellen mußte.
Alsohatte sie versucht, sich solche Sorgen aus dem Kopf zu schlagen, und die Kunstder dercad, der Meditation, zu Hilfe genommen, durchdie zahllose Generationen irischer Mystiker den Zustand des sitcháin,des Friedens, erlangt hatten. In Zeiten der Belastung übte sie sich regelmäßigin dieser uralten Kunst, obgleich einige Glaubensgenossen, wie auch Ultan, der Erzbischof von Armagh,sie als heidnisch verurteilten, weil sie noch von den Druiden stammte. Sogarder heilige Patrick selbst, ein Brite, der vor zweihundert Jahren einehervorragende Rolle bei der Einführung des Glaubens in den fünf Königreichengespielt hatte, verbot einige der meditativen Künste ausdrücklich. Die dercad jedoch wurde zwar mit Mißtrauenbetrachtet, war aber noch nicht verboten. Sie war ein Mittel, den Wirbel derGedanken in einem verstörten Gemüt zu beruhigen.
Beinaheohne es wahrzunehmen, erreichte Fidelma die Burg derKönige von Muman.
AmFuße des Kalksteinblocks war im Schatten der Burg im Laufe der Jahrhunderte eingroßer Marktflecken entstanden. Es war erheblich dunkler geworden, denn dasGewitter hielt unvermindert an. Fidelma erreichte denEingang zur Stadt und ritt durch die engen Straßen weiter. Der durchdringendeGeruch von Torffeuern drang ihr in die Nase, und sie sah viele flackerndeLaternen. Plötzlich trat ein hochgewachsener Kriegeraus dem dunklen Schatten; einen Speer locker, doch kampfbereit in derSchildhand, hob er mit der anderen eine Laterne hoch und rief sie an.
»Werbist du und was hast du hier in Cashel zu tun?«
SchwesterFidelma zügelte ihr Pferd.
»Ichbin Fidelma von Kildare«,antwortete sie laut, um im Brausen des Sturms gehört zu werden. Dannberichtigte sie sich: »Ich bin Fidelma, die SchwesterColgús.«
DerKrieger stieß einen leisen Pfiff aus und nahm Haltung an.
»Reitein Sicherheit weiter, Lady. Wir haben Auftrag, dich zu erwarten.«
Erzog sich in den Schatten zurück und nahm seinen unbequemen Dienst als Wächtervor den Gefahren der Nacht wieder auf.
Fidelma lenkte ihr Pferd durch die dunklen, engen Straßen der Stadt.Gelegentlich hörte sie Gelächter und lebhafte Musik aus den Häusern, an denensie vorbeiritt. Sie überquerte den Marktplatz undschlug den Pfad ein, der sich zum Gipfel des Felsens emporwand.Er war seit unvordenklichen Zeiten bewohnt. FidelmasVorfahren, die Eóganachta, die Söhne Eoghans, hatten sich vor mehr als dreihundert Jahren dortniedergelassen, als sie die Königswürde von Muman fürsich beanspruchten, und den Felsen zu ihrem politischen und später auchkirchlichen Zentrum gemacht.
Fidelma kannte hier jeden Schritt, denn ihr Vater, FailbeFland, war einst König von Cashelgewesen.
»Nichtweiter!« kreischte eine dünne, schrille Stimme und riß Fidelma aus ihren Gedanken.
Sieparierte ihr Pferd scharf und starrte überrascht auf die formlose Gestalthinab, die vor den Hufen aufgesprungen war. Nur die Stimme verriet Fidelma, daß dieses Bündel vonFellen und Lumpen eine Frau war. Sie stand gebeugt und vom Regen durchnäßt da und lehnte sich schwer auf einen Stock. Fidelma musterte sie durchdringend, konnte aber ihreGesichtszüge nicht erkennen. Alt war sie offensichtlich, alles andere aber warschwer zu ausmachen, nur im Licht der Blitze war weißes Haar zu sehen, das derRegen ihr ins Gesicht klebte.
»Werbist du?« fragte Fidelma.
»Dastut nichts zur Sache. Reite nicht weiter, wenn dir dein Leben lieb ist!«
Fidelma hob eine Augenbraue vor Verblüffung über diese Antwort.
»Womitdrohst du mir, Alte?« sagte sie schroff.
»Ichdrohe dir nicht, Lady«, kicherte das alte Weib. »Ich warne dich bloß. In demdüsteren Palast da oben hat sich der Tod eingenistet. Der Tod ereilt alle, dieda reingehen. Verlaß diesen elenden Ort, wenn dirdein Leben lieb ist!«
Einplötzlicher Blitz und rollender Donner lenkten Fidelmafür einen Moment ab, denn sie mußte ihr unruhigesPferd zügeln. Als sie sich wieder umwandte, war die Alte verschwunden. Fidelma preßte die Lippenzusammen und zuckte die Achseln. Dann lenkte sie ihr Pferd den Pfad entlang zumTor des Palasts der Könige von Muman. Noch zweimalwurde sie von Wachen angerufen, und auf ihre Antwort hin gaben die Kriegerrespektvoll den Weg frei.
EinStallbursche lief herbei und nahm ihr das Pferd ab, nachdem sie schließlich indem steingepflasterten Hof abgestiegen war. Ihn erleuchteten schimmerndeLaternen, deren Licht im Winde geheimnisvoll tanzte. Fidelmastrich noch rasch dem Pferd über die Nüstern und ergriff ihre Satteltasche,dann eilte sie der Haupttür des Gebäudes zu. Sieöffnete sich vor ihr, noch bevor sie anklopfen konnte.
Siebetrat eine weite Halle, die von einem lodernden Feuer im Mittelkamin erwärmtwurde, der fast so groß war wie ein kleines Zimmer. In der Halle befanden sichmehrere Leute, die sich nach ihr umwandten und untereinander flüsterten. EinDiener kam herbei, nahm ihr die Tasche ab und half ihr aus dem Reisemantel. Siewarf das regendurchweichte Kleidungsstück von den Schultern und ging eilig zumFeuer, um sich zu erwärmen. Der Diener erklärte ihr, ein anderer bringe Colgú die Nachricht, daß sieeingetroffen sei.
Unterden Leuten, die in der großen Halle des Palastes herumstanden und ihre durchnäßte Gestalt neugierig musterten, fand Fidelma nicht ein freundliches, vertrautes Gesicht. Esherrschte eine Atmosphäre gezwungener Feierlichkeit. Ja, sie meinte einegewisse Melancholie, sogar Feindseligkeit zu spüren. Ein düster dreinblickenderMönch stand mit wie zum Gebet gefalteten Händen neben dem Feuer.
»Gottschenke dir einen guten Tag, Bruder«, grüßte Fidelmaihn lächelnd in dem Versuch, ein Gespräch anzuknüpfen. »Warum sieht man hier soviele lange Gesichter?«
DerMönch wandte sich um und starrte sie an, wobei seine Miene noch kummervollerwurde.
»Duerwartest doch wohl keine Lustbarkeiten in einer Zeit wie dieser, Schwester?« erwiderte er tadelnd und wandte sich ab, ehe sie eineErklärung verlangen konnte.
Fidelma war einen Moment verblüfft, dann sah sie sich nach einer gesprächigerenPerson um.
Siebemerkte, daß ein Mann mit einem spitzen Gesicht siearrogant anstarrte. Als sie seinem hochmütig prüfenden Blick begegnete, kam ihreine Erinnerung. Bevor sie sie aussprechen konnte, kam der Mann auf sie zu.
»Aha,Fidelma von Kildare«, sagteer mit spröder Stimme und ohne Wärme, »also hat wohl dein Bruder Colgú dich kommen lassen?«
Fidelma war überrascht von seinem unfreundlichen Ton, doch antwortete sie miteinem Lächeln, als sie den Mann erkannte.
»Ichbegrüße dich als Forbassach, Brehondes Königs von Laigin. Was machst du so weit von Fearna entfernt?«
DerMann erwiderte ihr Lächeln nicht.
»Duhast ein gutes Gedächtnis, Schwester Fidelma. Ichhabe von deinen Taten am Hofe des Königs Oswy von Northumbrien gehört und von dem Dienst, den du in Romgeleistet hast. Aber in diesem Königreich wird dir dein Talent nichts nützen.An dem Urteil wird deine berühmte Schlauheit nichts ändern können.«
Fidelma merkte, wie ihr Lächeln einfror. Es war ihr, als sei sie in einerfremden Sprache angeredet worden. Brehon Morann von Tara hatte sie ermahnt, daßein guter Anwalt niemals seinen Gegner erraten lasse, was er denke, und Forbassach gab ihr deutlich zu verstehen, daß er ihr Gegner sei, doch in welcher Hinsicht, das warihr nicht klar.
»Ichbin sicher, Forbassach von Fearna,daß deine Worte einen tiefen Sinn haben, nur versteheich ihn nicht«, antwortete sie langsam und deutete wieder ein Lächeln an.
Forbassachs Gesicht rötete sich.
»Wirstdu unverschämt, Schwester? Du bist Colgús leiblicheSchwester, und doch tust du so, als ob «
»Verzeihung,Forbassach.«
Eineruhige männliche Stimme unterbrach den aufsteigenden Zorn in der Stimme des Brehons.
Fidelma blickte auf. Neben ihr stand ein junger Mann ungefähr in ihrem Alter.Er war hochgewachsen, fast sechs Fuß groß, und trugKriegertracht. Er war glattrasiert, hatte welligesdunkles Haar und schien auf den ersten Blick auf eine rauheArt hübsch zu sein. Seine Züge waren angenehm und anziehend. Sie hatte keineZeit, ihn genauer zu betrachten. Sie bemerkte, daß ereinen Halsreifen von gedrehtem Gold mit reichen Verzierungen trug, der ihn alsMitglied des Ordens vom Goldenen Halsreifen auswies, der ausgewählten Leibgardeder Könige von Muman. Er wandte sich mit einemfreundlichen Lächeln an sie.
»Verzeihung,Schwester Fidelma. Ich habe den Auftrag, dich in Cashel willkommen zu heißen und dich sofort zu deinemBruder zu führen. Wenn du so gut sein würdest, mir zu folgen ?«
Siezögerte, doch Forbassach hatte sich grollend einerkleinen Gruppe zugewandt, die murmelnd zusammenstand und Blicke in ihreRichtung warf. Fidelma war ratlos. Doch sie gingdarüber hinweg, folgte dem jungen Krieger durch die Halle und beeilte sich, ummit seinem ruhigen, aber ausladenden Schritt mitzuhalten.
»Dasverstehe ich nicht, Krieger.« Sie keuchte ein wenig imBestreben, neben ihm zu bleiben. »Was tut Forbassachvon Fearna hier? Weshalb ist er so verärgert?«
DerKrieger gab einen Laut von sich, der sehr einem verächtlichen Schnaufenähnelte.
»Forbassach ist der Gesandte des neuen Königs von Laigin, des jungen Fianamail.«
»Daserklärt weder seine unfreundliche Begrüßung noch die Tatsache, daß alle so trübsinnig sind. Cashelwar früher immer ein Palast, den Lachen erfüllte.«
DerKrieger wirkte verlegen.
»DeinBruder wird dir erklären, wie es steht, Schwester.«
Ererreichte eine Tür, doch bevor er klopfen konnte, wurde sie von innenaufgerissen.
»Fidelma!«
Einjunger Mann kam eilig aus der Tür heraus. Schon ein flüchtiger Blick verriet, daß er und Fidelma verwandtwaren. Sie waren von dem gleichen hohen Wuchs, hatten das gleiche rote Haar unddie wandelbaren grünen Augen, und sie besaßen die gleiche Gesichtsstruktur undBewegungshaltung.
Bruderund Schwester umarmten sich herzlich. Atemlos hielten sie sich dann aufArmeslänge und betrachteten einander prüfend.
»DieJahre sind gut zu dir gewesen, Fidelma«, stellte Colgú mit Befriedigung fest.
»Auchzu dir, Bruder. Ich machte mir Sorgen, als ich deine Botschaft erhielt. Es sindviele Jahre vergangen, seit ich zuletzt in Cashelwar. Ich fürchtete, dir könnte ein Unglück zugestoßen sein. Aber du siehstgesund und munter aus. Doch diese Leute in der großen Halle, weshalb sind sieso düster und melancholisch?«
Colgú mac Failbe Fland zog seine Schwester in das Zimmer und wandte sich zudem hochgewachsenen Krieger um: »Ich lasse dichspäter holen, Cass«, sagte er, ehe er die Tür schloß. Sie befanden sich in einem Empfangsraum, in einerEcke glomm ein Feuer. Ein Diener trat mit einem Tablett auf sie zu, auf demzwei Becher mit Glühwein standen. Leichter Dampf stieg von dem heißen Getränkauf. Der Diener stellte das Tablett auf den Tisch und zog sich unauffälligzurück, während Colgú Fidelmazu einem Stuhl vor dem Feuer führte.
»Wärmedich auf nach dem langen Ritt von Kildare«, meinteer, während draußen nach wie vor der Donner rollte. »Der Tag ist immer nochzornig auf sich selbst«, schloß er, nahm einen Bechermit Glühwein und reichte ihn seiner Schwester.
Fidelma lächelte schelmisch, als sie den Becher hob.
»Soist es. Aber trinken wir auf künftige bessere Tage.«»Dazusage ich amen, kleine Schwester«, stimmte Colgú ihrzu.
Fidelma kostete genießerisch den Wein.
»Esgibt viel zu besprechen, Bruder«, sagte sie. »Viel ist geschehen, seit wir unszuletzt gesehen haben. Ich bin viel gereist, nach der Insel Colmcille,ins Land der Angelsachsen und sogar nach Rom.« Siehielt inne, weil sie merkte, daß er sie etwasnachdenklich und besorgt ansah. »Aber du hast meine Frage noch nichtbeantwortet. Warum herrscht eine so melancholische Stimmung im Palast?«
IhrBruder runzelte die Stirn.
»Duhast schon immer scharf beobachtet, kleine Schwester«, seufzte er.
»Wasist, Colgú?«
»Ichfürchte, ich habe dich nicht zu einem Familientreffen herkommen lassen«,gestand er leise.
Fidelma sah ihren Bruder an und wartete auf weitere Erklärungen. Als sie nichtkamen, sagte sie ruhig: »Damit hatte ich auch nicht gerechnet. Was ist los?«
Colgú blickte sich beinahe ängstlich um, als wolle er sichergehen, daß ihn niemand hören könne.
»DerKönig «, begann er. »König Cathal ist von der GelbenPest befallen worden. Er liegt in seinem Zimmer im Sterben. Die Ärzte geben ihmnicht mehr viel Zeit.«
Fidelma schloß die Augen, doch im Innersten war sievon der Neuigkeit nicht überrascht. Seit zwei Jahren verbreitete sich die GelbePest nun schon durch Europa und dezimierte die Bevölkerung. Zehntausende warenihr zum Opfer gefallen. Sie verschonte weder den niederen Bauern noch den selbstbewußten Bischof, noch die erhabenen Könige. Erst vorachtzehn Monaten, als die Pest Éirann erreichte,waren die gemeinsam regierenden Großkönige von Irland, Blathmacund Diarmuid, beide innerhalb weniger Tage in Taradaran gestorben. Vor wenigen Monaten war Fáelán, derKönig von Laigin, ihr erlegen. Und die Pest wüteteunvermindert weiter. Im ganzen Land gab es zahllose Waisenkinder, deren Elterndie Pest hinweggerafft hatte und die nun hilflos verhungerten. EinigeGlaubensmänner, wie der Abt Ultan von Ardbraccan, hatten Waisenhäuser eingerichtet und die Pestbekämpft, während andere sich verhielten wie Colmán,der Rektor der Hochschule des heiligen Finnbarr inCork, der einfach seine fünfzig Schüler genommen hatte und mit ihnen auf eineeinsame Insel geflohen war, um der Pest zu entgehen. Fidelmawußte sehr gut, was für eine Geißel die Gelbe Pestwar.
»Hastdu mich deshalb kommen lassen?« fragte sie. »Weilunser Vetter stirbt?«
Colgú schüttelte rasch den Kopf.
»KönigCathal hat mir befohlen, dich holen zu lassen, nochbevor ihn das Fieber der Pest ergriff. Jetzt kann er dir keine Anweisungen mehrgeben, das fällt nun mir zu.«
Erberührte ihren Ellbogen. »Aber erst mußt du dich vonder Reise ausruhen. Danach ist immer noch Zeit dafür. Komm, ich habe dir deinaltes Zimmer herrichten lassen.«
Fidelma versuchte einen Seufzer der Ungeduld zu unterdrücken.
»Dukennst mich gut genug, Bruder. Du weißt, daß ichnicht ruhen kann, solange es ein Geheimnis zu enträtseln gibt. Du stachelstmeine Phantasie nur noch an. Komm, erklär mir, worum es sich handelt, dann kannich mich ausruhen.«
Colgú setzte zum Sprechen an, als man zornig erhobene Stimmen vernahm. Manhörte ein Handgemenge, und Colgú war aufgesprungen,um zu sehen, was da vor sich ging, als die Tür aufflog und Forbassachvon Fearna ihm entgegentrat. Er war rot im Gesichtund atmete schwer vor Anstrengung.
Hinterihm stand der junge Krieger Cass und hatte seinhübsches Gesicht ärgerlich verzogen.
»Verzeihung,Mylord. Ich konnte ihn nicht aufhalten.«
Colgú betrachtete den Gesandten des Königs von Laiginmit Mißfallen.
»Washat dieses unhöfliche Benehmen zu bedeuten, Forbassach?Hast du dich vergessen?«
Forbassach reckte arrogant und verachtungsvoll das Kinn vor.
»Ichbrauche eine Antwort, die ich Fianamail, dem Königvon Laigin, überbringen kann. Dein König liegt imSterben, Colgú. Deshalb ist es an dir, auf dieVorwürfe von Laigin zu antworten.«
Fidelma machte eine undurchdringliche Miene, um ihren Ärger darüber zuverbergen, daß sie den Sinn dieser Konfrontationnicht verstand.
Colgú errötete vor Zorn.
»Nochlebt Cathal von Muman, Forbassach. Solange er lebt, ist er es, der auf deineVorwürfe antwortet. Du hast soeben die Gastfreundschaft dieses Hofes verletzt.Als Thronfolger verlange ich, daß du diesen Ort verläßt. Wenn der Hof von Casheldir etwas mitzuteilen hat, wird er dich rufen lassen.«
Forbassachs schmale Lippen verzogen sich zu einem herablassenden Lächeln.
»Ichweiß, daß du die Antwort nur hinauszögern willst, Colgú. Sobald ich sah, daß deineSchwester Fidelma von Kildareangekommen ist, war mir klar, daß du versuchen wirst,uns hinzuhalten und Ausflüchte zu machen. Das wird dir nichts nützen. Laigin verlangt immer noch eine Antwort. Laigin verlangt Gerechtigkeit!«
Colgú konnte sichtlich nur mühsam seinen Zorn beherrschen.
»Fidelma, erkläre mir das Gesetz.«Er sprach seine Schwester an, ohne den Blick von Forbassachabzuwenden. »Dieser Abgesandte von Laigin hat, meineich, die Grenzen des geheiligten Gastrechts überschritten. Er ist eingedrungen,wo er es nicht durfte, und er hat uns beleidigt. Darf ich befehlen, daß er mit Gewalt von diesem Hof entfernt wird?«
Fidelma sah den hochmütigen Brehon von Fearna an.
»Entschuldigstdu dich für dein unberechtigtes Eindringen in ein privates Gemach, Forbassach?« fragte sie. »Und tustdu Abbitte für dein beleidigendes Verhalten gegenüber dem Thronfolger von Cashel?«
Forbassach reckte das Kinn noch höher, und seine Miene verdüsterte sich noch mehr.
»Ichdoch nicht.«
»Dannmüßtest du als Brehon dasGesetz kennen. Du mußt diesen Hof sofort verlassen.«
Colgú sah den Krieger namens Cass an und nickte ihmkaum merklich zu.
Derhochgewachsene Mann legte Forbassachdie Hand auf die Schulter.
DerAbgesandte von Laigin wand sich unter seinem Griff,und sein Gesicht rötete sich.
»Fianamail von Laigin wird vondieser Beleidigung erfahren, Colgú. Sie wird deineSchuld noch vergrößern, wenn du von der Ratsversammlung des Großkönigs in Taragerichtet wirst!«
DerKrieger hatte den Abgesandten von Laigin ohnesichtbare Gewaltanwendung herumgedreht und ihn zur Tür hinausgeschoben. Dann schloß er sie hinter ihm mit einer entschuldigenden Gestezu Colgú.
Fidelma wandte sich an ihren Bruder, der nun seine steife Haltung lockerte.
»Ichglaube, es wird Zeit, daß du mir erklärst, was sichhier wirklich abspielt«, sagte sie mit ruhiger Bestimmtheit.
©Verlag Aufbau
Übersetzung:Friedrich Baadke
- Autor: Peter Tremayne
- 2000, 11. Aufl., 385 Seiten, Maße: 11,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Friedrich Baadke
- Verlag: Aufbau TB
- ISBN-10: 3746615267
- ISBN-13: 9783746615264
- Erscheinungsdatum: 01.12.2000
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