Schiffsmeldungen
"Schiffsmeldungen" fürs Lokalblatt soll Quoyle jetzt schreiben....
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"Schiffsmeldungen" fürs Lokalblatt soll Quoyle jetzt schreiben. Quoyle, der ewige Versager und Pechvogel, den es aus dem Staat New York auf die Felseninsel Neufundland im Osten Kanadas verschlagen hat. Quoyle, der immer schon panische Angst vor dem Wasser hatte. Und doch findet er hier in dieser kargen Landschaft, wo seine Vorfahren siedelten, so etwas wie Glück und für sich und seine beiden Töchter so etwas wie ein Zuhause ...
Der Roman, der Annie Proulx berühmt machte!
Schiffsmeldungen von Annie Proulx
LESEPROBE
Quoyle
Quoyle: Taurolle
»EineFlämische Scheibe ist eine spiralige Rolle in einer einzigen Ebene. Sie wird indieser Art auf Deck gemacht, so daß man, wenn nötig,drüber gehen kann.«
DASASHLEY-BUCH DER KNOTEN
Im folgenden ein Bericht über einige Jahre im Leben von Quoyle, geboren in Brooklyn und aufgewachsen in einem Sammelsuriumöder Städte im Norden des Staates New York. Übersät mit Quaddeln, dieEingeweide in Aufruhr vor Gasen und Krämpfen, überlebte er die Kindheit; an derUniversität überspielte er, die Hand vorm Kinn, Qualen mit Lächeln undSchweigen. Stolperte durch seine Zwanziger in die Dreißiger, lernte seineGefühle von seinem Leben zu trennen, rechnete auf nichts. Er aß ungeheuer viel,mochte Eisbein, Butterkartoffeln. Seine Tätigkeiten: Auffüllervon Süßigkeitenautomaten, Nachtverkäufer in einemrund um die Uhr geöffneten Laden, drittklassiger Reporter. Mit sechsunddreißig,verwitwet, voll Kummer und glückloser Liebe, steuerte Quoyledavon nach Neufundland, zu dem Felsen, der seine Vorfahren gezeugt hatte, aneinen Ort, wo er nie gewesen war noch jemals hatte sein wollen.
Ein Ort amWasser. Quoyle hatte Angst vor Wasser, konnte nichtschwimmen. Immer wieder hatte sein Vater seinen Klammergriff gelöst und ihn inBecken, Bäche, Seen und Gischt geworfen. Quoylekannte den Geschmack von Brackwasser und Wasserpest.
In derUnfähigkeit seines jüngsten Sohnes, schwimmen zu lernen, sah der Vateranderweitige Unfähigkeiten sich ausbreiten wie eine Explosion ansteckenderZellen - Unfähigkeit, deutlich zu sprechen, Unfähigkeit, gerade zu sitzen,Unfähigkeit, morgens aufzustehen, Unfähigkeit, sich durchzusetzen, Unfähigkeit,Ehrgeiz und Talent zu entwickeln, ja zu allem. Seine eigene Unfähigkeit.
Quoyleschlurfte, war einen Kopf größer als die Kinder um ihn herum, war weich. Er wußte es. »Ach, du Trampel«, sagte der Vater. Aber selberkein Pygmäe. Und Bruder Dick, Vaters Liebling, tat, als würde er sicherbrechen, wenn Quoyle ins Zimmer kam, zischte:»Speckarsch, Rotzgesicht, Ekelschwein, Warzensau, Blödian,Stinkbombe, Furztrog, Fettsack «, boxte und trat ihn, bis Quoylesich, Hände über dem Kopf, schniefend, auf dem Linoleum krümmte. Alles kam von Quoyles schlimmster Unfähigkeit, der Unfähigkeit, normal auszusehen.
Ein großerfeuchter Laib von Leib. Mit sechs wog er siebzig Pfund. Mit sechzehn war erunter einem Gehäuse aus Fleisch begraben. Der Kopf wie eine Melone, kein Hals,rötliche, nach hinten gewellte Haare. Gesichtszüge so verkniffen wie sichberührende Fingerspitzen einer Hand. Augen wie Plexiglas. Das monströse Kinn,ein grotesker Vorsprung, der aus der unteren Gesichtshälfte ragte.
ImAugenblick seiner Zeugung hatte irgendein anomales Gen gezündet, wie manchmalein einzelner Funke aus mit Asche belegten Kohlen sprüht, hatte ihm das Kinn einesRiesen mitgegeben. Als Kind erfand er Strategien, um starrende Blickeabzulenken; ein Lächeln, gesenkter Blick, die rechte Hand schoßnach oben, um das Kinn zuzudecken.
Seinfrühester Eindruck von sich selbst war eine ferne Gestalt: Dort im Vordergrundstand seine Familie; hier an der äußersten Sichtgrenze stand er. Bis vierzehnhegte er die Vorstellung, daß er in der falschenFamilie gelandet war, daß sich irgendwo seine echtenVerwandten, mit dem Wechselbalg der Quoylesgeschlagen, nach ihm sehnten. Dann, als er in einer Schachtel mitSchnappschüssen von einem Ausflug wühlte, fand er Fotos von seinem Vater nebenseinen Geschwistern an einer Reling. Ein Mädchen, etwas abseits von denanderen, schaute aufs Meer hinaus, die Augen zusammengekniffen, als könnte sietausend Meilen im Süden den Bestimmungshafen sehen. Quoyleerkannte sich in Haaren, Armen und Beinen aller wieder. Dieser verschlagenaussehende Klotz im eingelaufenen Pullover, die Hand am Schritt - sein Vater.Mit blauem Stift auf die Rückseite gekritzelt: »Abschied von Zuhause, 1946«.
Auf derUniversität besuchte er Seminare, die er nicht begriff, schleppte sich hin undwieder fort, ohne mit jemandem zu reden, fuhr am Wochenende zu Spott und Kritiknach Hause. Schließlich ging er von der Universität ab und suchte sich Arbeit,behielt die Hand über dem Kinn.
Nichts wardem einsamen Quoyle klar. Seine Gedanken stampftenwie das unförmige Ding, das die alten Seeleute, wenn sie ins Halblicht derArktis trieben, Seelunge nannten; wogendes Treibeis unter Nebel, wo Luft undWasser verschwammen, wo Flüssiges fest war, wo Festes sich auflöste, wo derHimmel gefror und Licht und Dunkel ineinanderquollen.Ins Zeitungsgewerbe verschlug es ihn, als er gemütlich bei einem fettigenWürstchen und einem Stück Brot saß. Das Brot war gut, ohne Hefe hergestellt,nur aus Sauerteig gegangen und in Partridges imFreien stehenden Ofen gebacken. Partridges Hof rochnach verbranntem Maismehl, gemähtem Gras, Brotdampf.
DasWürstchen, das Brot, der Wein, Partridges Gequassel. Deswegenverpaßte er die Gelegenheit, eine Stelle zu bekommen,die seinen Mund vielleicht an die stramme Brust der Bürokratie gelegt hätte.Sein Vater, der sich aus eigener Kraft zum Gipfel des Einkaufsleiters einerSupermarktkette hochgestrampelt hatte, hielt ihm einemit seiner eigenen Geschichte bebilderte Predigt: »Als ich hier ankam, hab ichSchubkarren voll Sand für den Maurer rumfahren müssen.« Und so weiter. Der Vater bewunderte die Geheimnisse derGeschäftswelt - Männer, die Papiere unterschrieben, welche sie mit ihrem linkenArm abschirmten, Konferenzen hinter undurchsichtigem Glas, verschlosseneAktenkoffer.
Aber Partridge, Öl sabbernd, meinte: »Ach, scheiß drauf.« Schnitt dunkelrote Tomaten auf. Wechselte das Thema zu Schilderungenvon Orten, an denen er gewesen war: Strabane, South Amboy, Clark Fork. In Clark Fork hatte er mit einem Mann mit verkrümmterNasenscheidewand Pool gespielt. Der trug Känguruhlederhandschuhe.Quoyle auf dem Gartenstuhl hörte zu, deckte sein Kinnmit der Hand zu. Auf seinem Anzug für das Vorstellungsgespräch war Olivenöl,auf seiner karierten Krawatte ein Tomatenkern.
Quoyleund Partridge lernten sich in einem Waschsalon in Mockingburg, New York, kennen. Quoylewar über seine Zeitung gebeugt und umkringelte Stellenanzeigen unter »Aushilfe gesucht«,während sich seine Hemden in Übergröße drehten. Partridgebemerkte, der Stellenmarkt sei dicht. Ja, meinte Quoyle,das sei er. Partridge gab eine Meinung über die Dürrevon sich, Quoyle nickte. Partridgebrachte das Gespräch auf die Schließung der Sauerkrautfabrik. Quoyle zerrte seine Hemden aus dem Trockner; mit einemRegen aus heißen Münzen und Kugelschreibern fielen sie zu Boden. Die Hemdenwaren voller Tintenflecken.
»Im Eimer«,sagte Quoyle.
»Nöö«, meinte Partridge. »ReibenSie die Tinte mit heißer Salzlösung und Talkumpuder ein. Dann waschen Sie dieHemden noch mal, schütten einen Becher Bleichmittel dazu.«Quoyle sagte, er wolle es versuchen. Seine Stimmezitterte. Partridge war erstaunt, die farblosen Augendes schwergewichtigen Mannes groß vor Tränen zu sehen. Denn Quoylewar unfähig zum Einsamsein, sehnte sich nach Geselligkeit, nach der Erfahrung, daß seine Gesellschaft für andere ein Vergnügen war.
DieTrockner ächzten.
»Hey,kommen Sie doch abends mal vorbei«, sagte Partridge undschrieb seine Adresse und Telefonnummer schräg auf die Rückseite einesverknitterten Kassenzettels. Auch er hatte nicht viele Freunde.
Am nächstenAbend war Quoyle da, Papiertüten unter dem Arm. DieFassade von Partridges Haus, die leere Straße lagenin bernsteinfarbenes Licht getaucht. Eine goldene Stunde. In den Tüten einePackung importierter schwedischer Cracker, Rot-, Rosé- und Weißwein, in Folieverpackte Dreiecke ausländischer Käsesorten. Auf der anderen Seite von Partridges Tür irgendeine heiße, hüpfende Musik, die Quoyle erregte.
Sie wareneine Zeitlang Freunde - Quoyle, Partridgeund Mercalia. Die Unterschiede: Partridge,schwarz, klein, ein ruheloser Wanderer über dem Abhang des Lebens, redete dieganze Nacht; Mercalia, Partridgeszweite Frau und von der Farbe einer braunen Feder auf dunklem Wasser, scharferVerstand; Quoyle, beleibt, weiß, stolperte herum,ziellos.
Partridgeblickte über die Gegenwart hinaus, hatte flüchtige Eingebungen über zukünftigeEreignisse, als würden lose Gehirndrähte kurzgeschlossen. Er war mit einerGlückshaube auf die Welt gekommen; sah mit drei einen Kugelblitz eine Feuerleiterhinunterhüpfen; träumte in der Nacht, bevor sein Bruder von Hornissen gestochenwurde, von Gurken. Er war sich seines Glücks gewiß.Er konnte perfekte Rauchringe bla- sen. DieSeidenschwänze machten auf ihren Zügen immer in seinem Hof Rast.
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© btb Verlag
Übersetzung;Michael Hofmann
- Autor: Annie Proulx
- 2007, 3. Aufl., 416 Seiten, Maße: 11,6 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Michael Hofmann
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442736110
- ISBN-13: 9783442736119
- Erscheinungsdatum: 08.03.2007
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