Oleanderregen
Roman
Eine faszinierende Geschichte, inspiriert von einem wahren Schicksal
Als Valentina nach dem Tod ihres Vaters erfährt, dass ihre Cousine Irma in Wirklichkeit ihre Halbschwester ist, reist sie nach Sizilien. Doch bei ihrer Ankunft muss Valentina...
Als Valentina nach dem Tod ihres Vaters erfährt, dass ihre Cousine Irma in Wirklichkeit ihre Halbschwester ist, reist sie nach Sizilien. Doch bei ihrer Ankunft muss Valentina...
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Produktinformationen zu „Oleanderregen “
Eine faszinierende Geschichte, inspiriert von einem wahren Schicksal
Als Valentina nach dem Tod ihres Vaters erfährt, dass ihre Cousine Irma in Wirklichkeit ihre Halbschwester ist, reist sie nach Sizilien. Doch bei ihrer Ankunft muss Valentina erfahren, dass Irma nach einer scheinbar harmlosen Operation im Koma liegt. So lernt sie ihre Verwandte Angelina kennen, die ihr eine bewegende Geschichte erzählt. Von einem Jungen, der ohne Beine geboren wurde und dank der Fürsorge seiner Mutter trotz allen Unglücks die Liebe fand. Diese Geschichte ist der Schlüssel zum Geheimnis der Familie ihres Vaters, und Valentina erkennt, dass sich jetzt auch ihr Leben ändern wird.
Als Valentina nach dem Tod ihres Vaters erfährt, dass ihre Cousine Irma in Wirklichkeit ihre Halbschwester ist, reist sie nach Sizilien. Doch bei ihrer Ankunft muss Valentina erfahren, dass Irma nach einer scheinbar harmlosen Operation im Koma liegt. So lernt sie ihre Verwandte Angelina kennen, die ihr eine bewegende Geschichte erzählt. Von einem Jungen, der ohne Beine geboren wurde und dank der Fürsorge seiner Mutter trotz allen Unglücks die Liebe fand. Diese Geschichte ist der Schlüssel zum Geheimnis der Familie ihres Vaters, und Valentina erkennt, dass sich jetzt auch ihr Leben ändern wird.
Klappentext zu „Oleanderregen “
Eine faszinierende Geschichte, inspiriert von einem wahren SchicksalAls Valentina nach dem Tod ihres Vaters erfährt, dass ihre Cousine Irma in Wirklichkeit ihre Halbschwester ist, reist sie nach Sizilien. Doch bei ihrer Ankunft muss Valentina erfahren, dass Irma nach einer scheinbar harmlosen Operation im Koma liegt. So lernt sie ihre Verwandte Angelina kennen, die ihr eine bewegende Geschichte erzählt. Von einem Jungen, der ohne Beine geboren wurde und dank der Fürsorge seiner Mutter trotz allen Unglücks die Liebe fand. Diese Geschichte ist der Schlüssel zum Geheimnis der Familie ihres Vaters, und Valentina erkennt, dass sich jetzt auch ihr Leben ändern wird ...
Lese-Probe zu „Oleanderregen “
Oleanderregen von Stefanie GerstenbergerEr ist klein, er ist lustig, und wenn ich dich auch nur berühre, bevor wir verheiratet sind, bringt er mich um. Oder? So war das doch?«
Nein, dachte Valentina, da hast du etwas falsch verstanden: Ein sizilianischer Vater ist höchstens für andere lustig, für die eigene Tochter nie. Stumm schaute sie aus dem Seitenfenster, während Eric auflachte und sich langsam warmredete: »Meint er das wirklich ernst? Hallo?! Wo leben wir denn? Denkt er denn tatsächlich, du bist mit deinen einunddreißig Jahren noch Jungfrau? «
Ja, davon geht er aus, sogar mehr als das, antwortete sie ihm, immer noch schweigend.
Für sein Grinsen, das sie vor anderthalb Jahren so unwiderstehlich gefunden hatte, hätte sie Eric jetzt am liebsten einen Stoß in die Rippen versetzt. Sie hatte sich damals in dieses Grinsen verliebt, und vielleicht würde sie ihn eines Tages genau deswegen verlassen. Unsinn. Sie war nicht diejenige, die ging. Sie war diejenige, die verlassen wurde.
Aber war sie überhaupt noch in ihn verliebt? Dieser ganze Aufwand heute zu Hause mit Papa - und nun wusste sie plötzlich nicht einmal mehr, ob sie noch in Eric verliebt war.
Wie verliebte man sich eigentlich? Stolperte man einfach in die Liebe, oder ließ man sich bewusst hineinfallen, so wie man einen kleinen Amarettokeks in einen Cappuccino fallen ließ? Paddelte zunächst noch etwas auf der schaumigen Oberfläche herum und beschloss dann - glücklich und diesmal ganz bestimmt für immer - sich versinken zu lassen? ›Für immer‹ hat bei dir noch nie geklappt, du Amarettokeks, stichelte eine Stimme in ihr. Meine Güte, ich bin doch glücklich. Zumindest bemühe ich mich seit achtzehn Monaten, es zu sein.
... mehr
»Und wo sind wir eigentlich?« Eric las das Schild, an dem sie in diesem Moment vorbeirasten. »Ortsteil Schwarzmoor. Anheimelnder Name ... Wenn wir stecken bleiben, schiebst du uns wieder raus!« Er gab Gas, der Wagen jagte noch schneller dicht an kilometerlangen Weidezäunen und noch immer winterkahlen Hecken vorbei. Wenn er sauer auf sie war, fuhr er zu schnell. Sie sollte Angst haben, zur Strafe.
»Fahr langsamer, da vorne in die kleine Straße rein und dann sofort links in das Tor!«, sagte Valentina ruhig, sie würde sich vor dem Großstadtkind auf keinen Fall für Moorlandschaft und Kuhweiden rechtfertigen. Eric bremste ab.
»Er ist eben immer noch ein Italiener, auch wenn er schon seit fünfunddreißig Jahren in Deutschland lebt. Noch dazu ein Süditaliener!« Wie oft hatte sie die altmodische Art ihres Vaters verwünscht, aber wenn andere ihn kritisierten, verteidigte sie selbst seine peinlichsten Marotten. Eric fuhr in die Toreinfahrt und brachte den Wagen vor einem hohen Grabstein aus Marmor zum Stehen.
»So!« Er schlug mit beiden Händen flach auf das Lenkrad, seine Stimmung war von genervt auf freundlich umgeschlagen, das ging bei ihm innerhalb einer Sekunde. Valentina lächelte ihn an, küsste ihn schnell auf die Wange und stieg aus. Der kalte Wind wirbelte ein wenig weißen Marmorstaub auf und zerrte an ihrer Daunenjacke, es war schon Mitte April, doch die Sonne hatte sich in diesem Frühjahr noch nicht oft gezeigt. Letzte Woche hatte es sogar noch geschneit. Valentinas Beine zitterten nicht nur vor Kälte, sie hüpfte ein paarmal auf und ab und atmete tief durch. Das Kreischen der Marmorsäge, das Geräusch ihrer Kindheit, ihres Alltags, musste in Erics Ohren noch schriller klingen als in ihren eigenen. Aber er schien sich daran nicht zu stören.
»Kleine Jungfrau, nun sei mal nicht so nervös!«, rief er über den Lärm hinweg. Sie musste lachen, sein Vorrat an kleinen Namen für sie war unerschöpflich: von »kleiner Kakerlak« über »Klein-Laut«, »kleine Hübsche« bis »kleine Hässlichkeit«. Sie liebte es, wenn er sie mit einer neuen Wortschöpfung überraschte.
»Meine Meinung zum Heiraten kennst du ja. Wie willst du mich überhaupt vorstellen?«, fragte er jetzt.
»Als meinen Geliebten, wie denn sonst?« Sie lachte wieder, aber diesmal klang es irgendwie falsch. Geliebten! Die vielen Romanseiten, die sie in den vergangenen Tagen übersetzt hatte, färbten auf ihre Sprache ab. Obwohl Eric nach seiner missglückten ersten Ehe auf keinen Fall noch ein weiteres Mal heiraten wollte, würde sie ihn nicht als Geliebten, sondern als fidanzato vorstellen und hoffen, dass er die Bedeutung des Wortes nicht kannte. Peinlich. Aber für ihren Vater musste der Mann, den sie mit nach Hause brachte, schon ihr Verlobter sein.
Endlich werde ich mein Leben mit jemandem teilen können, dachte sie. Ich werde neben ihm einschlafen, neben ihm aufwachen, werde nicht mehr Papas Hemden im Wohnzimmer, sondern nur noch die von Eric im Wirtschaftsraum bügeln, obwohl Eric seine Hemden lieber in die Reinigung bringt. Wirtschaftsraum. So hatte die Maklerin die große Abstellkammer neben der Küche bezeichnet. Eric würde seine Einstellung zur Ehe schon noch ändern, und dann würde sie eine verheiratete Frau mit einem Wirtschaftsraum sein. Wow. Ein seltsames Gefühl, ganz anders als das, was sie sich früher unter den Wörtern Liebe und gemeinsame Zukunft vorgestellt hatte.
Prompt presste ihr der alte Schmerz die Lungenflügel ein wenig zusammen, bereit, kraftvoll loszubrechen, wenn sie ihn nur ließe. Der Schmerz würde immer da sein, das hatte sie mittlerweile akzeptiert. Niemals würde es wieder so wie damals, niemals mehr würde jemand wieder alles von ihr erfahren. Das war vorbei. Sie griff nach Erics Hand, obwohl er das nicht mochte.
»Den ganzen Tag drängen meine Patienten mir ihre Extremitäten auf, ich habe dauernd Körperteile in der Hand, ich bin kein Typ zum Händchenhalten«, hatte er ihr erklärt. Sie wusste, was er in seiner Praxis tat, er hatte sich beim Begutachten ihrer verspannten Muskeln und Sehnen unter ihrem rechten Schulterblatt in sie verliebt und deswegen länger als nötig mit seinen Händen an ihr herumgezogen, -getastet, -gedreht. Wenn er seine Hand jetzt gleich wieder wegnahm, wäre das ein Zeichen, und sie würde die ganze Sache abblasen. Erstaunlicherweise ließ er sie ihr.
Mit hochgezogenen Augenbrauen nahm Eric den umzäunten Hof der Firma, das geduckte Einfamilienhaus, die Halle, die verstreuten Grabsteine und unbehauenen Steinquader in sich auf. Sie folgte seinem Blick. Die Marmorplatten am Tor lehnten fachgerecht gesichert, aber unordentlich in den Halterungen. Ihre moosigen Oberflächen waren seit Jahren der Witterung ausgesetzt, eigentlich solange sie denken konnte. Als Kind hatte sie mit den Nachbarskindern dazwischen gespielt. Obwohl es verboten war. Sie seufzte unhörbar. Wie oft hatte sie ihrem Vater gesagt, er solle das verrottete Zeug vom Eingang wenigstens nach hinten bringen lassen.
Die Säge verstummte. Sie fror immer noch, mit der linken Hand zog sie die Jacke am Hals zusammen. »Kind, du musst mehr essen, damit du wächst und ordentlich Fleisch auf die Rippen bekommst!« Früher hatte ihre Oma sie mit Lebertran gequält, genützt hatte es nichts, sie war mit 1,63 Meter ziemlich klein und auch heute noch dünn.
»Kannst du damit fahren?« Eric ging ein paar Schritte auf den Gabelstapler zu, den Kalle wie immer mitten auf dem Hof stehen gelassen hatte. Sie kannte Kalle schon ihr Leben lang, seine Haare saßen auf seinem Kopf wie bei einem Playmobilmännchen, und als Kind hatte sie gedacht, er behalte seine Arbeitsstiefel, die Latzhose und die Ohrenschützer auch nachts im Bett an. Gerade startete er in der Halle wieder die Säge.
»Klar. Dem Stapler habe ich die Narbe zu verdanken. Vielmehr seinem Vorgängermodell.«
»Ach ja, natürlich! Die Bimalleolarfraktur. Sorry.«
Valentina lachte, sie mochte es, wie seine Augen zu glitzern anfingen, sobald er von Bändern, Sehnen, Knochen und seinem Spezialgebiet, dem meniscus lateralis, redete. Als sie sich kennenlernten, hatte Eric die zwölf Zentimeter lange, dunkelrote Narbe über ihrem Sprunggelenk entdeckt und mit leidenschaftlichem Interesse abgetastet. Am liebsten hätte er den Knöchel gleich geröntgt, um den Knochenstand festzustellen.
»Ich zeig dir später alles.« Sie drückte Erics Hand und zog ihn zu dem gelb verklinkerten Haus, in dessen Souterrain die Geschäftsräume untergebracht waren. Sie musste es endlich wagen, sie war über dreißig, sie wollte verheiratet sein, glücklich sein, ein Kind haben. Und auch den Wirtschaftsraum. Einen besseren Mann als Eric, der mit seinem Doktortitel möglicherweise auch vor ihrem Vater Enzo Gnade fand, gab es doch gar nicht.
»Marmorkontor« stand an der Tür, das große M aus Messing war sogar poliert.
Trotzdem sah heute alles trostlos und irgendwie kümmerlich aus. Sie gingen drei Stufen hinab, Eric Gentleman öffnete die Tür, und schon standen sie in dem langgezogenen Raum. Vor ihnen ein Tresen, hinten zwei abgetrennte Büros, ein Schreibtisch, Regale, Aktenordner, dazwischen eine Treppe aus grünem Marmor, die nach oben in die Wohnung führte. Die Decke des Souterrains war niedrig und so grau wie der Marmor an den Wänden. Das dunkel angelaufene Computergehäuse auf dem Tisch und das ewige Omega in zwanzig unterschiedlichen Buchstaben- typen und Farben möglicher Grabsteinbeschriftungen deprimierten Valentina. Schon wurde sie wieder unsicher. Eine dumme Idee, Eric unbedingt hierherschleppen zu wollen. Warum hatte sie ihren Vater nicht in ein Restaurant eingeladen und ihm ihre Verlobung, von der Eric peinlicherweise nichts wusste, bei einem Glas Sekt verkündet?
»Ciao, Papa! Wir haben Kuchen mitgebracht!«
»Buongiorno, buongiorno! Angenehm, Vitale!« Eilig kam ihr Vater herbeigelaufen und schüttelte Eric ein wenig zu lange die Hand.
»Das ist Eric. Mein ...« Nun sag es doch einfach, du hast es extra geübt, drängelte es in ihr, aber das fehlende Wort fühlte sich so falsch an wie der ganze Nachmittag.
»... mein Vater«, sagte sie stattdessen zu Eric. In diesem Moment bemerkte sie Herrn Mader, der mit düsterem Blick aus dem hinteren Büro gekommen war. Doch er korrigierte seinen Gesichtsausdruck sofort.
»Mader. Ich bin so eine Art besserer Buchhalter«, erklärte er Eric mit einem bescheidenen Lächeln.
»Doktor Jasper.« Selbst wenn Eric sich ein Taxi bestellte, vergaß er nie, seinen Titel zu nennen. So viel Zeit muss sein, sagte er immer. Einen Augenblick herrschte Stille, sogar die Säge drüben in der Halle schwieg respektvoll.
»Na, dann wollen wir mal!«, rief ihr Vater laut, aber seine Augen schwirrten wie aufgescheuchte Vögel durch den Raum, und seine Hände schoben die ordentlich abgelegten Rechnungen von rechts nach links über den Tresen und wieder zurück. Valentinas Herz zog sich zusammen. Was war denn in den letzten Wochen los mit dem leicht cholerischen, charmanten, witzigen Mann, den er sonst immer vor den Kunden gab? Sehr viel bekam sie ja nicht mehr von ihm mit. Sie tranken morgens ihren ersten Espresso zusammen, bevor sie das Haus für den Rest des Tages verließ. Frau Bröcker von nebenan putzte bei ihnen und kochte mittags. Seitdem der alte Herr Bröcker vor zwei Jahren gestorben war, war sie dankbar, sich mit Arbeit ablenken zu können. Leider weigerte sie sich zu bügeln. Abends kam Valentina mit Lebensmitteln bepackt nach Hause, bereitete Abendbrot für sie beide und fuhr dann oft noch mal in die Stadt zurück. Dort lernte sie angeblich Französisch in der Volkshochschule, belegte Kurse wie »EDV-Finanzbuchführung«, »Progressive Muskelentspannung « und »Bridge, die Königin der Kartenspiele «. Ausgerechnet Bridge! In Wahrheit traf sie natürlich Eric.
Ach, Papa, dachte Valentina, du wirkst jetzt manchmal so hilflos und irgendwie richtig alt.
Herr Mader, in seinem anthrazitgrauen Anzug lang und dünn wie ein Bleistift, stand nickend neben ihrem Vater und machte ihr verstohlen Zeichen:
Wir müssen reden!
Später!, signalisierte sie ihm.
Aber bald - es geht um deinen Vater!
Ich weiß!
Jeder Blick eindringlicher als der vorherige.
»Also, dottore, das da, das sind die Steinbrüche, da kommt der Marmor her!« Valentina freute sich, ihr Vater hatte sich offensichtlich wieder gefangen. Er kam hinter dem Tresen hervor und zeigte Eric die gerahmten Fotos an den Wänden.
»Carrara, beste Marmor überhaupt. Von Carrara habe ich hier raufgebracht, vor über dreißig Jahre, alle sechs Woche war ich mit die Spedition da - habe die ganze Norden von Deutschland mit Marmor glücklich gemacht! Habe ich Carrara schon faste leer gemacht!« Er lachte. Eric ging näher an die Bilder heran: blauer Himmel, aufragende Steinwände, ein Bagger und ein junger Enzo in kurzen Hosen davor.
»Heute kommt meiste von die Marmor aus China oder, wenn du was Teures haben willst, aus Brasilia.« Er lachte wieder. »Will aber nur manche Mal einer was Teures hier, die Leute wollen Grabstein oder Platte für Küche oder Stufe für die Treppe.« Ihr Vater klopfte Eric auf die Schulter, wie er das nur bei seinen besten Kunden tat. »Bekommen Sie alles bei mir, dottore. Auch eine ganze Badezimmer, sehr elegante!«
Eric verschränkte die Arme vor der Brust und lachte mit, während Valentinas Vater alles anpries, was in den Geschäftsräumen des Marmorkontors zu finden war: Aktenordner, die Handmuster der einzelnen Marmorsorten, schwarzer Marquina, grüner Verde di Mare und der feine Estremoz in zartem Rosa, das summende Kopiergerät und die Kanister voller Reinigungspolitur in der Ecke.
»Ecco! Die Bücher von meine Valentina stehen alle in die Regal!«
»Ach, Papa!« Sie winkte lächelnd ab. Na also, klappte doch wunderbar.
»Und hier! Meine Kleine, da iste sie ..., äh ..., vier oder fünf.« Stolz wies er auf ein großes Schwarz-Weiß-Foto neben den Grabsteininschriften, das Valentina schüchtern lächelnd, mit weißem Riesenkragen, glattem Bubikopf und sehr kurzem Pony zeigte.
»He, da sieht sie aus wie heute, nur der Pony ist seit damals gewachsen!«, sagte Eric.
»Hatte ich selbst geschnitten. Mama ist ausgeflippt. Und hat ihn begradigt. Dann bin ich ausgeflippt.«
»Und dieser Kragen ... Du bist die kleine Mireille Mathieu!«
»Na, danke. Lebt die überhaupt noch?« Valentina wollte sich ganz dicht neben Eric stellen, vielleicht sogar wieder seine Hand nehmen, damit ihr Vater auch sah, warum sie hier waren, da winkte der bescheidene Buchhalter sie in sein Büro.
»Bin gleich wieder da«, sagte sie zu Eric, »Herr Mader denkt immer, ich könnte ihm mit seinem Computer helfen ...«
»Tut mir leid, dass ich das ausgerechnet heute erwähnen muss, aber es wird jeden Tag schlimmer mit ihm«, flüsterte der hagere Mann, als Valentina den kleinen Raum betrat. Valentina nickte hastig und schaute durch die Türöffnung nach Eric. Sie musste unbedingt vermeiden, dass er in Gegenwart ihres Vaters schon eine Anspielung auf die gemeinsame Wohnung machte.
»Ich habe nur äußerst knapp verhindern können, dass dein Vater das gesamte verfügbare Kapital in einem Pioneer Fonds anlegt! Gestern habe ich den Termin bei der Bank, den ihm dieser Niemeyer aufgeschwatzt hat, abgesagt. Enzo, habe ich gesagt, wer investiert denn heute noch in irgendwelche obskuren Fonds? Wir brauchen das Geld hier und sofort. Zum Glück hat er es eingesehen.«
Herr Mader krallte sich mit seinen langen Fingern in die Lehne seines Bürostuhls. Wenn er ein Tier wäre, dann eine Krähe oder ein Rabe, jedenfalls irgend so ein dunkler Vogel, dachte Valentina.
»Ich wollte dich damit bisher nicht belästigen, aber so langsam denke ich, dass du wissen solltest, was hier passiert. Heute Morgen zieht er zum Beispiel kurz vor der Frühstückspause seine Jacke an und will gehen. Enzo, wohin?, frage ich ihn. Na zu Bank, Termin mit diese Niemeyer, antwortet er, als ob wir nie darüber geredet hätten!«
Valentina seufzte. Sie kannte sich nicht aus in der Firma ihres Vaters, und sie wollte sich auch gar nicht auskennen. Behauptete er nicht immer, trotz des etwas schäbigen Eindrucks, den die Firma von außen machte, es ginge ihr glänzend? ›Im Kreis von hundert Kilometern hab ich das Monopol, wer gute Marmor will, muss kommen zu mir!‹
»Aber es ist ja noch mal gut gegangen!«, sagte sie leise.
»In letzter Zeit nicht immer, zweimal hat er Kalle das falsche Aufmaß angegeben. Das ist ihm vorher nie passiert. Ein Schaden von gut vierzigtausend Euro! Und wir brauchen jeden Cent, um für den Auftrag in Bremerhaven liquide zu sein. Wenn das überhaupt klappt ... Bei den Chinesen müssen wir immer direkt bezahlen.«
»Ich habe ihm doch neulich vorgeschlagen, sich vom Neurologen untersuchen zu lassen, aber er weigert sich ja!«, sagte Valentina, hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Herr Mader tat es ihr nach. Ein paar Sekunden starrten sie sich wortlos in die Augen.
»Ich weiß, deswegen musst du unbedingt mit Irma reden! « Herr Mader war ein großer Fan von Irma, ihrer zehn Jahre älteren Cousine. Mit selbst gemachten gnocchi al pesto und sentimentalen sizilianischen Liedern hatte sie ihn während ihrer Zeit in Deutschland hörig gemacht. Sie hatte für alles eine Lösung, doch was sollte sie in diesem Moment drüben auf Sizilien schon tun können, wenn Papa hier seine Firma zugrunde richtete?
»Und warum!?«
»Irma konnte immer so gut mit ihm umgehen, auf sie hört er, sie weiß, was er braucht.«
Valentina schnaubte, in ihrem Hals brannte es. Das war ja nichts Neues. Na klar, Irma, dachte sie, schon immer wusstest du, was für jeden das Beste ist. In dem Winter, als ich zwölf wurde und plötzlich mutterlos war, hast du mit einem Blick erkannt, was ich brauchte: Hände, die meine Haare abends liebevoll bürsteten, die meine Sachen morgens über die Heizung hängten, die die Narbe mit Öl massierten, bis sie weich und glatt wurde, ich brauchte eine orange Kuscheldecke, um den tief sitzenden Kummer hineinzuweinen und keine Fragen über meine Mutter. Ein Jahr später hast du mir erklärt, was passiert, wenn ein Mädchen eine Frau wird und wie man mit Vätern aus Sizilien umgeht. Du hast mich zu einer Meisterin im heimlichen Ausgehen, heimlichen Telefonieren, im Aussparen von Informationen und Erfinden von Terminen erzogen. Papa war Wachs in deinen Händen. Manchmal wollte er losbrüllen, doch dann hat er dich nur angeguckt, als ob er etwas Kostbares, Einmaliges sähe, und hat gelacht. Und du warst ja auch einmalig: Du warst die perfekte Ersatzmutter, die perfekte Lügenlehrerin, eine Lügenmutter, nur zehn Jahre älter als ich, mit der ich lachen konnte. Doch irgendwann war es dir plötzlich egal, was ich brauchte, und du hast mich alleingelassen. So wie alle zuvor mich alleingelassen haben. Zuerst Oma und Opa. Dann Mama. Dann der, an den ich nie mehr denken will. Am Ende du.
»Okay, ich rufe Irma heute Abend noch an«, versprach sie Herrn Mader, »aber jetzt hole ich den Kuchen aus dem Auto, und dann gehe ich nach oben und mache Kaffee. Sie kommen doch auch?« Am liebsten hätte sie ihm über den Arm gestreichelt, aber das ging nicht, einen Butler streichelte man ja auch nicht aus Dankbarkeit für seine Fürsorge.
Wieder auf dem Hof, scharrte Eric mit den Füßen, als ob er sich Hundedreck von seinen Sohlen kratzen wollte.
»Dein Vater erinnert mich an den einen aus dieser Mafia- Serie, du weißt schon, dieser Kleine, Durchgedrehte.« Begeistert von seinem Vergleich, lachte er vor sich hin.
Valentina schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, Takt war nicht gerade seine Stärke. Aber er konnte ja nicht wissen, dass ihr Vater in letzter Zeit viele Dinge verwechselte, heute nicht mehr wusste, was er gestern gesagt hatte, und alles abstritt, wenn man ihn darauf ansprach.
Sie versuchte Ärger und Besorgnis von sich abzuschütteln wie den allgegenwärtigen Marmorstaub. Es lief doch, sie würde ihre Neuigkeit schon noch loswerden. Der Eröffnungsteil - erstes Zusammentreffen mit Papa - war überstanden. Nun kam es darauf an, Eric noch einmal richtig vorzustellen und ihren Vater auf den anstehenden Auszug vorzubereiten. Natürlich würde er sich aufregen, er würde erst leise, dann laut fluchen, in seinem Dialekt, wie sonst? Er würde mehrmals aus dem Wohnzimmer stürmen und kurz darauf wieder hereinkommen. Und dann? Wären sie alle Gäste einer absoluten Premiere, denn sie hatte ihrem Vater niemals zuvor einen ihrer Freunde vorgestellt. Außer Max, aber das war ja etwas anderes. Darüber würde sie jetzt keinesfalls nachdenken.
Sie ging zum Auto und hob das Kuchentablett der Bäckerei von der Rückbank, doch schon holte sie die Angst vor dem unkalkulierbaren Ausgang von Kaffee und Apfelkuchen wieder ein.
»Ich weiß nicht, ob heute ein guter Tag ist, um ihn in unsere Pläne einzuweihen ...«, rief sie Eric über die Schulter zu. »Er ist noch seltsamer als in den letzten Wochen.« Eric schaute verstohlen auf seine Armbanduhr, es tat ihm anscheinend leid um seinen freien Nachmittag. Sie hatte es gesehen und knallte die Autotür zu. Ihr Knöchel schmerzte jetzt, das tat er manchmal an kalten Tagen.
»Viel Zeit habe ich auch nicht. Mein Wagen steht noch am Laden, und ich muss auch noch mal an den Computer «, fuhr sie fort, obwohl zumindest das mit dem Computer nicht stimmte. Sie wollte nur allein sein, um über ihren Vater Enzo nachzudenken, und nirgendwo konnte sie besser denken als in ihrem Übersetzungsbüro in der Stadt, ihrem Refugium, ihrem stillen Tempel, den niemand ohne eine ganz besondere Einladung betreten durfte. Was bewegte Papa nur zu einer solchen Tat wie mit den Fondsanteilen? Hatte er einen Plan, oder war er einfach nur unzurechnungsfähig?
»Mir ist das eigentlich egal, ob dein Vater Bescheid weiß, aber wir zwei Hübschen müssen noch über die Finanzierung der Wohnung sprechen.«
Sie fand es normalerweise blöd, wenn jemand ›wir zwei Hübschen‹ sagte, aber bei Eric störte es sie nicht. Zumindest nicht sehr. Sie war erwachsen geworden, sie konnte mit einem Mann zusammenziehen, der komische Wendungen in seinem Sprachgebrauch hatte. Sie konnte sogar einen Mann heiraten, der nur Sachbücher las. Sie wollte ein Kind bekommen von ihm, und er wollte eins von ihr, dafür liebte sie ihn. Obwohl er ihr diese Absicht jeweils nur kurz vor seinem Orgasmus ins Ohr stöhnte. Es störte sie auch nicht, dass er die Wattestäbchen anleckte, bevor er sie sich in die Ohren schob, und dass er nur in den weißen Arztklamotten seiner Praxis wirklich sexy aussah, obwohl er für seine Garderobe so viel Geld ausgab.
Stimmte das alles überhaupt? Oder würde sie ihn eines Tages für alles hassen, was er tat oder nicht tat, für das, was er sagte, wie er es sagte oder was er nicht sagte? Sie schaute ihn an. Seine Haare waren dunkelbraun ohne das kleinste Anzeichen von Grau, die Augen ein wenig heller, er war gut aussehend, ein typischer Arzt, wie auf den Dr. Herzsprung-Romanen, die bei Oma Gertrud immer auf dem Nachttisch gelegen hatten. Wenn sie das als kleines Mädchen gewusst hätte. Einen Dr. Herzsprung würde sie bekommen!
»Deine Idee, Klein-Kariert, du hast gesagt, du fühlst dich abhängig von mir, wenn du dich nicht an der Wohnung beteiligst«, sagte Eric und grinste sein Grinsen. »Und ich finde, du hast recht. Denn ich liebe unabhängige Frauen. Morgen fahre ich nach Wiesbaden zum Kongress, und Ende der Woche haben wir den Termin beim Notar für den Vorvertrag. Denk bitte daran.« Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern umarmte sie so fest, dass ihr Mund an seinem Hals landete und ihre Lippen gegen seine Haut gepresst wurden.
»Hier bist du also aufgewachsen.« Er knabberte mit warmem Atem an ihrem Ohr, »so viel Stein und nur Männer um dich herum, jetzt verstehe ich langsam, wie aus dir so eine knallharte Marmorprinzessin werden konnte.«
Valentina kicherte und stieß einen kleinen Schrei aus, um ein Haar hätte sie den Kuchen fallen lassen. An ihrem Gesicht haftete eine Menge von dem herrlich riechenden Aftershave, das sie ihm geschenkt hatte. Plötzlich war sie ganz sicher: Sie liebte ihn. Natürlich liebte sie ihn. Er war gut für sie! Durch ihn war sie selbstbewusster geworden, hatte endlich wieder einen Plan für die Zukunft. Ihre eigene Zukunft. Unabhängig von Papa.
»Zeigst du mir jetzt dein Zimmer? Du weißt, dass ich immer Lust auf dich habe«, flüsterte Eric, »und dann mache ich etwas ganz Geheimes mit dir. Davon wird mich niemand abhalten, auch nicht dein ...«
In diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen, und ihr Vater schaute vom Fuß der Treppenstufen zu ihnen hoch. Hastig befreite Valentina sich aus Erics Armen.
»Titina, Telefon, äh ..., es ist ..., na, verdammt! Da ist - sie will dich sprechen, äh ...« Einige Namen ratterten ihr durch den Kopf, doch wenn er so herumdruckste, konnte das nur eins bedeuten:
»Doch nicht etwa - Martina?«
»Nooo! Was denkste du!«
Sie zupfte verlegen an ihrem feuchten Ohrläppchen. Papa hatte recht, ihr Geburtstag war vor drei Monaten gewesen, warum also sollte ihre Mutter sich aus Kanada bei ihr melden?
Er fluchte kopfschüttelnd auf Italienisch:»Porco Dio, fällte mir nicht mal mehr ihre Name ein!« Er hatte es leise gesagt, aber sie hatte es dennoch gehört und starrte auf seine Stirn. Alzheimer, Demenz - Begriffe, die sie schon seit Wochen erfolgreich verdrängte, blinkten dort plötzlich wie eine Leuchtreklame auf.
»Ich hab's gleich! Weiß ich gleich! Aus Sizilien, deine Cousine ...«
»Irma?!«
»Ja, sag i'doch. Irma!«
Sie warf Eric einen Blick zu, der diesmal betont auffällig auf seine Armbanduhr guckte, und sprang, das rechte Sprunggelenk wie immer automatisch schonend, die Stufen hinab.
»Ich habe sie um einen Rückruf gebeten, ich wusste ja nicht, dass sie sich sofort melden würde«, flüsterte Herr Mader, während er mit wild schlenkernden Armen neben Valentina her in Richtung Büro lief.
»Titina, wie geht es dir? - Gut? - Wunderbar! Wann kommste du?« Irmas harter italienischer Akzent klang mit warmer Stimme durch den Hörer, so wie hundertmal zuvor. Auf Italienisch fuhr sie fort: »Es ist Frühling, die Müllabfuhr arbeitet wieder, und gestern hat die Katze in meinem Kleiderschrank Junge bekommen, drei orangerote Kätzchen, und eins ist schwarz, sie sind wunderschön, hier ist es wunderschön! Du musst kommen!«
Und so wie hundertmal zuvor fiel ihr nur eine schwache Ausrede ein. »Vielleicht im Sommer, Irma, ich kann jetzt nicht weg.« Herr Mader räusperte sich mahnend aus seinem Büro. Sie linste hinüber zu ihrem Vater, der sich mit einer Hand das Kinn rieb und mit der anderen in den gelben Auftragsblöcken blätterte, bevor er geschäftig zur Tür hinauswieselte.
»Signor Mader hat mir schon berichtet, worum es geht«, fuhr Irma fort. »Das ist schlimm, was ist da bloß in seinem Kopf los, ich werde mit ihm reden, er muss sich sofort untersuchen lassen!«
Unwillkürlich seufzte Valentina. »Papa ist irgendwie anders als früher, er findet die Worte nicht. Er sagt Mo... Mo... Mo..., bis das Wort endlich herauskommt. Und später stellt man fest, dass er eigentlich Mittwoch meinte. Sein Gehirn ist langsamer geworden.«
»Das merkt er wahrscheinlich selbst, und weil es ihm unangenehm ist, streitet er es ab, ach, der arme Onkel! Wäre ich doch jetzt bei euch! Sag Signor Mader, er soll ihn bis zur Untersuchung noch genauer beobachten und kontrollieren!« Sofort übernahm Irma wieder das Kommando, selbst aus dem hintersten Winkel von Sizilien wusste sie, was zu tun war. Valentina musste gegen ihren Willen lächeln.
»Das macht er doch schon. Aber um ein Haar wäre das Geld weg gewesen. Für irgendeinen großen Auftrag in Bremerhaven brauchen sie Bargeld.«
»Wer will denn heute noch bar bezahlt werden, außer der Mafia? Und selbst denen kannst du das Schutzgeld inzwischen überweisen.« Sie lachte. Immer lachte sie.
»Keine Ahnung. Die Chinesen?«
»Stimmt, die Chinesen. Bei meinem kann ich das Gemüse auch nicht anschreiben lassen.« Wieder lachte sie. »Ich rede mit zio Enzo, keine Sorge, wir werden etwas finden, damit es ihm besser geht!«
Jaja, rede mit deinem Onkel, dachte Valentina, wo war der überhaupt gerade, sprach er etwa schon mit Eric über sie beide? Sie musste so schnell wie möglich dazwischen.
»Überleg doch noch mal, vielleicht kannst du nur für ein Wochenende herfliegen, ich würde dir so gerne endlich alles zeigen!«, bat Irma erneut. Sie nickte, stumm auf ihren nächsten Satz wartend, der prompt kam.
»Und ihn habe ich lange nicht gesehen. Keine Angst, du wirst ihm nicht begegnen, er arbeitet gerade in Apulien. Bari, da restaurieren sie diese ganz bekannte Kirche, wie heißt die noch mal? Siehst du, jetzt fange ich auch schon an, Sachen zu vergessen ...!«
»Ich habe keine Angst«, sagte sie, doch sie wussten beide, dass das nicht stimmte. Schnell legte Valentina auf, schnappte sich das Kuchentablett und machte sich auf die Suche nach Eric und ihrem Vater.
Sie hatte Glück, Eric stand alleine auf dem Hof herum. Sie stieg mit ihm die Treppe hinauf, am Marmorkontor vorbei, schloss die Wohnungstür auf und ließ ihn in den Flur treten. Seit Irma vor zwanzig Jahren das Regiment übernommen hatte, war hier oben einiges von ihr verändert worden. Und obwohl sie nun schon seit neun Jahren wieder auf Sizilien lebte, konnte man ihre Spuren noch überall erkennen. Statt der hellgrauen, harten Couch mit dem kratzigen Bezug, an die Valentina sich noch gut erinnerte, gab es im Wohnzimmer ein Blumensofa, in dem man versank. Dazu zwei tiefe Sessel, in denen sie damals mit angezogenen Beinen, unbehelligt von Irmas täglichem Hausputz, herumlungern und lesen durfte. Die ehemaligen Teppichböden der Schlafzimmer waren herausgerissen worden, Teppiche seien Staubfänger, also unhygienisch, behauptete Irma. Sie überredete ihren Onkel Enzo, alles mit glänzend hellen Marmorfliesen auszulegen, die sie ständig voller Inbrunst nass aufwischte. Hier und da lagen kleine Teppiche oder Läufer herum, die von ihr alle paar Tage ganz altmodisch über die Balkonbrüstung gehängt und mit einem Klopfer energisch bearbeitet wurden, obwohl es natürlich einen Staubsauger gab. Überhaupt, das Putzen. Obwohl sie nie ein Wort darüber verlor, ahnte Valentina als Kind, dass Irma die Haushaltsführung ihrer Oma, die vor ihrem plötzlichen, friedlichen Tod auf dem Donaudampfer für sie alle gesorgt hatte, mehr als ungenügend empfand.
»Staubmäuse!?«, sagte Irma gern, wobei sie den Umlaut genüsslich trennend in die Länge zog. »Staubmäuse kenne ich gar nicht auf Italienisch, die gibt es bei uns nicht!« Erstaunt hatte Valentina zugeschaut, wie Irma ihre verfärbten Unterhemden unter Zuhilfenahme einer Menge Chemie wieder weiß bleichte, wie sie ihre Pullover zusammenlegte und unnachahmlich schön auf Kante faltete, wie sie am Küchentisch saß und Berge von kleinen Zwiebelchen einlegte und abends noch geduldig die Löcher in ihren und Papas Socken stopfte.
»Ich setze eben den Espresso auf«, sagte sie zu Eric, der die zahlreichen Bilder im Flur betrachtete. Irma liebte vergoldete Bilderrahmen, sie hatte Valentinas jährliche Porträtfotos aus der Grundschule und bis dahin eher unbeachteten Malergebnisse aus dieser Zeit gerahmt. Weiß der Himmel, wo sie die alten, verschnörkelten Rahmen aufgetrieben hatte. Die Werke von damals hingen immer noch dicht nebeneinander.
»Wie nennen die dich hier? Titti-Na? Hey, kleine Titti- Na, na, kleine Titti-Na? Das ist ziemlich lustig!«
Humor ist angeblich sehr wichtig in einer Beziehung, dachte Valentina und wandte sich in Richtung Küche. »Es heißt Titìna!«, rief sie, »mit Betonung auf der zweiten Silbe. »Von Valentina, nicht von was anderem ...«
»Könnte aber doch auch sein, klein genug sind sie ja dafür.« Er lachte in sich hinein.
»Papa, wir wollten dir etwas sagen«, begann Valentina, nachdem sie alle im Wohnzimmer Platz genommen hatten, die Tassen voller Milchkaffee, die Teller mit Apfelkuchen und Sahne überladen. Ihr Vater mochte das deutsche Kaffee- und Kuchenritual sehr, und nun war es vollbracht: Nach diesem Satz konnte sie wirklich keinen Rückzieher mehr machen, jetzt würde er es erfahren.
»Jasper, was für ein Name ist das denn, bedeutet der irgendwas?«, fragte Enzo auf Italienisch und zeigte mit dem Kopf erst auf Eric, dann auf seine Tochter. »Willst du etwa auch so heißen?!«
»Ach, Papa, das ist unhöflich, lass uns doch Deutsch reden ...« Valentina zog mit den Gabelzinken Furchen durch die Schlagsahne und hätte bei aller Verlegenheit fast erleichtert aufgelacht. Er hatte durchschaut, warum sie hier waren, und er hatte sich Jasper merken können! Vielleicht waren ihre Befürchtungen doch übertrieben: dass er sich demnächst nicht mehr an ihre Bücher erinnern würde, dass er möglicherweise in wenigen Monaten Mühe hätte, ihr Gesicht zu erkennen. Dass sie bald keinen Vater mehr hätte, geistig nicht mehr anwesend, entschwunden. Wahrscheinlich alles nur falscher Alarm. Schimpf weiter, Papa, schimpf einfach weiter, dachte sie, und bleib, wie du immer warst, tu mir den Gefallen.
»Gut, sage ich noch mal auf Deutsch: Willste du etwa auch so heißen?«
»Herr Vitale, es ist ja so«, mischte Eric sich ein. Neben seinen Arztklamotten fand Valentina auch seine Arzt stimme ziemlich erotisch, obwohl sie das vor ihm nie zugeben würde. »Wir werden ja erst mal zusammenleben und nicht gleich heiraten!«
»Natürlich werdet ihr heiraten, bevor ihr zusammenlebt! Was iste sonst? Mal die Frau ausprobieren und dann wieder zurückgeben?!« Ihr Vater sprang auf. Herr Mader betrachtete aufmerksam eine dicke Rosine, die aus dem Kuchenstück auf seinen Teller gefallen war.
»Nun, etwas mehr als ausprobieren ist es ja schon, wir beteiligen uns beide an dieser Wohnung, über die wir auch noch sprechen sollten, mit einer nicht unbeträchtlichen Summe, auch wenn Ihre Tochter zunächst weniger beiträgt ...« Papa guckte mit zusammengekniffenen Augen und gleichzeitig hochgezogenen Brauen verächtlich in die Runde. Wenn er das tat, erinnerte er Valentina immer an Robert de Niro.
»Ah? Alles schon ausgedacht, was? Das Geld willste du also auch noch? Valentina, dass DU so etwas tust, meine Tochter ...!« Er rannte hinaus. Die drei blieben zurück wie Schauspieler auf einer Bühne, die keinen Text mehr hatten. Valentina schaute in die Runde. Gleich würde er wieder hereingestürmt kommen. Und da war er auch schon.
»Habe ich mir immer so gewünscht, dich in die weiße Kleid vor den Altare zu bringen. Meine liebe Tochter zu verheiraten, war immer meine Wunsch, aber was machste du? Gehst einfach davon! Ist nicht richtig! Ist das niemals richtig!« Wieder rannte er aus dem Zimmer. Valentina atmete tief durch. Das Spiel würde sich jetzt noch ein paarmal wiederholen, bis er sich endlich beruhigte. Gleich war sein nächster Auftritt dran. Er würde von der Mitgift reden, il corredo, ein Wort, das sie schon seit Kindertagen kannte. Papa hatte ihr schon als Fünfjähriger erklärt, dass sie eigentlich jede Menge hübsche Handtücher, bestickte Tischdecken und Bettlaken erwarten könne. Aber die Mama - ein strafender Seitenblick auf Martina folgte garantiert, falls sie in der Nähe war -, die Mama würde das ja nicht wollen. Immer seufzte er auch an dieser Stelle, um ihr dann von der schönen Summe zu erzählen, die auf sie warte, wenn sie mal heiraten würde, extra für sie angespart, für seine einzige Tochter, die er nur einem guten Mann geben würde.
Jetzt war ein guter Mann hier, und Papa zierte sich. Er brauchte sicher noch etwas Zeit, um es zu erkennen. Valentina stand auf, lächelte in die Runde und ging, um nach ihm zu schauen. Sie traf ihn in der Küche, er saß am Tisch und streichelte mit der Hand über die Tischdecke, die Irma vor Jahren aus Sizilien mitgebracht hatte. Ein Kunstwerk aus Stickerei, das ungestärkt und nicht einwandfrei gebügelt über dem Tisch lag. Valentina starrte ihn an. Ihre Augen trafen sich. Seine waren gar nicht so wütend, wie sie erwartet hatte. Sondern fast bittend. Betrübt. Später würde sie sehr oft an diesen Blick denken müssen. Doch in diesem Moment dachte sie nur: Nein! Den Gefallen tue ich dir jetzt nicht. Du wirst schön wieder reinkommen und dort die Sache besprechen.
»Hat Irma gemacht.« Seine Stimme war nur ein Flüstern. Na und? Was willst du mir jetzt damit sagen? Dass Irma besser sticken und bügeln kann als ich und umweltschädliches Stärkespray benutzt? Sie drehte sich um, ging zurück ins Wohnzimmer, setzte sich mit verschränkten Armen in ihren Sessel und wartete.
Doch der nächste Auftritt kam nicht. Eric begann von einem Film zu reden, den Valentina nicht kannte. Was hatte Ein Käfig voller Narren jetzt mit dieser Situation zu tun?
Herr Mader aß seinen Kuchen auf und sagte: »Guter Kuchen.«
Und dann, nach einer Weile: »Jetzt müsste er aber mal wiederkommen.«
Und schließlich standen sie auf und suchten nach ihm.
Valentina fand ihn im Schlafzimmer vor seinem Einzelbett, das klein und verloren in dem großen Raum stand. Vor Jahren, als deutlich wurde, dass seine Frau, Valentinas Mutter, nicht beabsichtigte zurückzukommen, hatte er die andere Hälfte des Ehebetts abmontiert und im Hof zerschreddert. Jetzt kniete er davor, den Oberkörper auf die Matratze gelegt, und im ersten Moment dachte sie, er würde beten. Doch ihr Vater war kein Mensch, der sich zum Beten niederkniete.
»Papa?!« Er rührte sich nicht. Valentina hockte sich ängstlich neben ihn. Ihr ganzes Leben lang hatte sie zu vermeiden gewusst, ihn so böse zu machen, vielleicht war sie ihm deswegen nie richtig nahegekommen. Und nun hatte sie es doch getan. Als sie ihn zaghaft an der Schulter berührte, rutschte er in ihre Arme, jetzt war er ihr wirklich nahe und warf sie fast um.
»Papa! Papa, was machst du denn, mein Gott ...?«
Auf dem Boden sitzend, seinen Kopf in ihrem Schoß, streichelte sie ihm hilflos über seine kalte, schweißige Stirn. Seine Augen waren geschlossen. Sie hörte jemanden nach ihr rufen, dann Erics schwere Schritte, die die Treppe heraufkamen. Er würde wissen, was zu tun war!
»Ich möchte endlich ...«, sagte ihr Vater und öffnete die Augen.
»Was möchtest du endlich?«, flüsterte sie auf seinen Kopf hinab.
»... wieder nach Hause.« Dann schloss er die Lider. Und starb.
Die nächsten Tage waren vielleicht die unwirklichsten ihres Lebens, aber nicht die traurigsten. Rang eins der traurigsten Tage meines Lebens ist schon besetzt, ebenso wie Rang zwei, dachte sie beinahe wütend. Papas Tod muss sich hinten anstellen, ich habe schon zu viel erlebt, und außerdem gibt es einfach zu viel zu tun.
Weinen konnte sie auch nicht. Sie wusste, sie hätte weinen müssen, als ihr Blick auf seine Jacke an der Garderobe fiel, dann auf sein bläuliches Rasierwasser im Bad und auf die an ihn adressierten Briefumschläge im Briefkasten, als ob sich nichts geändert hätte. Selbst beim Anblick seines Bettes, der Stelle davor, auf der er gelegen hatte - nichts. Sie war gefühllos, ›wie aus Kork‹, hätte Papa es auf Italienisch ausgedrückt. Ruhig. Seltsam gelassen. Neutral.
Nach und nach dämmerte ein Gedanke in ihr auf, der ihr bisheriges Denken lähmte. Über fünfzehn Jahre lang, also mehr als die Hälfte ihres Daseins, hatte sie ihr Leben vor ihrem Vater verborgen. Nun bestand kein Grund mehr dazu. Jede Heimlichtuerei, jedes Versteckspiel war unnötig geworden. Sie fühlte sich leer. Warum hatte sie nie ernsthaft mit ihm geredet, ihm zugehört, ihn über seine Familie ausgefragt? Warum war sie so schrecklich weit weg von ihm gewesen? Sie verstand die Person, die sie vor seinem Tod gewesen war, auf einmal nicht mehr.
Umso besser, dass es praktische Dinge gab, die erledigt werden, Listen, die abgearbeitet, Prioritäten, die gesetzt werden mussten. Der Autopsiebefund des Krankenhauses musste abgeholt werden. Jemand hatte sich die Mühe gemacht herauszufinden, woran Vincenzo Vitale, von allen Enzo gerufen, gestorben war. Herzversagen hatte der herbeigerufene Notarzt ausgeschlossen. Das Ergebnis nicht wenigstens wissen zu wollen, kam Valentina irgendwie niederträchtig vor. Obwohl es sie nicht interessierte, da sowieso alles zu spät war. Die Krankenversicherung musste informiert werden. Wo war Papas Heiratsurkunde? Das Familienstammbuch? Wo die Scheidungspapiere? Sie musste nach dem Testament suchen, bezweifelte allerdings, dass ihr Vater überhaupt eins gemacht hatte. Gab es eine Lebensversicherung? Eine Sterbeversicherung? Leben, Tod und Gesundheit, alles konnte man versichern, ging ihr durch den Kopf, warum dann nicht auch Glück, Liebe und Zufriedenheit? Oder gleich eine Versicherung gegen Trennung, schlechtes Gewissen, Lügen und den Unsinn, den man den ganzen Tag lang dachte.
Eric sagte den Kongress in Wiesbaden ab, um bei ihr zu sein, er redete von typischen Stresssymptomen, die angeblich schuld daran waren, dass sie nicht weinen konnte. Herr Mader stand immer noch unter Schock, er blieb einen Tag zu Hause. Valentina schrieb ihrer Mutter eine Mail nach Kanada und weinte nicht. Auch als keine Antwort kam. Sie rief Irma an und weinte nicht, obwohl Irma schon bei ihrem ersten, stockenden »Papa è ...« anfing zu schreien und zu schluchzen und sich gar nicht mehr beruhigen konnte. Ein paar Stunden später rief sie allerdings wieder an und faxte ihr die Kopie der Urkunde, die ihren Vater als Besitzer einer Grabstelle auswies. Das deutsche Bestattungsinstitut würde garantiert danach verlangen, erklärte sie in dem anschließenden Telefonat.
Irma übernahm also die Leitung. Den Transfer vom Flughafen mit einem Bestattungsinstitut aus Camaro, die Aufbahrung zu Hause bei einem Bruder ihres Vaters, die Organisation des Trauergottesdienst in der Chiesa Santa Maria della Pietà; Irma hatte sich zu allen Details schon Gedanken gemacht. Valentina war das nur recht, bereitwillig ließ sie ihr den Vortritt.
Eric kümmerte sich um Valentina. Immer wenn er meinte, sie würde es nicht merken, betrachtete er sie prüfend. Er bot ihr Medikamente an. Etwas Beruhigendes, etwas zum Schlafen, etwas ganz Leichtes, etwas Pflanzliches. Etwas, um die Stimmung ein wenig aufzuhellen?
»Hast du etwas, um die letzten zwei Tage rückgängig zu machen? Zwei Tage? Das würde mir schon reichen!«
»Valentina. Gegen die intrakranielle, extrazerebrale Blutung in seinem Gehirn hättest du auch vor zwei Tagen nichts tun können. Sein hoher Blutdruck hat das Unvermeidliche nur ein wenig beschleunigt.«
»Aha. Dann möchte ich nichts.«
Daraufhin kochte er fortwährend Tee. Kamille, Hagebutte, Pfefferminz. Was er in der Küche so fand. Er ließ ihr Vollbäder ein, brachte Wärmflaschen, weil sie dauernd fror. Er wollte sogar mit ihr in ihrem Zimmer übernachten, doch das konnte sie Papa, der in der Pathologie in der Kreisstadt lag und nun nicht mehr in der Lage war, sein Veto einzulegen, nicht antun.
Schon vierundzwanzig Stunden nach seinem plötzlichen Tod reagierte sie nervös auf alles, was Eric vorschlug, und bat ihn zu gehen, sie käme schon alleine klar. Unverzüglich rief er einen befreundeten Kollegen an, und obwohl sie weghörte, verstand sie die Worte »posttraumatische Belastungsstörung« und »Squash«. Sie war erleichtert und verletzt zugleich.
Aber sie weinte nicht, auch nicht, als sie das Testament ihres Vaters am nächsten Morgen in einem Aktenordner im Büro fand. Das Datum war vom 2. November des letzten Jahres, es war in seiner Handschrift auf Italienisch geschrieben und begann mit zwei Worten: Figlie mie! Meine Töchter!
Meine Töchter!? Sie sah sich selbst dabei zu, wie sie bewegungslos dasaß, sie sah das Blatt Papier in ihren Händen, das nicht zitterte. Ihr war nicht heiß, nicht kalt, auch keine Schauer, die über ihren Rücken liefen. Nichts.
Meine Töchter! Bitte verzeiht! Ich habe in meinem Leben einige Entscheidungen getroffen, die vielleicht nicht richtig waren, doch wenn der Herr mich zu sich ruft, will ich gerüstet sein. An Dich, meine geliebte Irma, sollen alle Güter auf Sizilien gehen. Für Dich, Valentina, mein Schatz, wird die Firma und unser Haus in Deutschland sorgen, da Dir beides jetzt nach meinem Tod sowieso gehört. Meine Geschwister sollen mich, wie es bei uns Sitte ist, in unser kleines Mausoleum in Camaro begleiten. Ich liebe Euch!
Euer Vater
(Vincenzo Vitale)
Meine Töchter. Irma. Geliebte Irma. Euer Vater. Die Worte wiederholten sich wie eine Endlosschleife in Valentinas Hirn, als würde sie nie wieder etwas anderes denken können. Was machte das für einen Sinn? Irma? Ihre Cousine war gar nicht ihre Cousine? Sondern ihre Schwester? Aber wer war dann der Mann auf dem Foto, das in Irmas Zimmer in einem Silberrahmen auf der Kommode gestanden hatte? Und mit dem sie irgendwann einmal, vor Lichtjahren, zu Weihnachten ein paar verlegene Worte gewechselt hatte? Irma war nicht ihre Cousine ... Sie fühlte eine riesige Welle der Wut auf sich zurollen. Wenn das stimmte ... Wenn das stimmte, dann hatte er sie jahrelang angelogen! Wer war sie denn, dass man das mit ihr machen konnte?! Wer war dann Irmas Mutter? Und Irma? Hatte sie davon gewusst? Oder war sie auch von ihm angelogen worden? Ein Onkel, der in Wirklichkeit ein Vater war. Konnte das sein? Valentina merkte, wie ihre Welt immer mehr in einzelne Puzzlestücke zerfiel, die sie nie mehr zusammenbringen würde, obwohl doch vor ein paar Tagen alles noch zu passen schien. Wieder sah sie ihn in den letzten Minuten seines Lebens in der Küche sitzen. Dieser Blick. ›Hat Irma gemacht!‹ Was war das für ein Blick gewesen? Mittlerweile empfand sie ihn nicht mehr als betrübt oder bittend, sondern als vorausahnend, grüblerisch.
Als das Telefon klingelte, nahm sie automatisch ab.
»Dr. Schönemann, Pathologie der städtischen Kliniken. Der Leichnam ist jetzt freigegeben, Sie können ein Bestattungsunternehmen beauftragen ...« Er nannte ihren Vater Leichnam, als ob er nicht mehr als ein toter Körper sei. Aber er ist ein toter Körper, sagte sie sich, nichts von ihm ist mehr da drin. Nichts von ihm. Er hat nur seine Hülle zurückgelassen, kalt und starr. Und seine Lügen.
»Gut. Danke.« Sie legte auf. Alles Lebende von ihm auf dieser Welt ist nur noch in mir, dachte sie. In meinen Erinnerungen, in meinen Genen. Und vielleicht auch in Irmas Genen? Unfassbar. Unverschämt. Er lässt mich damit allein, schreibt einfach dieses dumme Papier. Sie überflog es in ihrer Wut noch einmal.
»Meine Töchter! Ha!«, rief sie in den Raum. Und: »Euer Vater! Euer Vater, wo warst du denn, du Vater?« Jetzt schrie sie. Es tat gut, ihn anzuschreien. »Ich liebe Euch. Uns? Mich? Irma hat dich immer Onkel genannt! Entweder bist du nur ein großer Lügner, zio Enzo, oder sie lügt auch, oder ...«
Sie versuchte Irma anzurufen, doch es war besetzt. Festnetz. Handy. Stundenlang.
Ihre Wut breitete sich immer weiter aus, verwandelte ihren Magen in einen harten Klumpen und ließ ihren Nacken starr werden. Na warte, dachte sie, na warte, ihr könnt mich nicht alle ein Leben lang verarschen, damit ist jetzt Schluss! Mit wenigen kurzen Handbewegungen hatte sie das Blatt zerrissen, einmal längs, einmal quer, noch mal quer, bis nur noch quadratische Papierfetzen auf der marmornen Platte des Tresens übrig blieben. Mit dem Kleeblattfeuerzeug, das sie ihrem Vater aus Dublin mitgebracht hatte, versuchte sie die Reste abzufackeln. Sie brannten widerwillig, nur der helle Marmor schwärzte sich. Irgendwann war es geschafft, der Tresen war von zarten Ascheflocken übersät, eine davon schwebte zu Boden, ein schwarzer Schmetterling, auf dem Weg in die Hölle.
»Da hast du deine Töchter, deine geliebte Irma, deine figlie mie!« Valentina hieb auf die übrigen Flocken ein. Als sie ihre Faust endlich wieder öffnete, klebten die winzigen Partikel schwarz an ihrer Handkante.
Herr Mader erschien am späten Nachmittag, er hatte seinen anthrazitfarbenen Anzug gegen einen schwarzen ausgetauscht, weißes Hemd, schwarze Krawatte, bereit für eine Beerdigung. Er weinte, als er Valentina mit dem Kopf auf der Tischplatte von Enzos Schreibtisch sitzen sah. Ihre Wut war verraucht, in der Asche aufgegangen, und das Entsetzen über ihre Tat wuchs. Mein Gott, was hatte sie getan? Sie hatte ein Dokument zerstört und entschieden, sich nicht nach dem Willen ihres Vaters zu richten. Aber gab es womöglich irgendwo eine Kopie?
»Gibt es einen Notar, bei dem er etwas hinterlegt haben könnte?«, fragte sie Herrn Mader.
»Soviel ich weiß, macht die Kanzlei Heetmeier nur die geschäftlichen Sachen für uns. Soll ich dort mal für dich anrufen?«
»Ja bitte.« Sie war ihm dankbar für diesen Anruf, denn ihre Stimme würde bestimmt zittern bei der Frage nach einem Testament.
© 2011 sowie dieser Ausgabe 2013 by Diana Verlag, München
»Und wo sind wir eigentlich?« Eric las das Schild, an dem sie in diesem Moment vorbeirasten. »Ortsteil Schwarzmoor. Anheimelnder Name ... Wenn wir stecken bleiben, schiebst du uns wieder raus!« Er gab Gas, der Wagen jagte noch schneller dicht an kilometerlangen Weidezäunen und noch immer winterkahlen Hecken vorbei. Wenn er sauer auf sie war, fuhr er zu schnell. Sie sollte Angst haben, zur Strafe.
»Fahr langsamer, da vorne in die kleine Straße rein und dann sofort links in das Tor!«, sagte Valentina ruhig, sie würde sich vor dem Großstadtkind auf keinen Fall für Moorlandschaft und Kuhweiden rechtfertigen. Eric bremste ab.
»Er ist eben immer noch ein Italiener, auch wenn er schon seit fünfunddreißig Jahren in Deutschland lebt. Noch dazu ein Süditaliener!« Wie oft hatte sie die altmodische Art ihres Vaters verwünscht, aber wenn andere ihn kritisierten, verteidigte sie selbst seine peinlichsten Marotten. Eric fuhr in die Toreinfahrt und brachte den Wagen vor einem hohen Grabstein aus Marmor zum Stehen.
»So!« Er schlug mit beiden Händen flach auf das Lenkrad, seine Stimmung war von genervt auf freundlich umgeschlagen, das ging bei ihm innerhalb einer Sekunde. Valentina lächelte ihn an, küsste ihn schnell auf die Wange und stieg aus. Der kalte Wind wirbelte ein wenig weißen Marmorstaub auf und zerrte an ihrer Daunenjacke, es war schon Mitte April, doch die Sonne hatte sich in diesem Frühjahr noch nicht oft gezeigt. Letzte Woche hatte es sogar noch geschneit. Valentinas Beine zitterten nicht nur vor Kälte, sie hüpfte ein paarmal auf und ab und atmete tief durch. Das Kreischen der Marmorsäge, das Geräusch ihrer Kindheit, ihres Alltags, musste in Erics Ohren noch schriller klingen als in ihren eigenen. Aber er schien sich daran nicht zu stören.
»Kleine Jungfrau, nun sei mal nicht so nervös!«, rief er über den Lärm hinweg. Sie musste lachen, sein Vorrat an kleinen Namen für sie war unerschöpflich: von »kleiner Kakerlak« über »Klein-Laut«, »kleine Hübsche« bis »kleine Hässlichkeit«. Sie liebte es, wenn er sie mit einer neuen Wortschöpfung überraschte.
»Meine Meinung zum Heiraten kennst du ja. Wie willst du mich überhaupt vorstellen?«, fragte er jetzt.
»Als meinen Geliebten, wie denn sonst?« Sie lachte wieder, aber diesmal klang es irgendwie falsch. Geliebten! Die vielen Romanseiten, die sie in den vergangenen Tagen übersetzt hatte, färbten auf ihre Sprache ab. Obwohl Eric nach seiner missglückten ersten Ehe auf keinen Fall noch ein weiteres Mal heiraten wollte, würde sie ihn nicht als Geliebten, sondern als fidanzato vorstellen und hoffen, dass er die Bedeutung des Wortes nicht kannte. Peinlich. Aber für ihren Vater musste der Mann, den sie mit nach Hause brachte, schon ihr Verlobter sein.
Endlich werde ich mein Leben mit jemandem teilen können, dachte sie. Ich werde neben ihm einschlafen, neben ihm aufwachen, werde nicht mehr Papas Hemden im Wohnzimmer, sondern nur noch die von Eric im Wirtschaftsraum bügeln, obwohl Eric seine Hemden lieber in die Reinigung bringt. Wirtschaftsraum. So hatte die Maklerin die große Abstellkammer neben der Küche bezeichnet. Eric würde seine Einstellung zur Ehe schon noch ändern, und dann würde sie eine verheiratete Frau mit einem Wirtschaftsraum sein. Wow. Ein seltsames Gefühl, ganz anders als das, was sie sich früher unter den Wörtern Liebe und gemeinsame Zukunft vorgestellt hatte.
Prompt presste ihr der alte Schmerz die Lungenflügel ein wenig zusammen, bereit, kraftvoll loszubrechen, wenn sie ihn nur ließe. Der Schmerz würde immer da sein, das hatte sie mittlerweile akzeptiert. Niemals würde es wieder so wie damals, niemals mehr würde jemand wieder alles von ihr erfahren. Das war vorbei. Sie griff nach Erics Hand, obwohl er das nicht mochte.
»Den ganzen Tag drängen meine Patienten mir ihre Extremitäten auf, ich habe dauernd Körperteile in der Hand, ich bin kein Typ zum Händchenhalten«, hatte er ihr erklärt. Sie wusste, was er in seiner Praxis tat, er hatte sich beim Begutachten ihrer verspannten Muskeln und Sehnen unter ihrem rechten Schulterblatt in sie verliebt und deswegen länger als nötig mit seinen Händen an ihr herumgezogen, -getastet, -gedreht. Wenn er seine Hand jetzt gleich wieder wegnahm, wäre das ein Zeichen, und sie würde die ganze Sache abblasen. Erstaunlicherweise ließ er sie ihr.
Mit hochgezogenen Augenbrauen nahm Eric den umzäunten Hof der Firma, das geduckte Einfamilienhaus, die Halle, die verstreuten Grabsteine und unbehauenen Steinquader in sich auf. Sie folgte seinem Blick. Die Marmorplatten am Tor lehnten fachgerecht gesichert, aber unordentlich in den Halterungen. Ihre moosigen Oberflächen waren seit Jahren der Witterung ausgesetzt, eigentlich solange sie denken konnte. Als Kind hatte sie mit den Nachbarskindern dazwischen gespielt. Obwohl es verboten war. Sie seufzte unhörbar. Wie oft hatte sie ihrem Vater gesagt, er solle das verrottete Zeug vom Eingang wenigstens nach hinten bringen lassen.
Die Säge verstummte. Sie fror immer noch, mit der linken Hand zog sie die Jacke am Hals zusammen. »Kind, du musst mehr essen, damit du wächst und ordentlich Fleisch auf die Rippen bekommst!« Früher hatte ihre Oma sie mit Lebertran gequält, genützt hatte es nichts, sie war mit 1,63 Meter ziemlich klein und auch heute noch dünn.
»Kannst du damit fahren?« Eric ging ein paar Schritte auf den Gabelstapler zu, den Kalle wie immer mitten auf dem Hof stehen gelassen hatte. Sie kannte Kalle schon ihr Leben lang, seine Haare saßen auf seinem Kopf wie bei einem Playmobilmännchen, und als Kind hatte sie gedacht, er behalte seine Arbeitsstiefel, die Latzhose und die Ohrenschützer auch nachts im Bett an. Gerade startete er in der Halle wieder die Säge.
»Klar. Dem Stapler habe ich die Narbe zu verdanken. Vielmehr seinem Vorgängermodell.«
»Ach ja, natürlich! Die Bimalleolarfraktur. Sorry.«
Valentina lachte, sie mochte es, wie seine Augen zu glitzern anfingen, sobald er von Bändern, Sehnen, Knochen und seinem Spezialgebiet, dem meniscus lateralis, redete. Als sie sich kennenlernten, hatte Eric die zwölf Zentimeter lange, dunkelrote Narbe über ihrem Sprunggelenk entdeckt und mit leidenschaftlichem Interesse abgetastet. Am liebsten hätte er den Knöchel gleich geröntgt, um den Knochenstand festzustellen.
»Ich zeig dir später alles.« Sie drückte Erics Hand und zog ihn zu dem gelb verklinkerten Haus, in dessen Souterrain die Geschäftsräume untergebracht waren. Sie musste es endlich wagen, sie war über dreißig, sie wollte verheiratet sein, glücklich sein, ein Kind haben. Und auch den Wirtschaftsraum. Einen besseren Mann als Eric, der mit seinem Doktortitel möglicherweise auch vor ihrem Vater Enzo Gnade fand, gab es doch gar nicht.
»Marmorkontor« stand an der Tür, das große M aus Messing war sogar poliert.
Trotzdem sah heute alles trostlos und irgendwie kümmerlich aus. Sie gingen drei Stufen hinab, Eric Gentleman öffnete die Tür, und schon standen sie in dem langgezogenen Raum. Vor ihnen ein Tresen, hinten zwei abgetrennte Büros, ein Schreibtisch, Regale, Aktenordner, dazwischen eine Treppe aus grünem Marmor, die nach oben in die Wohnung führte. Die Decke des Souterrains war niedrig und so grau wie der Marmor an den Wänden. Das dunkel angelaufene Computergehäuse auf dem Tisch und das ewige Omega in zwanzig unterschiedlichen Buchstaben- typen und Farben möglicher Grabsteinbeschriftungen deprimierten Valentina. Schon wurde sie wieder unsicher. Eine dumme Idee, Eric unbedingt hierherschleppen zu wollen. Warum hatte sie ihren Vater nicht in ein Restaurant eingeladen und ihm ihre Verlobung, von der Eric peinlicherweise nichts wusste, bei einem Glas Sekt verkündet?
»Ciao, Papa! Wir haben Kuchen mitgebracht!«
»Buongiorno, buongiorno! Angenehm, Vitale!« Eilig kam ihr Vater herbeigelaufen und schüttelte Eric ein wenig zu lange die Hand.
»Das ist Eric. Mein ...« Nun sag es doch einfach, du hast es extra geübt, drängelte es in ihr, aber das fehlende Wort fühlte sich so falsch an wie der ganze Nachmittag.
»... mein Vater«, sagte sie stattdessen zu Eric. In diesem Moment bemerkte sie Herrn Mader, der mit düsterem Blick aus dem hinteren Büro gekommen war. Doch er korrigierte seinen Gesichtsausdruck sofort.
»Mader. Ich bin so eine Art besserer Buchhalter«, erklärte er Eric mit einem bescheidenen Lächeln.
»Doktor Jasper.« Selbst wenn Eric sich ein Taxi bestellte, vergaß er nie, seinen Titel zu nennen. So viel Zeit muss sein, sagte er immer. Einen Augenblick herrschte Stille, sogar die Säge drüben in der Halle schwieg respektvoll.
»Na, dann wollen wir mal!«, rief ihr Vater laut, aber seine Augen schwirrten wie aufgescheuchte Vögel durch den Raum, und seine Hände schoben die ordentlich abgelegten Rechnungen von rechts nach links über den Tresen und wieder zurück. Valentinas Herz zog sich zusammen. Was war denn in den letzten Wochen los mit dem leicht cholerischen, charmanten, witzigen Mann, den er sonst immer vor den Kunden gab? Sehr viel bekam sie ja nicht mehr von ihm mit. Sie tranken morgens ihren ersten Espresso zusammen, bevor sie das Haus für den Rest des Tages verließ. Frau Bröcker von nebenan putzte bei ihnen und kochte mittags. Seitdem der alte Herr Bröcker vor zwei Jahren gestorben war, war sie dankbar, sich mit Arbeit ablenken zu können. Leider weigerte sie sich zu bügeln. Abends kam Valentina mit Lebensmitteln bepackt nach Hause, bereitete Abendbrot für sie beide und fuhr dann oft noch mal in die Stadt zurück. Dort lernte sie angeblich Französisch in der Volkshochschule, belegte Kurse wie »EDV-Finanzbuchführung«, »Progressive Muskelentspannung « und »Bridge, die Königin der Kartenspiele «. Ausgerechnet Bridge! In Wahrheit traf sie natürlich Eric.
Ach, Papa, dachte Valentina, du wirkst jetzt manchmal so hilflos und irgendwie richtig alt.
Herr Mader, in seinem anthrazitgrauen Anzug lang und dünn wie ein Bleistift, stand nickend neben ihrem Vater und machte ihr verstohlen Zeichen:
Wir müssen reden!
Später!, signalisierte sie ihm.
Aber bald - es geht um deinen Vater!
Ich weiß!
Jeder Blick eindringlicher als der vorherige.
»Also, dottore, das da, das sind die Steinbrüche, da kommt der Marmor her!« Valentina freute sich, ihr Vater hatte sich offensichtlich wieder gefangen. Er kam hinter dem Tresen hervor und zeigte Eric die gerahmten Fotos an den Wänden.
»Carrara, beste Marmor überhaupt. Von Carrara habe ich hier raufgebracht, vor über dreißig Jahre, alle sechs Woche war ich mit die Spedition da - habe die ganze Norden von Deutschland mit Marmor glücklich gemacht! Habe ich Carrara schon faste leer gemacht!« Er lachte. Eric ging näher an die Bilder heran: blauer Himmel, aufragende Steinwände, ein Bagger und ein junger Enzo in kurzen Hosen davor.
»Heute kommt meiste von die Marmor aus China oder, wenn du was Teures haben willst, aus Brasilia.« Er lachte wieder. »Will aber nur manche Mal einer was Teures hier, die Leute wollen Grabstein oder Platte für Küche oder Stufe für die Treppe.« Ihr Vater klopfte Eric auf die Schulter, wie er das nur bei seinen besten Kunden tat. »Bekommen Sie alles bei mir, dottore. Auch eine ganze Badezimmer, sehr elegante!«
Eric verschränkte die Arme vor der Brust und lachte mit, während Valentinas Vater alles anpries, was in den Geschäftsräumen des Marmorkontors zu finden war: Aktenordner, die Handmuster der einzelnen Marmorsorten, schwarzer Marquina, grüner Verde di Mare und der feine Estremoz in zartem Rosa, das summende Kopiergerät und die Kanister voller Reinigungspolitur in der Ecke.
»Ecco! Die Bücher von meine Valentina stehen alle in die Regal!«
»Ach, Papa!« Sie winkte lächelnd ab. Na also, klappte doch wunderbar.
»Und hier! Meine Kleine, da iste sie ..., äh ..., vier oder fünf.« Stolz wies er auf ein großes Schwarz-Weiß-Foto neben den Grabsteininschriften, das Valentina schüchtern lächelnd, mit weißem Riesenkragen, glattem Bubikopf und sehr kurzem Pony zeigte.
»He, da sieht sie aus wie heute, nur der Pony ist seit damals gewachsen!«, sagte Eric.
»Hatte ich selbst geschnitten. Mama ist ausgeflippt. Und hat ihn begradigt. Dann bin ich ausgeflippt.«
»Und dieser Kragen ... Du bist die kleine Mireille Mathieu!«
»Na, danke. Lebt die überhaupt noch?« Valentina wollte sich ganz dicht neben Eric stellen, vielleicht sogar wieder seine Hand nehmen, damit ihr Vater auch sah, warum sie hier waren, da winkte der bescheidene Buchhalter sie in sein Büro.
»Bin gleich wieder da«, sagte sie zu Eric, »Herr Mader denkt immer, ich könnte ihm mit seinem Computer helfen ...«
»Tut mir leid, dass ich das ausgerechnet heute erwähnen muss, aber es wird jeden Tag schlimmer mit ihm«, flüsterte der hagere Mann, als Valentina den kleinen Raum betrat. Valentina nickte hastig und schaute durch die Türöffnung nach Eric. Sie musste unbedingt vermeiden, dass er in Gegenwart ihres Vaters schon eine Anspielung auf die gemeinsame Wohnung machte.
»Ich habe nur äußerst knapp verhindern können, dass dein Vater das gesamte verfügbare Kapital in einem Pioneer Fonds anlegt! Gestern habe ich den Termin bei der Bank, den ihm dieser Niemeyer aufgeschwatzt hat, abgesagt. Enzo, habe ich gesagt, wer investiert denn heute noch in irgendwelche obskuren Fonds? Wir brauchen das Geld hier und sofort. Zum Glück hat er es eingesehen.«
Herr Mader krallte sich mit seinen langen Fingern in die Lehne seines Bürostuhls. Wenn er ein Tier wäre, dann eine Krähe oder ein Rabe, jedenfalls irgend so ein dunkler Vogel, dachte Valentina.
»Ich wollte dich damit bisher nicht belästigen, aber so langsam denke ich, dass du wissen solltest, was hier passiert. Heute Morgen zieht er zum Beispiel kurz vor der Frühstückspause seine Jacke an und will gehen. Enzo, wohin?, frage ich ihn. Na zu Bank, Termin mit diese Niemeyer, antwortet er, als ob wir nie darüber geredet hätten!«
Valentina seufzte. Sie kannte sich nicht aus in der Firma ihres Vaters, und sie wollte sich auch gar nicht auskennen. Behauptete er nicht immer, trotz des etwas schäbigen Eindrucks, den die Firma von außen machte, es ginge ihr glänzend? ›Im Kreis von hundert Kilometern hab ich das Monopol, wer gute Marmor will, muss kommen zu mir!‹
»Aber es ist ja noch mal gut gegangen!«, sagte sie leise.
»In letzter Zeit nicht immer, zweimal hat er Kalle das falsche Aufmaß angegeben. Das ist ihm vorher nie passiert. Ein Schaden von gut vierzigtausend Euro! Und wir brauchen jeden Cent, um für den Auftrag in Bremerhaven liquide zu sein. Wenn das überhaupt klappt ... Bei den Chinesen müssen wir immer direkt bezahlen.«
»Ich habe ihm doch neulich vorgeschlagen, sich vom Neurologen untersuchen zu lassen, aber er weigert sich ja!«, sagte Valentina, hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Herr Mader tat es ihr nach. Ein paar Sekunden starrten sie sich wortlos in die Augen.
»Ich weiß, deswegen musst du unbedingt mit Irma reden! « Herr Mader war ein großer Fan von Irma, ihrer zehn Jahre älteren Cousine. Mit selbst gemachten gnocchi al pesto und sentimentalen sizilianischen Liedern hatte sie ihn während ihrer Zeit in Deutschland hörig gemacht. Sie hatte für alles eine Lösung, doch was sollte sie in diesem Moment drüben auf Sizilien schon tun können, wenn Papa hier seine Firma zugrunde richtete?
»Und warum!?«
»Irma konnte immer so gut mit ihm umgehen, auf sie hört er, sie weiß, was er braucht.«
Valentina schnaubte, in ihrem Hals brannte es. Das war ja nichts Neues. Na klar, Irma, dachte sie, schon immer wusstest du, was für jeden das Beste ist. In dem Winter, als ich zwölf wurde und plötzlich mutterlos war, hast du mit einem Blick erkannt, was ich brauchte: Hände, die meine Haare abends liebevoll bürsteten, die meine Sachen morgens über die Heizung hängten, die die Narbe mit Öl massierten, bis sie weich und glatt wurde, ich brauchte eine orange Kuscheldecke, um den tief sitzenden Kummer hineinzuweinen und keine Fragen über meine Mutter. Ein Jahr später hast du mir erklärt, was passiert, wenn ein Mädchen eine Frau wird und wie man mit Vätern aus Sizilien umgeht. Du hast mich zu einer Meisterin im heimlichen Ausgehen, heimlichen Telefonieren, im Aussparen von Informationen und Erfinden von Terminen erzogen. Papa war Wachs in deinen Händen. Manchmal wollte er losbrüllen, doch dann hat er dich nur angeguckt, als ob er etwas Kostbares, Einmaliges sähe, und hat gelacht. Und du warst ja auch einmalig: Du warst die perfekte Ersatzmutter, die perfekte Lügenlehrerin, eine Lügenmutter, nur zehn Jahre älter als ich, mit der ich lachen konnte. Doch irgendwann war es dir plötzlich egal, was ich brauchte, und du hast mich alleingelassen. So wie alle zuvor mich alleingelassen haben. Zuerst Oma und Opa. Dann Mama. Dann der, an den ich nie mehr denken will. Am Ende du.
»Okay, ich rufe Irma heute Abend noch an«, versprach sie Herrn Mader, »aber jetzt hole ich den Kuchen aus dem Auto, und dann gehe ich nach oben und mache Kaffee. Sie kommen doch auch?« Am liebsten hätte sie ihm über den Arm gestreichelt, aber das ging nicht, einen Butler streichelte man ja auch nicht aus Dankbarkeit für seine Fürsorge.
Wieder auf dem Hof, scharrte Eric mit den Füßen, als ob er sich Hundedreck von seinen Sohlen kratzen wollte.
»Dein Vater erinnert mich an den einen aus dieser Mafia- Serie, du weißt schon, dieser Kleine, Durchgedrehte.« Begeistert von seinem Vergleich, lachte er vor sich hin.
Valentina schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, Takt war nicht gerade seine Stärke. Aber er konnte ja nicht wissen, dass ihr Vater in letzter Zeit viele Dinge verwechselte, heute nicht mehr wusste, was er gestern gesagt hatte, und alles abstritt, wenn man ihn darauf ansprach.
Sie versuchte Ärger und Besorgnis von sich abzuschütteln wie den allgegenwärtigen Marmorstaub. Es lief doch, sie würde ihre Neuigkeit schon noch loswerden. Der Eröffnungsteil - erstes Zusammentreffen mit Papa - war überstanden. Nun kam es darauf an, Eric noch einmal richtig vorzustellen und ihren Vater auf den anstehenden Auszug vorzubereiten. Natürlich würde er sich aufregen, er würde erst leise, dann laut fluchen, in seinem Dialekt, wie sonst? Er würde mehrmals aus dem Wohnzimmer stürmen und kurz darauf wieder hereinkommen. Und dann? Wären sie alle Gäste einer absoluten Premiere, denn sie hatte ihrem Vater niemals zuvor einen ihrer Freunde vorgestellt. Außer Max, aber das war ja etwas anderes. Darüber würde sie jetzt keinesfalls nachdenken.
Sie ging zum Auto und hob das Kuchentablett der Bäckerei von der Rückbank, doch schon holte sie die Angst vor dem unkalkulierbaren Ausgang von Kaffee und Apfelkuchen wieder ein.
»Ich weiß nicht, ob heute ein guter Tag ist, um ihn in unsere Pläne einzuweihen ...«, rief sie Eric über die Schulter zu. »Er ist noch seltsamer als in den letzten Wochen.« Eric schaute verstohlen auf seine Armbanduhr, es tat ihm anscheinend leid um seinen freien Nachmittag. Sie hatte es gesehen und knallte die Autotür zu. Ihr Knöchel schmerzte jetzt, das tat er manchmal an kalten Tagen.
»Viel Zeit habe ich auch nicht. Mein Wagen steht noch am Laden, und ich muss auch noch mal an den Computer «, fuhr sie fort, obwohl zumindest das mit dem Computer nicht stimmte. Sie wollte nur allein sein, um über ihren Vater Enzo nachzudenken, und nirgendwo konnte sie besser denken als in ihrem Übersetzungsbüro in der Stadt, ihrem Refugium, ihrem stillen Tempel, den niemand ohne eine ganz besondere Einladung betreten durfte. Was bewegte Papa nur zu einer solchen Tat wie mit den Fondsanteilen? Hatte er einen Plan, oder war er einfach nur unzurechnungsfähig?
»Mir ist das eigentlich egal, ob dein Vater Bescheid weiß, aber wir zwei Hübschen müssen noch über die Finanzierung der Wohnung sprechen.«
Sie fand es normalerweise blöd, wenn jemand ›wir zwei Hübschen‹ sagte, aber bei Eric störte es sie nicht. Zumindest nicht sehr. Sie war erwachsen geworden, sie konnte mit einem Mann zusammenziehen, der komische Wendungen in seinem Sprachgebrauch hatte. Sie konnte sogar einen Mann heiraten, der nur Sachbücher las. Sie wollte ein Kind bekommen von ihm, und er wollte eins von ihr, dafür liebte sie ihn. Obwohl er ihr diese Absicht jeweils nur kurz vor seinem Orgasmus ins Ohr stöhnte. Es störte sie auch nicht, dass er die Wattestäbchen anleckte, bevor er sie sich in die Ohren schob, und dass er nur in den weißen Arztklamotten seiner Praxis wirklich sexy aussah, obwohl er für seine Garderobe so viel Geld ausgab.
Stimmte das alles überhaupt? Oder würde sie ihn eines Tages für alles hassen, was er tat oder nicht tat, für das, was er sagte, wie er es sagte oder was er nicht sagte? Sie schaute ihn an. Seine Haare waren dunkelbraun ohne das kleinste Anzeichen von Grau, die Augen ein wenig heller, er war gut aussehend, ein typischer Arzt, wie auf den Dr. Herzsprung-Romanen, die bei Oma Gertrud immer auf dem Nachttisch gelegen hatten. Wenn sie das als kleines Mädchen gewusst hätte. Einen Dr. Herzsprung würde sie bekommen!
»Deine Idee, Klein-Kariert, du hast gesagt, du fühlst dich abhängig von mir, wenn du dich nicht an der Wohnung beteiligst«, sagte Eric und grinste sein Grinsen. »Und ich finde, du hast recht. Denn ich liebe unabhängige Frauen. Morgen fahre ich nach Wiesbaden zum Kongress, und Ende der Woche haben wir den Termin beim Notar für den Vorvertrag. Denk bitte daran.« Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern umarmte sie so fest, dass ihr Mund an seinem Hals landete und ihre Lippen gegen seine Haut gepresst wurden.
»Hier bist du also aufgewachsen.« Er knabberte mit warmem Atem an ihrem Ohr, »so viel Stein und nur Männer um dich herum, jetzt verstehe ich langsam, wie aus dir so eine knallharte Marmorprinzessin werden konnte.«
Valentina kicherte und stieß einen kleinen Schrei aus, um ein Haar hätte sie den Kuchen fallen lassen. An ihrem Gesicht haftete eine Menge von dem herrlich riechenden Aftershave, das sie ihm geschenkt hatte. Plötzlich war sie ganz sicher: Sie liebte ihn. Natürlich liebte sie ihn. Er war gut für sie! Durch ihn war sie selbstbewusster geworden, hatte endlich wieder einen Plan für die Zukunft. Ihre eigene Zukunft. Unabhängig von Papa.
»Zeigst du mir jetzt dein Zimmer? Du weißt, dass ich immer Lust auf dich habe«, flüsterte Eric, »und dann mache ich etwas ganz Geheimes mit dir. Davon wird mich niemand abhalten, auch nicht dein ...«
In diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen, und ihr Vater schaute vom Fuß der Treppenstufen zu ihnen hoch. Hastig befreite Valentina sich aus Erics Armen.
»Titina, Telefon, äh ..., es ist ..., na, verdammt! Da ist - sie will dich sprechen, äh ...« Einige Namen ratterten ihr durch den Kopf, doch wenn er so herumdruckste, konnte das nur eins bedeuten:
»Doch nicht etwa - Martina?«
»Nooo! Was denkste du!«
Sie zupfte verlegen an ihrem feuchten Ohrläppchen. Papa hatte recht, ihr Geburtstag war vor drei Monaten gewesen, warum also sollte ihre Mutter sich aus Kanada bei ihr melden?
Er fluchte kopfschüttelnd auf Italienisch:»Porco Dio, fällte mir nicht mal mehr ihre Name ein!« Er hatte es leise gesagt, aber sie hatte es dennoch gehört und starrte auf seine Stirn. Alzheimer, Demenz - Begriffe, die sie schon seit Wochen erfolgreich verdrängte, blinkten dort plötzlich wie eine Leuchtreklame auf.
»Ich hab's gleich! Weiß ich gleich! Aus Sizilien, deine Cousine ...«
»Irma?!«
»Ja, sag i'doch. Irma!«
Sie warf Eric einen Blick zu, der diesmal betont auffällig auf seine Armbanduhr guckte, und sprang, das rechte Sprunggelenk wie immer automatisch schonend, die Stufen hinab.
»Ich habe sie um einen Rückruf gebeten, ich wusste ja nicht, dass sie sich sofort melden würde«, flüsterte Herr Mader, während er mit wild schlenkernden Armen neben Valentina her in Richtung Büro lief.
»Titina, wie geht es dir? - Gut? - Wunderbar! Wann kommste du?« Irmas harter italienischer Akzent klang mit warmer Stimme durch den Hörer, so wie hundertmal zuvor. Auf Italienisch fuhr sie fort: »Es ist Frühling, die Müllabfuhr arbeitet wieder, und gestern hat die Katze in meinem Kleiderschrank Junge bekommen, drei orangerote Kätzchen, und eins ist schwarz, sie sind wunderschön, hier ist es wunderschön! Du musst kommen!«
Und so wie hundertmal zuvor fiel ihr nur eine schwache Ausrede ein. »Vielleicht im Sommer, Irma, ich kann jetzt nicht weg.« Herr Mader räusperte sich mahnend aus seinem Büro. Sie linste hinüber zu ihrem Vater, der sich mit einer Hand das Kinn rieb und mit der anderen in den gelben Auftragsblöcken blätterte, bevor er geschäftig zur Tür hinauswieselte.
»Signor Mader hat mir schon berichtet, worum es geht«, fuhr Irma fort. »Das ist schlimm, was ist da bloß in seinem Kopf los, ich werde mit ihm reden, er muss sich sofort untersuchen lassen!«
Unwillkürlich seufzte Valentina. »Papa ist irgendwie anders als früher, er findet die Worte nicht. Er sagt Mo... Mo... Mo..., bis das Wort endlich herauskommt. Und später stellt man fest, dass er eigentlich Mittwoch meinte. Sein Gehirn ist langsamer geworden.«
»Das merkt er wahrscheinlich selbst, und weil es ihm unangenehm ist, streitet er es ab, ach, der arme Onkel! Wäre ich doch jetzt bei euch! Sag Signor Mader, er soll ihn bis zur Untersuchung noch genauer beobachten und kontrollieren!« Sofort übernahm Irma wieder das Kommando, selbst aus dem hintersten Winkel von Sizilien wusste sie, was zu tun war. Valentina musste gegen ihren Willen lächeln.
»Das macht er doch schon. Aber um ein Haar wäre das Geld weg gewesen. Für irgendeinen großen Auftrag in Bremerhaven brauchen sie Bargeld.«
»Wer will denn heute noch bar bezahlt werden, außer der Mafia? Und selbst denen kannst du das Schutzgeld inzwischen überweisen.« Sie lachte. Immer lachte sie.
»Keine Ahnung. Die Chinesen?«
»Stimmt, die Chinesen. Bei meinem kann ich das Gemüse auch nicht anschreiben lassen.« Wieder lachte sie. »Ich rede mit zio Enzo, keine Sorge, wir werden etwas finden, damit es ihm besser geht!«
Jaja, rede mit deinem Onkel, dachte Valentina, wo war der überhaupt gerade, sprach er etwa schon mit Eric über sie beide? Sie musste so schnell wie möglich dazwischen.
»Überleg doch noch mal, vielleicht kannst du nur für ein Wochenende herfliegen, ich würde dir so gerne endlich alles zeigen!«, bat Irma erneut. Sie nickte, stumm auf ihren nächsten Satz wartend, der prompt kam.
»Und ihn habe ich lange nicht gesehen. Keine Angst, du wirst ihm nicht begegnen, er arbeitet gerade in Apulien. Bari, da restaurieren sie diese ganz bekannte Kirche, wie heißt die noch mal? Siehst du, jetzt fange ich auch schon an, Sachen zu vergessen ...!«
»Ich habe keine Angst«, sagte sie, doch sie wussten beide, dass das nicht stimmte. Schnell legte Valentina auf, schnappte sich das Kuchentablett und machte sich auf die Suche nach Eric und ihrem Vater.
Sie hatte Glück, Eric stand alleine auf dem Hof herum. Sie stieg mit ihm die Treppe hinauf, am Marmorkontor vorbei, schloss die Wohnungstür auf und ließ ihn in den Flur treten. Seit Irma vor zwanzig Jahren das Regiment übernommen hatte, war hier oben einiges von ihr verändert worden. Und obwohl sie nun schon seit neun Jahren wieder auf Sizilien lebte, konnte man ihre Spuren noch überall erkennen. Statt der hellgrauen, harten Couch mit dem kratzigen Bezug, an die Valentina sich noch gut erinnerte, gab es im Wohnzimmer ein Blumensofa, in dem man versank. Dazu zwei tiefe Sessel, in denen sie damals mit angezogenen Beinen, unbehelligt von Irmas täglichem Hausputz, herumlungern und lesen durfte. Die ehemaligen Teppichböden der Schlafzimmer waren herausgerissen worden, Teppiche seien Staubfänger, also unhygienisch, behauptete Irma. Sie überredete ihren Onkel Enzo, alles mit glänzend hellen Marmorfliesen auszulegen, die sie ständig voller Inbrunst nass aufwischte. Hier und da lagen kleine Teppiche oder Läufer herum, die von ihr alle paar Tage ganz altmodisch über die Balkonbrüstung gehängt und mit einem Klopfer energisch bearbeitet wurden, obwohl es natürlich einen Staubsauger gab. Überhaupt, das Putzen. Obwohl sie nie ein Wort darüber verlor, ahnte Valentina als Kind, dass Irma die Haushaltsführung ihrer Oma, die vor ihrem plötzlichen, friedlichen Tod auf dem Donaudampfer für sie alle gesorgt hatte, mehr als ungenügend empfand.
»Staubmäuse!?«, sagte Irma gern, wobei sie den Umlaut genüsslich trennend in die Länge zog. »Staubmäuse kenne ich gar nicht auf Italienisch, die gibt es bei uns nicht!« Erstaunt hatte Valentina zugeschaut, wie Irma ihre verfärbten Unterhemden unter Zuhilfenahme einer Menge Chemie wieder weiß bleichte, wie sie ihre Pullover zusammenlegte und unnachahmlich schön auf Kante faltete, wie sie am Küchentisch saß und Berge von kleinen Zwiebelchen einlegte und abends noch geduldig die Löcher in ihren und Papas Socken stopfte.
»Ich setze eben den Espresso auf«, sagte sie zu Eric, der die zahlreichen Bilder im Flur betrachtete. Irma liebte vergoldete Bilderrahmen, sie hatte Valentinas jährliche Porträtfotos aus der Grundschule und bis dahin eher unbeachteten Malergebnisse aus dieser Zeit gerahmt. Weiß der Himmel, wo sie die alten, verschnörkelten Rahmen aufgetrieben hatte. Die Werke von damals hingen immer noch dicht nebeneinander.
»Wie nennen die dich hier? Titti-Na? Hey, kleine Titti- Na, na, kleine Titti-Na? Das ist ziemlich lustig!«
Humor ist angeblich sehr wichtig in einer Beziehung, dachte Valentina und wandte sich in Richtung Küche. »Es heißt Titìna!«, rief sie, »mit Betonung auf der zweiten Silbe. »Von Valentina, nicht von was anderem ...«
»Könnte aber doch auch sein, klein genug sind sie ja dafür.« Er lachte in sich hinein.
»Papa, wir wollten dir etwas sagen«, begann Valentina, nachdem sie alle im Wohnzimmer Platz genommen hatten, die Tassen voller Milchkaffee, die Teller mit Apfelkuchen und Sahne überladen. Ihr Vater mochte das deutsche Kaffee- und Kuchenritual sehr, und nun war es vollbracht: Nach diesem Satz konnte sie wirklich keinen Rückzieher mehr machen, jetzt würde er es erfahren.
»Jasper, was für ein Name ist das denn, bedeutet der irgendwas?«, fragte Enzo auf Italienisch und zeigte mit dem Kopf erst auf Eric, dann auf seine Tochter. »Willst du etwa auch so heißen?!«
»Ach, Papa, das ist unhöflich, lass uns doch Deutsch reden ...« Valentina zog mit den Gabelzinken Furchen durch die Schlagsahne und hätte bei aller Verlegenheit fast erleichtert aufgelacht. Er hatte durchschaut, warum sie hier waren, und er hatte sich Jasper merken können! Vielleicht waren ihre Befürchtungen doch übertrieben: dass er sich demnächst nicht mehr an ihre Bücher erinnern würde, dass er möglicherweise in wenigen Monaten Mühe hätte, ihr Gesicht zu erkennen. Dass sie bald keinen Vater mehr hätte, geistig nicht mehr anwesend, entschwunden. Wahrscheinlich alles nur falscher Alarm. Schimpf weiter, Papa, schimpf einfach weiter, dachte sie, und bleib, wie du immer warst, tu mir den Gefallen.
»Gut, sage ich noch mal auf Deutsch: Willste du etwa auch so heißen?«
»Herr Vitale, es ist ja so«, mischte Eric sich ein. Neben seinen Arztklamotten fand Valentina auch seine Arzt stimme ziemlich erotisch, obwohl sie das vor ihm nie zugeben würde. »Wir werden ja erst mal zusammenleben und nicht gleich heiraten!«
»Natürlich werdet ihr heiraten, bevor ihr zusammenlebt! Was iste sonst? Mal die Frau ausprobieren und dann wieder zurückgeben?!« Ihr Vater sprang auf. Herr Mader betrachtete aufmerksam eine dicke Rosine, die aus dem Kuchenstück auf seinen Teller gefallen war.
»Nun, etwas mehr als ausprobieren ist es ja schon, wir beteiligen uns beide an dieser Wohnung, über die wir auch noch sprechen sollten, mit einer nicht unbeträchtlichen Summe, auch wenn Ihre Tochter zunächst weniger beiträgt ...« Papa guckte mit zusammengekniffenen Augen und gleichzeitig hochgezogenen Brauen verächtlich in die Runde. Wenn er das tat, erinnerte er Valentina immer an Robert de Niro.
»Ah? Alles schon ausgedacht, was? Das Geld willste du also auch noch? Valentina, dass DU so etwas tust, meine Tochter ...!« Er rannte hinaus. Die drei blieben zurück wie Schauspieler auf einer Bühne, die keinen Text mehr hatten. Valentina schaute in die Runde. Gleich würde er wieder hereingestürmt kommen. Und da war er auch schon.
»Habe ich mir immer so gewünscht, dich in die weiße Kleid vor den Altare zu bringen. Meine liebe Tochter zu verheiraten, war immer meine Wunsch, aber was machste du? Gehst einfach davon! Ist nicht richtig! Ist das niemals richtig!« Wieder rannte er aus dem Zimmer. Valentina atmete tief durch. Das Spiel würde sich jetzt noch ein paarmal wiederholen, bis er sich endlich beruhigte. Gleich war sein nächster Auftritt dran. Er würde von der Mitgift reden, il corredo, ein Wort, das sie schon seit Kindertagen kannte. Papa hatte ihr schon als Fünfjähriger erklärt, dass sie eigentlich jede Menge hübsche Handtücher, bestickte Tischdecken und Bettlaken erwarten könne. Aber die Mama - ein strafender Seitenblick auf Martina folgte garantiert, falls sie in der Nähe war -, die Mama würde das ja nicht wollen. Immer seufzte er auch an dieser Stelle, um ihr dann von der schönen Summe zu erzählen, die auf sie warte, wenn sie mal heiraten würde, extra für sie angespart, für seine einzige Tochter, die er nur einem guten Mann geben würde.
Jetzt war ein guter Mann hier, und Papa zierte sich. Er brauchte sicher noch etwas Zeit, um es zu erkennen. Valentina stand auf, lächelte in die Runde und ging, um nach ihm zu schauen. Sie traf ihn in der Küche, er saß am Tisch und streichelte mit der Hand über die Tischdecke, die Irma vor Jahren aus Sizilien mitgebracht hatte. Ein Kunstwerk aus Stickerei, das ungestärkt und nicht einwandfrei gebügelt über dem Tisch lag. Valentina starrte ihn an. Ihre Augen trafen sich. Seine waren gar nicht so wütend, wie sie erwartet hatte. Sondern fast bittend. Betrübt. Später würde sie sehr oft an diesen Blick denken müssen. Doch in diesem Moment dachte sie nur: Nein! Den Gefallen tue ich dir jetzt nicht. Du wirst schön wieder reinkommen und dort die Sache besprechen.
»Hat Irma gemacht.« Seine Stimme war nur ein Flüstern. Na und? Was willst du mir jetzt damit sagen? Dass Irma besser sticken und bügeln kann als ich und umweltschädliches Stärkespray benutzt? Sie drehte sich um, ging zurück ins Wohnzimmer, setzte sich mit verschränkten Armen in ihren Sessel und wartete.
Doch der nächste Auftritt kam nicht. Eric begann von einem Film zu reden, den Valentina nicht kannte. Was hatte Ein Käfig voller Narren jetzt mit dieser Situation zu tun?
Herr Mader aß seinen Kuchen auf und sagte: »Guter Kuchen.«
Und dann, nach einer Weile: »Jetzt müsste er aber mal wiederkommen.«
Und schließlich standen sie auf und suchten nach ihm.
Valentina fand ihn im Schlafzimmer vor seinem Einzelbett, das klein und verloren in dem großen Raum stand. Vor Jahren, als deutlich wurde, dass seine Frau, Valentinas Mutter, nicht beabsichtigte zurückzukommen, hatte er die andere Hälfte des Ehebetts abmontiert und im Hof zerschreddert. Jetzt kniete er davor, den Oberkörper auf die Matratze gelegt, und im ersten Moment dachte sie, er würde beten. Doch ihr Vater war kein Mensch, der sich zum Beten niederkniete.
»Papa?!« Er rührte sich nicht. Valentina hockte sich ängstlich neben ihn. Ihr ganzes Leben lang hatte sie zu vermeiden gewusst, ihn so böse zu machen, vielleicht war sie ihm deswegen nie richtig nahegekommen. Und nun hatte sie es doch getan. Als sie ihn zaghaft an der Schulter berührte, rutschte er in ihre Arme, jetzt war er ihr wirklich nahe und warf sie fast um.
»Papa! Papa, was machst du denn, mein Gott ...?«
Auf dem Boden sitzend, seinen Kopf in ihrem Schoß, streichelte sie ihm hilflos über seine kalte, schweißige Stirn. Seine Augen waren geschlossen. Sie hörte jemanden nach ihr rufen, dann Erics schwere Schritte, die die Treppe heraufkamen. Er würde wissen, was zu tun war!
»Ich möchte endlich ...«, sagte ihr Vater und öffnete die Augen.
»Was möchtest du endlich?«, flüsterte sie auf seinen Kopf hinab.
»... wieder nach Hause.« Dann schloss er die Lider. Und starb.
Die nächsten Tage waren vielleicht die unwirklichsten ihres Lebens, aber nicht die traurigsten. Rang eins der traurigsten Tage meines Lebens ist schon besetzt, ebenso wie Rang zwei, dachte sie beinahe wütend. Papas Tod muss sich hinten anstellen, ich habe schon zu viel erlebt, und außerdem gibt es einfach zu viel zu tun.
Weinen konnte sie auch nicht. Sie wusste, sie hätte weinen müssen, als ihr Blick auf seine Jacke an der Garderobe fiel, dann auf sein bläuliches Rasierwasser im Bad und auf die an ihn adressierten Briefumschläge im Briefkasten, als ob sich nichts geändert hätte. Selbst beim Anblick seines Bettes, der Stelle davor, auf der er gelegen hatte - nichts. Sie war gefühllos, ›wie aus Kork‹, hätte Papa es auf Italienisch ausgedrückt. Ruhig. Seltsam gelassen. Neutral.
Nach und nach dämmerte ein Gedanke in ihr auf, der ihr bisheriges Denken lähmte. Über fünfzehn Jahre lang, also mehr als die Hälfte ihres Daseins, hatte sie ihr Leben vor ihrem Vater verborgen. Nun bestand kein Grund mehr dazu. Jede Heimlichtuerei, jedes Versteckspiel war unnötig geworden. Sie fühlte sich leer. Warum hatte sie nie ernsthaft mit ihm geredet, ihm zugehört, ihn über seine Familie ausgefragt? Warum war sie so schrecklich weit weg von ihm gewesen? Sie verstand die Person, die sie vor seinem Tod gewesen war, auf einmal nicht mehr.
Umso besser, dass es praktische Dinge gab, die erledigt werden, Listen, die abgearbeitet, Prioritäten, die gesetzt werden mussten. Der Autopsiebefund des Krankenhauses musste abgeholt werden. Jemand hatte sich die Mühe gemacht herauszufinden, woran Vincenzo Vitale, von allen Enzo gerufen, gestorben war. Herzversagen hatte der herbeigerufene Notarzt ausgeschlossen. Das Ergebnis nicht wenigstens wissen zu wollen, kam Valentina irgendwie niederträchtig vor. Obwohl es sie nicht interessierte, da sowieso alles zu spät war. Die Krankenversicherung musste informiert werden. Wo war Papas Heiratsurkunde? Das Familienstammbuch? Wo die Scheidungspapiere? Sie musste nach dem Testament suchen, bezweifelte allerdings, dass ihr Vater überhaupt eins gemacht hatte. Gab es eine Lebensversicherung? Eine Sterbeversicherung? Leben, Tod und Gesundheit, alles konnte man versichern, ging ihr durch den Kopf, warum dann nicht auch Glück, Liebe und Zufriedenheit? Oder gleich eine Versicherung gegen Trennung, schlechtes Gewissen, Lügen und den Unsinn, den man den ganzen Tag lang dachte.
Eric sagte den Kongress in Wiesbaden ab, um bei ihr zu sein, er redete von typischen Stresssymptomen, die angeblich schuld daran waren, dass sie nicht weinen konnte. Herr Mader stand immer noch unter Schock, er blieb einen Tag zu Hause. Valentina schrieb ihrer Mutter eine Mail nach Kanada und weinte nicht. Auch als keine Antwort kam. Sie rief Irma an und weinte nicht, obwohl Irma schon bei ihrem ersten, stockenden »Papa è ...« anfing zu schreien und zu schluchzen und sich gar nicht mehr beruhigen konnte. Ein paar Stunden später rief sie allerdings wieder an und faxte ihr die Kopie der Urkunde, die ihren Vater als Besitzer einer Grabstelle auswies. Das deutsche Bestattungsinstitut würde garantiert danach verlangen, erklärte sie in dem anschließenden Telefonat.
Irma übernahm also die Leitung. Den Transfer vom Flughafen mit einem Bestattungsinstitut aus Camaro, die Aufbahrung zu Hause bei einem Bruder ihres Vaters, die Organisation des Trauergottesdienst in der Chiesa Santa Maria della Pietà; Irma hatte sich zu allen Details schon Gedanken gemacht. Valentina war das nur recht, bereitwillig ließ sie ihr den Vortritt.
Eric kümmerte sich um Valentina. Immer wenn er meinte, sie würde es nicht merken, betrachtete er sie prüfend. Er bot ihr Medikamente an. Etwas Beruhigendes, etwas zum Schlafen, etwas ganz Leichtes, etwas Pflanzliches. Etwas, um die Stimmung ein wenig aufzuhellen?
»Hast du etwas, um die letzten zwei Tage rückgängig zu machen? Zwei Tage? Das würde mir schon reichen!«
»Valentina. Gegen die intrakranielle, extrazerebrale Blutung in seinem Gehirn hättest du auch vor zwei Tagen nichts tun können. Sein hoher Blutdruck hat das Unvermeidliche nur ein wenig beschleunigt.«
»Aha. Dann möchte ich nichts.«
Daraufhin kochte er fortwährend Tee. Kamille, Hagebutte, Pfefferminz. Was er in der Küche so fand. Er ließ ihr Vollbäder ein, brachte Wärmflaschen, weil sie dauernd fror. Er wollte sogar mit ihr in ihrem Zimmer übernachten, doch das konnte sie Papa, der in der Pathologie in der Kreisstadt lag und nun nicht mehr in der Lage war, sein Veto einzulegen, nicht antun.
Schon vierundzwanzig Stunden nach seinem plötzlichen Tod reagierte sie nervös auf alles, was Eric vorschlug, und bat ihn zu gehen, sie käme schon alleine klar. Unverzüglich rief er einen befreundeten Kollegen an, und obwohl sie weghörte, verstand sie die Worte »posttraumatische Belastungsstörung« und »Squash«. Sie war erleichtert und verletzt zugleich.
Aber sie weinte nicht, auch nicht, als sie das Testament ihres Vaters am nächsten Morgen in einem Aktenordner im Büro fand. Das Datum war vom 2. November des letzten Jahres, es war in seiner Handschrift auf Italienisch geschrieben und begann mit zwei Worten: Figlie mie! Meine Töchter!
Meine Töchter!? Sie sah sich selbst dabei zu, wie sie bewegungslos dasaß, sie sah das Blatt Papier in ihren Händen, das nicht zitterte. Ihr war nicht heiß, nicht kalt, auch keine Schauer, die über ihren Rücken liefen. Nichts.
Meine Töchter! Bitte verzeiht! Ich habe in meinem Leben einige Entscheidungen getroffen, die vielleicht nicht richtig waren, doch wenn der Herr mich zu sich ruft, will ich gerüstet sein. An Dich, meine geliebte Irma, sollen alle Güter auf Sizilien gehen. Für Dich, Valentina, mein Schatz, wird die Firma und unser Haus in Deutschland sorgen, da Dir beides jetzt nach meinem Tod sowieso gehört. Meine Geschwister sollen mich, wie es bei uns Sitte ist, in unser kleines Mausoleum in Camaro begleiten. Ich liebe Euch!
Euer Vater
(Vincenzo Vitale)
Meine Töchter. Irma. Geliebte Irma. Euer Vater. Die Worte wiederholten sich wie eine Endlosschleife in Valentinas Hirn, als würde sie nie wieder etwas anderes denken können. Was machte das für einen Sinn? Irma? Ihre Cousine war gar nicht ihre Cousine? Sondern ihre Schwester? Aber wer war dann der Mann auf dem Foto, das in Irmas Zimmer in einem Silberrahmen auf der Kommode gestanden hatte? Und mit dem sie irgendwann einmal, vor Lichtjahren, zu Weihnachten ein paar verlegene Worte gewechselt hatte? Irma war nicht ihre Cousine ... Sie fühlte eine riesige Welle der Wut auf sich zurollen. Wenn das stimmte ... Wenn das stimmte, dann hatte er sie jahrelang angelogen! Wer war sie denn, dass man das mit ihr machen konnte?! Wer war dann Irmas Mutter? Und Irma? Hatte sie davon gewusst? Oder war sie auch von ihm angelogen worden? Ein Onkel, der in Wirklichkeit ein Vater war. Konnte das sein? Valentina merkte, wie ihre Welt immer mehr in einzelne Puzzlestücke zerfiel, die sie nie mehr zusammenbringen würde, obwohl doch vor ein paar Tagen alles noch zu passen schien. Wieder sah sie ihn in den letzten Minuten seines Lebens in der Küche sitzen. Dieser Blick. ›Hat Irma gemacht!‹ Was war das für ein Blick gewesen? Mittlerweile empfand sie ihn nicht mehr als betrübt oder bittend, sondern als vorausahnend, grüblerisch.
Als das Telefon klingelte, nahm sie automatisch ab.
»Dr. Schönemann, Pathologie der städtischen Kliniken. Der Leichnam ist jetzt freigegeben, Sie können ein Bestattungsunternehmen beauftragen ...« Er nannte ihren Vater Leichnam, als ob er nicht mehr als ein toter Körper sei. Aber er ist ein toter Körper, sagte sie sich, nichts von ihm ist mehr da drin. Nichts von ihm. Er hat nur seine Hülle zurückgelassen, kalt und starr. Und seine Lügen.
»Gut. Danke.« Sie legte auf. Alles Lebende von ihm auf dieser Welt ist nur noch in mir, dachte sie. In meinen Erinnerungen, in meinen Genen. Und vielleicht auch in Irmas Genen? Unfassbar. Unverschämt. Er lässt mich damit allein, schreibt einfach dieses dumme Papier. Sie überflog es in ihrer Wut noch einmal.
»Meine Töchter! Ha!«, rief sie in den Raum. Und: »Euer Vater! Euer Vater, wo warst du denn, du Vater?« Jetzt schrie sie. Es tat gut, ihn anzuschreien. »Ich liebe Euch. Uns? Mich? Irma hat dich immer Onkel genannt! Entweder bist du nur ein großer Lügner, zio Enzo, oder sie lügt auch, oder ...«
Sie versuchte Irma anzurufen, doch es war besetzt. Festnetz. Handy. Stundenlang.
Ihre Wut breitete sich immer weiter aus, verwandelte ihren Magen in einen harten Klumpen und ließ ihren Nacken starr werden. Na warte, dachte sie, na warte, ihr könnt mich nicht alle ein Leben lang verarschen, damit ist jetzt Schluss! Mit wenigen kurzen Handbewegungen hatte sie das Blatt zerrissen, einmal längs, einmal quer, noch mal quer, bis nur noch quadratische Papierfetzen auf der marmornen Platte des Tresens übrig blieben. Mit dem Kleeblattfeuerzeug, das sie ihrem Vater aus Dublin mitgebracht hatte, versuchte sie die Reste abzufackeln. Sie brannten widerwillig, nur der helle Marmor schwärzte sich. Irgendwann war es geschafft, der Tresen war von zarten Ascheflocken übersät, eine davon schwebte zu Boden, ein schwarzer Schmetterling, auf dem Weg in die Hölle.
»Da hast du deine Töchter, deine geliebte Irma, deine figlie mie!« Valentina hieb auf die übrigen Flocken ein. Als sie ihre Faust endlich wieder öffnete, klebten die winzigen Partikel schwarz an ihrer Handkante.
Herr Mader erschien am späten Nachmittag, er hatte seinen anthrazitfarbenen Anzug gegen einen schwarzen ausgetauscht, weißes Hemd, schwarze Krawatte, bereit für eine Beerdigung. Er weinte, als er Valentina mit dem Kopf auf der Tischplatte von Enzos Schreibtisch sitzen sah. Ihre Wut war verraucht, in der Asche aufgegangen, und das Entsetzen über ihre Tat wuchs. Mein Gott, was hatte sie getan? Sie hatte ein Dokument zerstört und entschieden, sich nicht nach dem Willen ihres Vaters zu richten. Aber gab es womöglich irgendwo eine Kopie?
»Gibt es einen Notar, bei dem er etwas hinterlegt haben könnte?«, fragte sie Herrn Mader.
»Soviel ich weiß, macht die Kanzlei Heetmeier nur die geschäftlichen Sachen für uns. Soll ich dort mal für dich anrufen?«
»Ja bitte.« Sie war ihm dankbar für diesen Anruf, denn ihre Stimme würde bestimmt zittern bei der Frage nach einem Testament.
© 2011 sowie dieser Ausgabe 2013 by Diana Verlag, München
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Autoren-Porträt von Stefanie Gerstenberger
Stefanie Gerstenberger, 1965 in Osnabrück geboren, studierte Deutsch und Sport, bis sie erkannte, dass sie keine Lehrerin werden wollte. Nach einem Wechsel in das Hotelfach lebte und arbeitete sie auf Elba und Sizilien, in der Karibik und in San Francisco. Während der folgenden Jahre als Requisiteurin für Film und Fernsehen musste sie viele Drehbücher lesen und begann selbst zu schreiben. Ihr erster Roman "Das Limonenhaus" wurde von der Presse hoch gelobt und auf Anhieb ein großer Erfolg, gefolgt von ihrem zweiten Roman "Magdalenas Garten". Heute lebst sie mit ihrer Familie in Köln.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stefanie Gerstenberger
- 2013, Erstmals im TB, 448 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Diana
- ISBN-10: 3453357264
- ISBN-13: 9783453357266
- Erscheinungsdatum: 09.08.2013
Rezension zu „Oleanderregen “
"Stefanie Gerstenbergers bewegender Familienroman bietet Stoff für eine Hollywoodverfilmung!"
Pressezitat
"Stefanie Gerstenbergers bewegender Familienroman bietet Stoff für eine Hollywoodverfilmung!" Freundin
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