In kalter Absicht / Yngvar Stubø Bd.1
Psychologin und ''Profilerin'' Inger Vik entdeckt Verbindungen zu einem früheren Fall.
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Psychologin und ''Profilerin'' Inger Vik entdeckt Verbindungen zu einem früheren Fall.
In kalterAbsicht von Anne Holt
LESEPROBE
1
Sie war auf dem Heimweg von der Schule. Und der Nationalfeiertagrückte näher. Den würde sie zum ersten Mal ohne Mama feiern müssen. Ihre Trachtwar zu kurz. Die Mutter hatte den Rock schon zweimal ausgelassen.
Emilie war nachts von einem bösen Traum geweckt worden. IhrPapa schlief; sie hörte sein leises Schnarchen durch die Wände und hielt sichdie Tracht vor den Leib. Die rote Kante war bis zu ihren Knien hochgekrochen.Sie wuchs zu schnell. Das sagte Papa sehr oft: »Du schießt wie ein Pilz in dieHöhe, mein Schatz.« Emilie fuhr mit der Hand über den Wollstoff, beugte dieKnie und machte einen Buckel. Die Oma sagte es auch immer: »Grete war eineBohnenstange, kein Wunder, daß die Kleine so wächst.«
Durch die verkrümmte Haltung taten Emilies Schultern und Kniebald weh. Ihre Mama war schuld, daß sie so groß war. Die rote Kante würde nurbis zu ihren Knien reichen.
Vielleicht konnte sie um ein neues Kleid bitten.
Ihr Ranzen war schwer. Sie hatte Huflattich gepflückt. Einenso großen Strauß, daß Papa ihr zu Hause eine Vase würde heraussuchen müssen.Die Stengel waren lang, nicht so wie damals, als sie noch klein war und nur dieBlüten abgebrochen hatte, die dann in Eierbechern herumschwimmen konnten.
Sie war nicht gern allein unterwegs. Marte und Silje warenabgeholt worden. Sie hatten nicht gesagt, warum, sie hatten ihr nur aus demWagen von Martes Mutter zugewinkt.
Der Huflattich brauchte Wasser. Einige Blüten hingen schon schlaffüber ihre Finger. Emilie versuchte, den Strauß nicht so fest zu umklammern.Eine Blüte fiel zu Boden, und sie bückte sich, um sie aufzuheben.
»Heißt du Emilie?«
Der Mann lächelte. Emilie schaute sich um. Gerade hier, auf demschmalen Weg zwischen zwei vielbefahrenen Straßen, einer Abkürzung, durch diesie mehr als zehn Minuten schneller zu Hause sein konnte, war sonst kein Menschzu sehen.
Sie murmelte vor sich hin und wich ängstlich zurück.
»Emilie Selbu? Das bist du doch, nicht wahr?«
Nie mit fremden Männern sprechen. Nie mit Unbekannten mitgehen.Zu allen Erwachsenen höflich sein.
»Ja«, flüsterte sie und versuchte sich schnell an ihmvorbeizudrängen.
Der Schuh, der neue Turnschuh mit den rosa Streifen, versanktief in Schlamm und totem Laub. Emilie hätte fast das Gleichgewicht verloren.Der Mann packte sie am Arm. Dann drückte er etwas gegen ihr Gesicht.
Anderthalb Stunden darauf wurde Emilie Selbu bei der Polizeials vermißt gemeldet.
2
»Ich habe nie aufhören können, an diesen Fall zu denken. SchlechtesGewissen, vielleicht. Aber ich war doch damals eine frisch ausgebildeteJuristin, zu einer Zeit, als Mütter von kleinen Kindern gefälligst zu Hause zusein hatten. Viel konnte ich da ja nicht ausrichten.«
In ihrem Lächeln lag eine Bitte, allein gelassen zu werden.Das Gespräch hatte fast anderthalb Stunden gedauert. Die Frau im Bett rang nachAtem, und das starke Sonnenlicht war sichtlich eine Qual für sie. Ihre Fingerkrümmten sich um die Kante der Bettdecke.
»Ich bin erst siebzig«, keuchte sie. »Aber ich komme mir vorwie eine Greisin. Sie müssen das verzeihen.«
Inger Johanne Vik erhob sich und zog die Vorhänge vor. Sie zögerteund drehte sich nicht um.
»Besser?« fragte sie schließlich.
Die alte Dame schloß die Augen.
»Ich habe alles aufgeschrieben«, sagte sie. »Vor dreiJahren. Als ich in Pension ging und dachte, ich ...
Sie hob eine schmale Hand.
»...würde Zeit genug haben.«
Inger Johanne Vik starrte den Ordner an, der neben einem Bücherstapelauf dem Nachttisch lag. Die alte Dame nickte kurz.
»Nehmen Sie ihn. Ich kann jetzt nicht mehr viel tun. Ichweiß nicht einmal, ob der Mann noch lebt. Wenn ja, dann wäre er jetzt...fünfundsechzig. So ungefähr.«
Sie schloß die Augen. Langsam glitt ihr Kopf zur Seite. Ihr Mundöffnete sich ein wenig, und als Inger Johanne Vik sich nach dem roten Ordnerbückte, nahm sie den fauligen Atem wahr. Leise steckte sie den Ordner in ihreUmhängetasche und ging auf Zehenspitzen zur Tür.
»Eins noch, ganz zum Schluß.«
Sie fuhr zusammen und drehte sich zu der alten Dame um.
»Man hat mich gefragt, wie ich so sicher sein kann. Manche haltendas Ganze für die fixe Idee einer alten Frau, die niemand mehr braucht. Ichhabe ja nichts unternommen in all den Jahren, als ... Wenn Sie das allesgelesen haben, dann wäre ich dankbar, wenn Sie ... «
Sie hüstelte. Ihre Augen schlossen sich. Es wurde still.
»Wenn ich was?«
Inger Johanne Vik flüsterte, sie wußte nicht, ob die alteDame eingeschlafen war.
»Ich weiß, daß er unschuldig war. Und ich wüßte gern, ob Siemir zustimmen.«
»Aber ich kann das doch nicht...
Die alte Dame schlug leicht mit der Handfläche gegen den Bettpfosten.
»Ich weiß, was Sie können. Was du kannst. Du interessierstdich nicht für Schuld oder Unschuld. Aber ich interessiere mich dafür. Indiesem Fall ist das so. Und ich hoffe, bei dir wird das auch der Fall sein.Wenn du das alles gelesen hast. Willst du mir das versprechen? Daß duwiederkommst?«
Inger Johanne Vik lächelte kurz. Eigentlich war es nur eine unverbindlicheGrimasse.
3
Emilie war auch früher nicht immer auf direktem Wege nach Hausegekommen. Sie war nie lange ausgeblieben, doch einmal, das mußte gleich nachGretes Tod gewesen sein, hatte er drei Stunden nach ihr suchen müssen. Erhatte überall gesucht. Zuerst ein ärgerlicher Telefonrundruf; er fragteBekannte, Gretes Schwester, die nur zehn Minuten entfernt wohnte und EmiliesLieblingstante war, die Großeltern, die das Kind seit mehreren Tagen nicht gesehenhatten. Er wählte immer neue Nummern, während seine Besorgnis in Angst umschlugund seine Finger die richtigen Tasten verfehlten. Dann lief er durch dieNachbarschaft, zog immer weitere Kreise, seine Angst wurde zu Panik, und erfing an zu weinen.
Sie saß auf einem Baum und schrieb einen Brief an Mama, einengezeichneten Brief, der als Papierflugzeug zum Himmel hinaufgeschickt werdensollte. Er hob sie behutsam vom Ast und ließ das Flugzeug in einem Bogen voneinem steilen Abhang losfliegen. Es glitt im Zickzack hin und her undverschwand über zwei hohen Birken, die sie seither den »Weg zum Paradies« nannten.Danach ließ er sie zwei Wochen lang nicht aus den Augen. Das änderte sich erstnach den Ferien, als der Schulbeginn ihn dazu zwang.
Diesmal war es anders.
Er hatte früher nie die Polizei angerufen; Emilies kürzeresoder etwas längeres Ausbleiben mußte er eben hinnehmen. Aber das hier war etwasanderes. Plötzlich wurde er von Panik überwältigt. Er wußte selbst nicht,warum, aber als Emilie nicht zur normalen Zeit nach Hause kam, rannte er inRichtung Schule los, ohne zu bemerken, daß er unterwegs seinen Pantoffelverlor. Auf dem Weg zwischen den beiden Hauptstraßen lagen ihr Ranzen und ein großerStrauß Huflattich; auf der Abkürzung, die sie sich normalerweise nicht alleinzu gehen traute.
Grete hatte Emilie den Ranzen einen Monat vor ihrem Tod gekauft.Emilie hätte ihn niemals einfach irgendwo liegenlassen. Er hob ihn hoch, einwenig zögerlich, er konnte sich doch irren, der Ranzen konnte einem anderenKind gehören, einem eher achtlosen Kind vielleicht; er hatte Ähnlichkeit mitEmilies Ranzen, und erst als er mit angehaltenem Atem den Deckel geöffnet und dieInitialen auf der Innenseite gesehen hatte, gab es keinen Zweifel mehr. E S.Emilies große, eckige Buchstaben. Es war Emilies Ranzen, und niemals hätte sieihn einfach so liegenlassen.
© Piper Verlag GmbH
Übersetzung: Gabriele Haefs
- Autor: Anne Holt
- 2009, 10. Aufl., 368 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Gabriele Haefs
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 349223917X
- ISBN-13: 9783492239172
- Erscheinungsdatum: 01.06.2003
2.5 von 5 Sternen
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