Hector und die Entdeckung der Zeit / Hector Bd.3
Roman über das Glück
Der junge Psychiater Hector denkt über die Zeit nach: Existiert sie überhaupt, wenn das Vergangene vergangen ist, die Gegenwart augenblicklich Vergangenheit wird und das Zukünftige sich noch nicht ereignet hat? Hector beginnt die Suche...
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Produktinformationen zu „Hector und die Entdeckung der Zeit / Hector Bd.3 “
Der junge Psychiater Hector denkt über die Zeit nach: Existiert sie überhaupt, wenn das Vergangene vergangen ist, die Gegenwart augenblicklich Vergangenheit wird und das Zukünftige sich noch nicht ereignet hat? Hector beginnt die Suche nach der verlorenen Zeit. Er versucht herauszufinden, wie das Unmögliche möglich und ein flüchtiger Moment des Glücks Ewigkeit werden kann.
"Durchzogen mit feinem Humor, lädt die Geschichte dazu ein, sich über den eigenen Umgang mit der Zeit auseinanderzusetzen." (3sat)
"Durchzogen mit feinem Humor, lädt die Geschichte dazu ein, sich über den eigenen Umgang mit der Zeit auseinanderzusetzen." (3sat)
Klappentext zu „Hector und die Entdeckung der Zeit / Hector Bd.3 “
François Lelords Bücher »Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück« und »Hector und die Geheimnisse der Liebe« eroberten die Herzen der Leser und die Bestsellerlisten. Hier schickt er seinen Helden in ein neues Abenteuer, und dieses Mal gelingt es Hector, etwas äußerst Flüchtiges einzufangen: die Zeit, die uns Tag für Tag davoneilt. Hector fragt sich: Existiert die Zeit überhaupt, wenn das Vergangene vergangen ist, die Gegenwart augenblicklich Vergangenheit wird und das Zukünftige sich noch nicht ereignet hat?
Lese-Probe zu „Hector und die Entdeckung der Zeit / Hector Bd.3 “
Hector und die Entdeckung der Zeit von François Lelord LESEPROBE
Es war einmal ein junger Psychiater namens Hector.
Eigentlich war er kein ganz junger Psychiater mehr, aber Vorsicht, ein alter Psychiater war er eben auch noch nicht! Von weitem hätten Sie ihn für einen jungen Mann halten können, der seinen Doktortitel noch nicht erworben hatte, aber aus der Nähe erkannten Sie besser, daß er bereits ein richtiger Doktor mit einer gewissen Erfahrung war.
Als Psychiater hatte Hector eine sehr wichtige Eigenschaft: Wenn man mit ihm sprach, wirkte es immer so, als würde er viel nachdenken über das, was man ihm erzählte. Die Leute, die in seine Sprechstunde kamen, mochten ihn dafür sehr, denn sie hatten den Eindruck, daß er über ihren Fall nachsann (was auch fast immer stimmte) und das Mittel herausfinden würde, mit dem es ihnen wieder besser ging. Zu Beginn seiner Karriere hatte sich Hector beim Nachdenken den Schnurrbart gezwirbelt, aber jetzt trug er keinen mehr. Als debütierender Psychiater hatte er sich einen wachsen lassen, um älter auszusehen, und heute war das nicht mehr nötig, weil er eben kein wirklich junger Psychiater mehr war. Die Zeit war, wie man so sagt, nicht spurlos an ihm vorübergegangen.
An den Möbeln seines Sprechzimmers allerdings war sie durchaus ein bißchen vorübergegangen, denn Hector hatte die Einrichtung seiner Anfänge behalten - mit einer altertümlichen Couch, die ihm von seiner Mutter geschenkt worden war, als er sich niedergelassen hatte, mit hübschen Bildern, die er sehr mochte, und sogar einer kleinen Skulptur, die ihm ein Freund aus dem Land der Eskimos mitgebracht hatte: einem Bären, der sich gerade in einen Adler verwandelte, was bei einem Psychiater ziemlich originell war. Von Zeit zu Zeit, wenn Hector den Patienten zuhörte und sich schon allzulange in
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seinem Sprechzimmer eingezwängt fühlte, blickte er auf den Bären mit den großen Flügeln, die ihm aus dem Rücken wuchsen, und dann träumte er, daß er selbst abheben und davonfliegen würde - aber nur eine kleine Weile, denn schnell kamen ihm Schuldgefühle, wenn er der Person, die da vor ihm saß und von ihrem Unglück erzählte, nicht richtig zuhörte. Hector war nämlich ein gewissenhafter Bursche.
Die meiste Zeit sah er erwachsene Leute, die einen Psychiater zu konsultieren beschlossen hatten, weil sie zu traurig waren oder zu unruhig oder nicht zufrieden mit ihrem Leben. Hector ließ sie reden, stellte ihnen Fragen und gab ihnen manchmal auch kleine Pillen - und oft alles drei zusammen, ein bißchen wie jemand, der mit drei Bällen gleichzeitig jongliert, und mindestens ebenso schwierig ist die Psychiatrie auch. Hector liebte seinen Beruf sehr, zuallererst einmal, weil er oft das Gefühl hatte, nützlich zu sein. Außerdem interessierte ihn fast immer, was seine Patienten ihm erzählten.
Von Zeit zu Zeit sah Hector zum Beispiel eine junge Dame, Sabine, die ihm stets Sachen berichtete, über die er nachdenken mußte. Denn mit Hectors Beruf ist es kurios: Wenn man seinen Patienten zuhört, lernt man eine Menge Dinge, während die Patienten häufig annehmen, man wüßte schon beinahe alles.
Das erste Mal war Sabine in Hectors Sprechstunde gegangen, weil ihr bei der Arbeit zu viele Emotionen hochkamen. Sabine arbeitete in einem Büro, und ihr Chef war nicht nett zu ihr, er brachte sie oft bis an den Rand der Tränen. Zum Weinen versteckte sie sich selbstverständlich immer, aber ganz schön ärgerlich war es trotzdem.
Nach und nach ließ Hector das Gefühl in ihr entstehen, daß sie vielleicht etwas Besseres verdient hatte als einen unnetten Chef, und Sabine gewann genügend Selbstvertrauen, um sich eine neue Stelle zu suchen, und jetzt war sie glücklicher.
Allmählich hatte sich Hectors Arbeitsweise gewandelt. Zu Beginn hatte er den Leuten vor allem helfen wollen, ihren Charakter zu ändern. Das tat er natürlich immer noch, aber jetzt versuchte er ihnen auch zu helfen, ein neues Leben zu finden, das besser zu ihnen paßte. Denn - um einen schönen Vergleich anzustellen - wenn Sie eine Kuh sind, werden Sie es niemals schaffen, sich in ein Pferd zu verwandeln, selbst mit einem guten Psychiater nicht, und es wäre besser, Sie fänden eine hübsche Weide an irgendeinem Fleck, wo man Milch braucht, statt immerfort zu versuchen, auf der Pferderennbahn herumzugaloppieren. Und vor allem sollten Sie keine Stierkampfarena betreten, denn so etwas ist immer eine Katastrophe.
Sabine wäre nicht besonders erfreut gewesen, wenn man sie mit einer Kuh verglichen hätte, die doch ein sanftmütiges und sympathisches Tier ist und außerdem, wie Hector schon immer gedacht hatte, eine sehr gute Mutter. Man muß dazu sagen, daß Sabine auch sehr intelligent war, und bisweilen machte sie das nicht froh, denn wie Sie vielleicht selbst schon bemerkt haben, bedeutet Glück manchmal, daß man nicht alles begreift.
Eines Tages meinte Sabine zu Hector: »Manchmal sage ich mir, daß das Leben ein einziger Betrug ist.«
Hector schreckte hoch.
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte er. (Das waren seine üblichen Worte, wenn er es beim ersten Mal nicht richtig verstanden hatte.)
»Na ja, man wird geboren, muß sofort funktionieren, in die Schule gehen, arbeiten, Kinder kriegen, und dann sterben einem die Eltern weg, und wutsch, schon wird man selber alt, und es ist vorbei.«
»Aber das dauert immerhin eine gewisse Zeit, nicht wahr?«
»Ja, aber es geht alles so schnell vorüber. Vor allem, wenn man nie Zeit hat, mal richtig innezuhalten. Ich zum Beispiel - tagsüber der Job, abends die Kinder und mein Mann. Und auch er kommt nie zum Atemholen, der Ärmste.«
Sabine hatte einen netten Ehemann (einst hatte sie auch einen netten Vater gehabt, was die Chancen erhöht, gleich beim ersten Versuch einen netten Mann zu finden). Er arbeitete eine Menge, und zwar ebenfalls in einem Büro, und dann hatten sie noch zwei kleine Kinder, von denen das eine gerade in die Schule gekommen war.
»Ich habe immer das Gefühl, mir würde eine Uhr im Bauch stecken«, sagte Sabine. »Morgens muß ich alles vorbereiten, dann rechtzeitig loskommen, um die Kleine zur Schule zu bringen, danach flitze ich ins Büro, und es gibt Sitzungen, zu denen man pünktlich erscheinen muß, während sich die restliche Arbeit immer mehr anhäuft, und auch abends muß ich mich beeilen, das Kind abholen oder pünktlich dasein, wenn das Kindermädchen Schluß hat, und dann ist das Abendessen zuzubereiten, und die Hausaufgaben sind durchzusehen, und dabei gehöre ich ja noch zu den Glücklichen, denn mein Mann hilft mir. Spät am Abend haben wir gerade noch ein paar Augenblicke Zeit, miteinander zu reden, und dann schlafen wir sofort ein, weil wir so erledigt sind.«
Hector wußte das alles, und vielleicht war dies auch ein wenig der Grund gewesen, weshalb er eine Menge Zeit damit verbracht hatte, darüber nachzudenken, ob man es nicht in Erwägung ziehen könnte, es sich vielleicht einmal zu überlegen, ob man sich dafür entscheiden sollte, allen Ernstes daran zu denken, sich zu verheiraten und Babys in die Welt zu setzen.
»Ich wünschte mir, die Zeit würde langsamer verrinnen«, sagte Sabine. »Ich möchte Zeit haben, das Leben auszukosten. Zeit für mich selbst, um all das machen zu können, was mir vorschwebt.«
»Und wie ist es im Urlaub?« fragte Hector.
Sabine lächelte.
»Sie haben keine Kinder, nicht wahr?«
Hector gab zu, daß er tatsächlich kinderlos war, vorläufig jedenfalls.
»Ich glaube, letzten Endes komme ich auch deshalb in Ihre Praxis«, sagte Sabine. »Diese Konsultation ist der einzige Augenblick, an dem der Zeiger für mich stillsteht und die Zeit voll und ganz mir gehört.«
Hector verstand Sabine gut, um so mehr, als auch er während des Arbeitstages oft den Eindruck hatte, eine Uhr im Bauch zu tragen - und all seinen Kollegen erging es ebenso. Wenn Sie Psychiater sind, müssen Sie immerzu auf die Zeit achten, denn wenn Sie einen Patienten zu lange reden lassen, sitzt im Wartezimmer schon der nächste und wird ungeduldig, und dann geraten Sie mit allen restlichen Terminen in Verzug. (Manchmal war es sehr schwierig, denn es konnte passieren, daß drei Minuten vor Ende der Konsultation, gerade in dem Moment, wo Hector in seinem Sessel hin- und herzurutschen begann, um anzudeuten, daß die Zeit gleich vorüber war, die Person ihm gegenüber plötzlich sagte »Doktor, im Grunde glaube ich, daß meine Mutter mich niemals geliebt hat« und daraufhin in Tränen ausbrach.)
Die Uhr im Bauch, sagte sich Hector. Das war ein Problem für so viele Menschen. Was aber sollte er tun, um ihnen zu helfen?
Ein andermal hörte Hector Fernand zu, einem leicht seltsamen Herrn, der nichts Besonderes an sich hatte, außer daß er keine Freunde besaß. Eine Frau hatte er auch nicht und eine kleine Freundin ebensowenig. Ob das wohl an seiner eintönigen Redeweise lag oder an der Tatsache, daß er ein bißchen wie ein Reiher aussah? Hector wußte es nicht, aber jedenfalls fand er es sehr ungerecht, daß Fernand keine Freunde hatte, denn er war nett und sagte sehr interessante Dinge, wenngleich sie zugegebenermaßen ein wenig bizarr klangen.
Eines Tages sagte Fernand plötzlich: »Wie dem auch sei, Doktor, in meinem Alter bleiben mir eh bloß noch zweieinhalb Hunde.«
»Pardon?« sagte Hector.
Er erinnerte sich, daß sein Patient einen Hund hatte. Eines Tages war Fernand mit ihm in die Praxis gekommen, und es war ein wohlerzogener Hund gewesen, der während der ganzen Konsultation geschlafen hatte. Aber er besaß doch keine zwei Hunde, und noch weniger verstand Hector, was ein halber Hund sein sollte.
»Na ja«, meinte Fernand, »ein Hund lebt so vierzehn, fünfzehn Jahre, nicht wahr?«
Und da begriff Hector, daß Fernand die ihm verbleibende Zeit nach den Leben der Hunde zählte, die er noch als Gefährten würde haben können.
Gleich mußte sich auch Hector daranmachen, die Lebensfrist, die er noch vor sich hatte (die er wahrscheinlich noch vor sich hatte, denn Sie kennen ja weder den Tag noch die Stunde, wie schon vor langer Zeit jemand gesagt hatte, der ziemlich jung gestorben war) - gleich also mußte er seine eigene Lebensfrist in Hundeleben zählen, und er schwankte zwischen drei und vier. Natürlich sagte er sich, daß diese Berechnungen noch kippen konnten, falls die Wissenschaft außergewöhnliche Fortschritte dabei machen sollte, einem das Leben zu verlängern, aber letzten Endes würden sie vielleicht doch nicht kippen, weil man dann wohl auch das Leben der Hunde verlängern würde - und dies, wohlgemerkt, ohne sie nach ihrer Meinung zu fragen.
Hector berichtete seinen Freunden von jener Methode, das eigene Leben nach Hundeleben zu berechnen, und sie reagierten völlig entsetzt: »Aber das ist ja schrecklich!«
»Und außerdem ist es doch sehr traurig, an den Tod seines Hundes zu denken.«
»Genau! Ich werde mir nie wieder einen anschaffen - der Tod unseres kleinen Darius war einfach zu bitter!«
»Du triffst wirklich Leute, die total plemplem sind!«
»Die Zeit in Hunden zählen! Warum nicht gleich in Katzen oder Papageien?«
»Und wenn er zu Hause eine Kuh hätte, würde er in Kühen zählen, oder was?«
Als Hector all seinen Freunden dabei zuhörte, wie sie über Fernands Idee sprachen, begriff er, daß ihnen eine Sache überhaupt nicht gefiel: Wenn man sein Leben in Hunden zählte, erschien es gleich viel kürzer. Zwei, drei oder vier Hunde, selbst fünf - das verschafft uns nicht gerade den Eindruck, daß wir noch eine lange Spanne Zeit vor uns hätten!
Jetzt verstand er besser, weshalb Fernand den Leuten ein bißchen angst machte mit seiner sonderbaren Sicht auf die Dinge. Hätte er sein Leben in Kanarienvögeln oder Goldfischen gezählt, wäre er womöglich leichter zu Freunden gekommen.
Mit seiner Einsamkeit und seiner bizarren Art hatte Fernand den Finger auf ein wirkliches Problem in Sachen Zeit gelegt. Eine Menge Poeten hatten davon seit jeher gesprochen und Sabine auch: die dahinfliegenden Jahre, die Flucht der Stunden, die zu schnell verrinnende Zeit.
Von Zeit zu Zeit kamen auch Kinder in Hectors Sprechstunde, und dann waren es natürlich die Eltern, die es so beschlossen hatten.
Keine Kinder, die richtig krank waren, sondern eher solche, deren Eltern es schwerfiel, sie zu verstehen, oder auch allzu traurige, allzu ängstliche oder allzu zappelige Kinder.
Eines Tages unterhielt er sich mit einem kleinen Jungen, der amüsanterweise ebenfalls Hector hieß. Petit Hector langweilte sich in der Schule schrecklich, die Zeit schien ihm dort viel zu langsam zu verstreichen, und so hörte er nicht richtig zu und hatte hinterher miese Noten.
Der große Hector fragte den kleinen: »Und was würdest du dir heute von allen Dingen auf der Welt am meisten wünschen?«
Petit Hector brauchte nicht eine Sekunde nachzudenken: »Ich will sofort erwachsen sein!«
Hector war überrascht. Er hatte damit gerechnet, daß Petit Hector antworten würde »Meine Eltern sollen wieder zusammenkommen« oder »Ich möchte bessere Schulnoten haben« oder vielleicht »Ich möchte mit meinen Freunden in den Skiurlaub fahren können«.
Er fragte Petit Hector, weshalb er auf der Stelle erwachsen werden wolle.
»Um selbst zu entscheiden!« antwortete Petit Hector.
Wenn er nämlich jetzt sofort ein Großer wäre, erklärte der kleine Hector weiter, könnte er selbst bestimmen, um wieviel Uhr er schlafen ging, wann er aufstand, wohin er in die Ferien fahren und welche Freunde er sehen wollte; er könnte sich vergnügen, womit er mochte, er brauchte die Erwachsenen nicht zu sehen, die er nicht sehen wollte (die neue Freundin seines Vaters beispielsweise), und er könnte einen richtigen Beruf haben, denn in der Schule zu sitzen war doch kein richtiger Beruf, und außerdem hatte man es sich auch gar nicht ausgesucht, und trotzdem mußte man dort Stunden und Jahre damit zubringen, die Zeit schneckenhaft langsam dahinkriechen zu sehen und sich furchtbar zu langweilen.
Hector dachte, daß sich Petit Hector falsche Vorstellungen vom Erwachsenenleben machte, denn immerhin mußten auch die Großen Dinge tun, die sie nicht gern taten, und Leute treffen, die sie lieber gemieden hätten. Das sagte er ihm aber nicht, denn für den Augenblick war es keine schlechte Sache, wenn Petit Hector von einer glücklichen Zukunft träumte, wo es doch mit seiner Gegenwart nicht so rosig aussah.
Und so fragte er Petit Hector: »Aber wenn du jetzt auf der Stelle ein Erwachsener wärst, würde das doch auch bedeuten, daß du schon eine ganze Menge Jahre hinter dir hättest und daß dir eine kürzere Spanne Leben übrigbliebe. Würde dich das nicht ärgern?«
Petit Hector überlegte.
»Einverstanden - das ist ein bißchen, als wenn man im Videospiel ein Leben weniger hat, ärgerlich ist das schon Aber es verdirbt einem doch nicht den Spaß am Weiterspielen!«
Und dann blickte er Hector an.
»Ärgert es Sie denn, daß Sie schon ein oder zwei Leben weniger haben?«
Und der große Hector sagte sich, daß Petit Hector eines Tages vielleicht Psychiater werden würde.
Wenn sein Arbeitstag zu Ende war, dachte Hector oft an all die Menschen, denen er zugehört hatte und die ihren Kummer mit der Zeit hatten.
Er dachte an Sabine, die die Zeit gern angehalten hätte.
An Fernand, der die Zeit in Hundeleben zählte.
An Petit Hector, der die Zeit beschleunigen wollte.
Und er dachte noch an viele andere
Hector verbrachte immer mehr Zeit damit, über die Zeit nachzudenken.
© Piper Verlag
Übersetzung: Ralf Pannowitsch
Die meiste Zeit sah er erwachsene Leute, die einen Psychiater zu konsultieren beschlossen hatten, weil sie zu traurig waren oder zu unruhig oder nicht zufrieden mit ihrem Leben. Hector ließ sie reden, stellte ihnen Fragen und gab ihnen manchmal auch kleine Pillen - und oft alles drei zusammen, ein bißchen wie jemand, der mit drei Bällen gleichzeitig jongliert, und mindestens ebenso schwierig ist die Psychiatrie auch. Hector liebte seinen Beruf sehr, zuallererst einmal, weil er oft das Gefühl hatte, nützlich zu sein. Außerdem interessierte ihn fast immer, was seine Patienten ihm erzählten.
Von Zeit zu Zeit sah Hector zum Beispiel eine junge Dame, Sabine, die ihm stets Sachen berichtete, über die er nachdenken mußte. Denn mit Hectors Beruf ist es kurios: Wenn man seinen Patienten zuhört, lernt man eine Menge Dinge, während die Patienten häufig annehmen, man wüßte schon beinahe alles.
Das erste Mal war Sabine in Hectors Sprechstunde gegangen, weil ihr bei der Arbeit zu viele Emotionen hochkamen. Sabine arbeitete in einem Büro, und ihr Chef war nicht nett zu ihr, er brachte sie oft bis an den Rand der Tränen. Zum Weinen versteckte sie sich selbstverständlich immer, aber ganz schön ärgerlich war es trotzdem.
Nach und nach ließ Hector das Gefühl in ihr entstehen, daß sie vielleicht etwas Besseres verdient hatte als einen unnetten Chef, und Sabine gewann genügend Selbstvertrauen, um sich eine neue Stelle zu suchen, und jetzt war sie glücklicher.
Allmählich hatte sich Hectors Arbeitsweise gewandelt. Zu Beginn hatte er den Leuten vor allem helfen wollen, ihren Charakter zu ändern. Das tat er natürlich immer noch, aber jetzt versuchte er ihnen auch zu helfen, ein neues Leben zu finden, das besser zu ihnen paßte. Denn - um einen schönen Vergleich anzustellen - wenn Sie eine Kuh sind, werden Sie es niemals schaffen, sich in ein Pferd zu verwandeln, selbst mit einem guten Psychiater nicht, und es wäre besser, Sie fänden eine hübsche Weide an irgendeinem Fleck, wo man Milch braucht, statt immerfort zu versuchen, auf der Pferderennbahn herumzugaloppieren. Und vor allem sollten Sie keine Stierkampfarena betreten, denn so etwas ist immer eine Katastrophe.
Sabine wäre nicht besonders erfreut gewesen, wenn man sie mit einer Kuh verglichen hätte, die doch ein sanftmütiges und sympathisches Tier ist und außerdem, wie Hector schon immer gedacht hatte, eine sehr gute Mutter. Man muß dazu sagen, daß Sabine auch sehr intelligent war, und bisweilen machte sie das nicht froh, denn wie Sie vielleicht selbst schon bemerkt haben, bedeutet Glück manchmal, daß man nicht alles begreift.
Eines Tages meinte Sabine zu Hector: »Manchmal sage ich mir, daß das Leben ein einziger Betrug ist.«
Hector schreckte hoch.
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte er. (Das waren seine üblichen Worte, wenn er es beim ersten Mal nicht richtig verstanden hatte.)
»Na ja, man wird geboren, muß sofort funktionieren, in die Schule gehen, arbeiten, Kinder kriegen, und dann sterben einem die Eltern weg, und wutsch, schon wird man selber alt, und es ist vorbei.«
»Aber das dauert immerhin eine gewisse Zeit, nicht wahr?«
»Ja, aber es geht alles so schnell vorüber. Vor allem, wenn man nie Zeit hat, mal richtig innezuhalten. Ich zum Beispiel - tagsüber der Job, abends die Kinder und mein Mann. Und auch er kommt nie zum Atemholen, der Ärmste.«
Sabine hatte einen netten Ehemann (einst hatte sie auch einen netten Vater gehabt, was die Chancen erhöht, gleich beim ersten Versuch einen netten Mann zu finden). Er arbeitete eine Menge, und zwar ebenfalls in einem Büro, und dann hatten sie noch zwei kleine Kinder, von denen das eine gerade in die Schule gekommen war.
»Ich habe immer das Gefühl, mir würde eine Uhr im Bauch stecken«, sagte Sabine. »Morgens muß ich alles vorbereiten, dann rechtzeitig loskommen, um die Kleine zur Schule zu bringen, danach flitze ich ins Büro, und es gibt Sitzungen, zu denen man pünktlich erscheinen muß, während sich die restliche Arbeit immer mehr anhäuft, und auch abends muß ich mich beeilen, das Kind abholen oder pünktlich dasein, wenn das Kindermädchen Schluß hat, und dann ist das Abendessen zuzubereiten, und die Hausaufgaben sind durchzusehen, und dabei gehöre ich ja noch zu den Glücklichen, denn mein Mann hilft mir. Spät am Abend haben wir gerade noch ein paar Augenblicke Zeit, miteinander zu reden, und dann schlafen wir sofort ein, weil wir so erledigt sind.«
Hector wußte das alles, und vielleicht war dies auch ein wenig der Grund gewesen, weshalb er eine Menge Zeit damit verbracht hatte, darüber nachzudenken, ob man es nicht in Erwägung ziehen könnte, es sich vielleicht einmal zu überlegen, ob man sich dafür entscheiden sollte, allen Ernstes daran zu denken, sich zu verheiraten und Babys in die Welt zu setzen.
»Ich wünschte mir, die Zeit würde langsamer verrinnen«, sagte Sabine. »Ich möchte Zeit haben, das Leben auszukosten. Zeit für mich selbst, um all das machen zu können, was mir vorschwebt.«
»Und wie ist es im Urlaub?« fragte Hector.
Sabine lächelte.
»Sie haben keine Kinder, nicht wahr?«
Hector gab zu, daß er tatsächlich kinderlos war, vorläufig jedenfalls.
»Ich glaube, letzten Endes komme ich auch deshalb in Ihre Praxis«, sagte Sabine. »Diese Konsultation ist der einzige Augenblick, an dem der Zeiger für mich stillsteht und die Zeit voll und ganz mir gehört.«
Hector verstand Sabine gut, um so mehr, als auch er während des Arbeitstages oft den Eindruck hatte, eine Uhr im Bauch zu tragen - und all seinen Kollegen erging es ebenso. Wenn Sie Psychiater sind, müssen Sie immerzu auf die Zeit achten, denn wenn Sie einen Patienten zu lange reden lassen, sitzt im Wartezimmer schon der nächste und wird ungeduldig, und dann geraten Sie mit allen restlichen Terminen in Verzug. (Manchmal war es sehr schwierig, denn es konnte passieren, daß drei Minuten vor Ende der Konsultation, gerade in dem Moment, wo Hector in seinem Sessel hin- und herzurutschen begann, um anzudeuten, daß die Zeit gleich vorüber war, die Person ihm gegenüber plötzlich sagte »Doktor, im Grunde glaube ich, daß meine Mutter mich niemals geliebt hat« und daraufhin in Tränen ausbrach.)
Die Uhr im Bauch, sagte sich Hector. Das war ein Problem für so viele Menschen. Was aber sollte er tun, um ihnen zu helfen?
Ein andermal hörte Hector Fernand zu, einem leicht seltsamen Herrn, der nichts Besonderes an sich hatte, außer daß er keine Freunde besaß. Eine Frau hatte er auch nicht und eine kleine Freundin ebensowenig. Ob das wohl an seiner eintönigen Redeweise lag oder an der Tatsache, daß er ein bißchen wie ein Reiher aussah? Hector wußte es nicht, aber jedenfalls fand er es sehr ungerecht, daß Fernand keine Freunde hatte, denn er war nett und sagte sehr interessante Dinge, wenngleich sie zugegebenermaßen ein wenig bizarr klangen.
Eines Tages sagte Fernand plötzlich: »Wie dem auch sei, Doktor, in meinem Alter bleiben mir eh bloß noch zweieinhalb Hunde.«
»Pardon?« sagte Hector.
Er erinnerte sich, daß sein Patient einen Hund hatte. Eines Tages war Fernand mit ihm in die Praxis gekommen, und es war ein wohlerzogener Hund gewesen, der während der ganzen Konsultation geschlafen hatte. Aber er besaß doch keine zwei Hunde, und noch weniger verstand Hector, was ein halber Hund sein sollte.
»Na ja«, meinte Fernand, »ein Hund lebt so vierzehn, fünfzehn Jahre, nicht wahr?«
Und da begriff Hector, daß Fernand die ihm verbleibende Zeit nach den Leben der Hunde zählte, die er noch als Gefährten würde haben können.
Gleich mußte sich auch Hector daranmachen, die Lebensfrist, die er noch vor sich hatte (die er wahrscheinlich noch vor sich hatte, denn Sie kennen ja weder den Tag noch die Stunde, wie schon vor langer Zeit jemand gesagt hatte, der ziemlich jung gestorben war) - gleich also mußte er seine eigene Lebensfrist in Hundeleben zählen, und er schwankte zwischen drei und vier. Natürlich sagte er sich, daß diese Berechnungen noch kippen konnten, falls die Wissenschaft außergewöhnliche Fortschritte dabei machen sollte, einem das Leben zu verlängern, aber letzten Endes würden sie vielleicht doch nicht kippen, weil man dann wohl auch das Leben der Hunde verlängern würde - und dies, wohlgemerkt, ohne sie nach ihrer Meinung zu fragen.
Hector berichtete seinen Freunden von jener Methode, das eigene Leben nach Hundeleben zu berechnen, und sie reagierten völlig entsetzt: »Aber das ist ja schrecklich!«
»Und außerdem ist es doch sehr traurig, an den Tod seines Hundes zu denken.«
»Genau! Ich werde mir nie wieder einen anschaffen - der Tod unseres kleinen Darius war einfach zu bitter!«
»Du triffst wirklich Leute, die total plemplem sind!«
»Die Zeit in Hunden zählen! Warum nicht gleich in Katzen oder Papageien?«
»Und wenn er zu Hause eine Kuh hätte, würde er in Kühen zählen, oder was?«
Als Hector all seinen Freunden dabei zuhörte, wie sie über Fernands Idee sprachen, begriff er, daß ihnen eine Sache überhaupt nicht gefiel: Wenn man sein Leben in Hunden zählte, erschien es gleich viel kürzer. Zwei, drei oder vier Hunde, selbst fünf - das verschafft uns nicht gerade den Eindruck, daß wir noch eine lange Spanne Zeit vor uns hätten!
Jetzt verstand er besser, weshalb Fernand den Leuten ein bißchen angst machte mit seiner sonderbaren Sicht auf die Dinge. Hätte er sein Leben in Kanarienvögeln oder Goldfischen gezählt, wäre er womöglich leichter zu Freunden gekommen.
Mit seiner Einsamkeit und seiner bizarren Art hatte Fernand den Finger auf ein wirkliches Problem in Sachen Zeit gelegt. Eine Menge Poeten hatten davon seit jeher gesprochen und Sabine auch: die dahinfliegenden Jahre, die Flucht der Stunden, die zu schnell verrinnende Zeit.
Von Zeit zu Zeit kamen auch Kinder in Hectors Sprechstunde, und dann waren es natürlich die Eltern, die es so beschlossen hatten.
Keine Kinder, die richtig krank waren, sondern eher solche, deren Eltern es schwerfiel, sie zu verstehen, oder auch allzu traurige, allzu ängstliche oder allzu zappelige Kinder.
Eines Tages unterhielt er sich mit einem kleinen Jungen, der amüsanterweise ebenfalls Hector hieß. Petit Hector langweilte sich in der Schule schrecklich, die Zeit schien ihm dort viel zu langsam zu verstreichen, und so hörte er nicht richtig zu und hatte hinterher miese Noten.
Der große Hector fragte den kleinen: »Und was würdest du dir heute von allen Dingen auf der Welt am meisten wünschen?«
Petit Hector brauchte nicht eine Sekunde nachzudenken: »Ich will sofort erwachsen sein!«
Hector war überrascht. Er hatte damit gerechnet, daß Petit Hector antworten würde »Meine Eltern sollen wieder zusammenkommen« oder »Ich möchte bessere Schulnoten haben« oder vielleicht »Ich möchte mit meinen Freunden in den Skiurlaub fahren können«.
Er fragte Petit Hector, weshalb er auf der Stelle erwachsen werden wolle.
»Um selbst zu entscheiden!« antwortete Petit Hector.
Wenn er nämlich jetzt sofort ein Großer wäre, erklärte der kleine Hector weiter, könnte er selbst bestimmen, um wieviel Uhr er schlafen ging, wann er aufstand, wohin er in die Ferien fahren und welche Freunde er sehen wollte; er könnte sich vergnügen, womit er mochte, er brauchte die Erwachsenen nicht zu sehen, die er nicht sehen wollte (die neue Freundin seines Vaters beispielsweise), und er könnte einen richtigen Beruf haben, denn in der Schule zu sitzen war doch kein richtiger Beruf, und außerdem hatte man es sich auch gar nicht ausgesucht, und trotzdem mußte man dort Stunden und Jahre damit zubringen, die Zeit schneckenhaft langsam dahinkriechen zu sehen und sich furchtbar zu langweilen.
Hector dachte, daß sich Petit Hector falsche Vorstellungen vom Erwachsenenleben machte, denn immerhin mußten auch die Großen Dinge tun, die sie nicht gern taten, und Leute treffen, die sie lieber gemieden hätten. Das sagte er ihm aber nicht, denn für den Augenblick war es keine schlechte Sache, wenn Petit Hector von einer glücklichen Zukunft träumte, wo es doch mit seiner Gegenwart nicht so rosig aussah.
Und so fragte er Petit Hector: »Aber wenn du jetzt auf der Stelle ein Erwachsener wärst, würde das doch auch bedeuten, daß du schon eine ganze Menge Jahre hinter dir hättest und daß dir eine kürzere Spanne Leben übrigbliebe. Würde dich das nicht ärgern?«
Petit Hector überlegte.
»Einverstanden - das ist ein bißchen, als wenn man im Videospiel ein Leben weniger hat, ärgerlich ist das schon Aber es verdirbt einem doch nicht den Spaß am Weiterspielen!«
Und dann blickte er Hector an.
»Ärgert es Sie denn, daß Sie schon ein oder zwei Leben weniger haben?«
Und der große Hector sagte sich, daß Petit Hector eines Tages vielleicht Psychiater werden würde.
Wenn sein Arbeitstag zu Ende war, dachte Hector oft an all die Menschen, denen er zugehört hatte und die ihren Kummer mit der Zeit hatten.
Er dachte an Sabine, die die Zeit gern angehalten hätte.
An Fernand, der die Zeit in Hundeleben zählte.
An Petit Hector, der die Zeit beschleunigen wollte.
Und er dachte noch an viele andere
Hector verbrachte immer mehr Zeit damit, über die Zeit nachzudenken.
© Piper Verlag
Übersetzung: Ralf Pannowitsch
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Autoren-Porträt von François Lelord
Warum sind manche Menschen trotz objektiv positiver Lebensumstände unglücklich und andere glücklich? Das ist eine typische Frage für den Psychologen Hector und damit für François Lelord, der diese literarische Figur erfunden hat. Der 1953 in Paris geborene Autor arbeitete nach einem Studium der Medizin und Psychologie zunächst als Psychiater. Auf der Suche nach Antworten auf die großen Fragen des Lebens ließ er seinen Beruf einige Jahre ruhen, um sich ganz dem Schreiben und Reisen, vor allem durch Asien, zu widmen. Sein erstes Buch um Hector erschien 2002 und wurde wie die folgenden »Hector«-Romane ein internationaler Bestseller. Insgesamt haben sich François Lelords Bücher im deutschsprachigen Raum über 3,5 Millionen Mal verkauft. François Lelord lebt mit seiner Familie in Paris. Ralf Pannowitsch, geboren 1965 in Greifswald, studierte Germanistik und Romanistik. Neben den Büchern von François Lelord übersetzte er u.a. Werke von Jean-Christophe Rufin, Karine Tuil und Randall Munroe. Heute lebt er als Lehrer, Übersetzer und Gärtner in Leipzig.
Bibliographische Angaben
- Autor: François Lelord
- 2010, 13. Aufl., 224 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Ralf Pannowitsch
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492252672
- ISBN-13: 9783492252676
- Erscheinungsdatum: 19.09.2008
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»Durchzogen mit feinem Humor, lädt die Geschichte dazu ein, sich über den eigenen Umgang mit der Zeit auseinanderzusetzen.« 3sat . »François Lelord fand das Glück und rettete die Liebe. Jetzt hält er die Zeit an.« emotion . »Haben Sie einen Augenblick Zeit? Dann möchten wir Ihnen Lelord ans Herz legen.« buchjournal
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