Die Jasminschwestern
Roman
Nach einem tragischen Unfall trifft die Journalistin Melanie ihre Urgroßmutter Hanna in Vietnam. Als Hanna bemerkt, wie sehr die junge Frau mit ihrem Schicksal hadert, erzählt sie ihr zum ersten Mal aus ihrem Leben: Von der dramatischen...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Jasminschwestern “
Nach einem tragischen Unfall trifft die Journalistin Melanie ihre Urgroßmutter Hanna in Vietnam. Als Hanna bemerkt, wie sehr die junge Frau mit ihrem Schicksal hadert, erzählt sie ihr zum ersten Mal aus ihrem Leben: Von der dramatischen Kindheit im exotischen Saigon und dem schillernden Berlin der Zwanzigerjahre. Dann von Hannas großer Liebe, von der schweren Zeit während des Krieges und dem Neuanfang als Hutdesignerin in Paris. Hanna hat viel verloren, aber auch unendlich viel gewonnen. Einfühlsam gelingt es der alten, weisen Frau Melanie Mut zuzusprechen. Als Melanie das erkennt, weiß sie, dass ihre schönste Zeit noch vor ihr liegt.
Klappentext zu „Die Jasminschwestern “
Ein Unfall, ein Schock und eine große Frage: Als ihr Freund verletzt ins Koma fällt, flüchtet Melanie Sommer zu ihrer vietnamesischen Urgroßmutter Hanna. Als Hanna merkt, wie sehr die junge Frau mit ihrem Schicksal und der Liebe hadert, erzählt sie ihr zum ersten Mal aus ihrem Leben: Von der dramatischen Kindheit im exotischen Saigon, vom schillernden Berlin der Zwanzigerjahre und einer großen Liebe, von der schweren Zeit während des Krieges und dem Neuanfang als Hutdesignerin in Paris. Hanna hat viel verloren, aber auch unendlich viel gewonnen. Und Melanie erkennt, dass ihre schönste Zeit noch vor ihr liegt - egal, was das Schicksal noch für sie bereithält.Entdecken Sie jetzt den neuen Roman von Corina Bomann: Die "Sturmrose" ist ein großer deutsch-deutscher Schicksalsroman - berührend und herzenswarm erzählt.
Lese-Probe zu „Die Jasminschwestern “
Die Jasmin Schwestern von Corina Bomann1
April
Mein Liebster,
seit drei Monaten bist du nicht mehr bei mir. Das heißt, natürlich bist du da, ich sehe deinen Körper in der Klinik, angeschlossen an Maschinen, die dich am Leben erhalten, während du schläfst. Aber ich höre deine Stimme nicht, spüre deine Berührungen nicht, und du siehst mich auch nicht an.
Wo bist du? Irrst du vielleicht durch ein Labyrinth, dessen Ausgang du nicht findest? Ja, so stelle ich mir dein Koma vor. Es ist wie ein Irrgarten, der dich gefangen hält. Vielleicht suchst du nach einem Ausgang, vielleicht hast du dich aber auch deinem Schicksal ergeben und lebst nun in einer Nische, zu schwach, um weiterzumachen.
Ich selbst fühle mich mit jedem Tag schwächer und weiß nicht, wie lange ich das alles noch aushalten kann.
Hörst du vielleicht meine Stimme? Versuchst du, ihr zu folgen? Wenn ja, dann rufe ich dich weiterhin jeden Tag. Ich versuche, die Hoffnung nicht aufzugeben, dass du die Kraft findest, wieder zu mir zurückzukommen.
Du weißt doch sicher noch, dass wir beide im Sommer heiraten wollen, nicht wahr? Sicher weißt du das. Vier Monate sind es noch. Genug Zeit, nicht wahr? Genug Zeit, um einen Weg zu finden. Ich werde versuchen durchzuhalten.
Wenn du kannst, gib mir bitte einen Hinweis, was ich tun soll, um dich nach draußen zu führen. Ich schlafe derzeit zwar schlecht, aber vielleicht findest du eine Lücke in einem meiner Träume.
Bitte komm zu mir zurück, ich vermisse dich so sehr.
In Liebe, deine Mel
... mehr
Die Villa hatte sich nicht verändert. Ihre rot-weißen Mauern, die von einem kleinen Turm überragt wurden, erhoben sich aus einem Meer von Grün. Die ersten zartgrünen Blätter zeigten sich an den Bäumen, in den Wiesen leuchtete das Gelb unzähliger Butterblumen.
Melanie verlangsamte ihren Wagen, um den See betrachten zu können, der an das Anwesen grenzte und dessen Oberfläche zu gut einem Drittel mit Seerosen bedeckt war. Ein Schwan zog majestätisch seine Kreise. Wie rosa Wattebäusche wirkten die Abendwolken, die sich in dem Wasser spiegelten.
Zum ersten Mal seit Monaten durchströmte Melanie ein Gefühl der Wärme. Wie lange war sie schon nicht mehr hier gewesen! Sie erinnerte sich an glückliche Ferientage und Wochenenden, Weihnachtsfeiern im Foyer und Gewitternächte, in denen sie alle wach geblieben waren, bis das Donnergrollen vorüber gewesen war.
Wahrscheinlich hatte ihre Mutter recht gehabt, als sie sagte, dass Melanie ein Aufenthalt bei den Großmüttern guttun würde. Melanie hatte sich zunächst gesträubt, dann aber eingesehen, dass es besser war, ein wenig Abstand zu gewinnen.
Die vergangenen Monate waren die Hölle gewesen. Beinahe jeden Tag hatte Melanie an Roberts Krankenbett gesessen in der Hoffnung, dass sich etwas tun würde. Doch das Koma hatte ihren Verlobten nach wie vor fest im Griff. Die Ärzte hielten das nicht für ungewöhnlich, doch mit jedem Tag, der verging, schwand Melanies Hoffnung, ihm je wieder in die Augen blicken und ihm sagen zu können, dass sie ihn liebte.
Nachdem sie den See umrundet hatte, fuhr sie den Schotterweg hinauf, vorbei an dem Schild mit der Aufschrift »Modemuseum Blumensee«. Das Museum hatten ihre Großmutter und ihre Urgroßmutter vor etwa fünfzehn Jahren eröffnet. Damals waren beide aus Vietnam zurückgekehrt, nachdem sie dort eine Näherei aufgebaut hatten. Sie brauchten eine neue Herausforderung, und da traf es sich gut, dass die Villa Blumensee, am Rande einer brandenburgischen Kleinstadt gelegen, einen neuen Besitzer suchte.
Die Wende hatte den Bau marode zurückgelassen, eigentlich war das nichts für zwei ältere, alleinstehende Frauen. Doch Hanna und Marie hatten sich gegen alle Bedenken durchgesetzt und auch ignoriert, dass die Nachbarn im Ort ihr Vorhaben zunächst belächelt hatten.
Melanies Großmütter hatten es allen gezeigt. Seit etwa fünf Jahren rechnete sich das Museum - und die Besucherzahlen nahmen zu!
Auf dem Parkplatz neben dem Haupthaus stellte Melanie ihren Wagen ab, zog die Reisetasche von der Rückbank und stieg aus. Kiesel knirschten unter ihren Schuhen, und der Duft der ersten Frühjahrsblüher stieg ihr in die Nase. Dichte Jasminbüsche trennten den vorderen Teil des Gartens vom hinteren ab, der für Besucher nicht zugänglich war.
Jetzt war das Museum geschlossen, das Gelände vollkommen leer. Nur ein Rasenmäher brummte in der Ferne.
Melanie erklomm die Treppe, die zur Eingangstür führte, und klingelte. Urgroßmutter Hanna hatte die alte Klingelanlage restaurieren lassen. Das wunderschöne antiquierte Läuten konnte Melanie bis draußen hören.
Während sie wartete, betrachtete sie den alten Springbrunnen in der Mitte des Rondells. Wegen der immensen Wasser- kosten wurde er nur während der Öffnungszeiten betrieben. Die leuchtend bunten Blumenrabatten, die die Wege säumen, wirkten sehr gepflegt.
Da hallten Schritte durch das Foyer. Eine zierliche Gestalt erschien kurz im Fenster neben der Tür, dann wurde geöffnet.
Marie Bahrenboom, Melanies Großmutter, war trotz ihrer siebenundsiebzig Lebensjahre noch immer eine Schönheit. Ihr silbergrau meliertes Haar trug sie zu einem eleganten Knoten geschlungen. Wie immer nach Feierabend trug sie eines ihrer Áo dàis, der traditionellen Gewänder, die sie während ihrer Zeit in Vietnam schätzen gelernt hatte. Sie besaß Dutzende davon. Dieses hier war aus pflaumenblauer Seide, geschmückt mit silbernen Stickereien.
Lächelnd schloss Marie ihre Enkelin in die Arme. »Meine Kleine, lass dich drücken! Es ist schön, dass du ein paar Tage zu uns kommst. Es wird dir sicher guttun.«
»Das hoffe ich«, entgegnete Melanie. Die Erinnerungen, die sie mit diesem Ort verband, waren schön, doch sie wusste genau, dass die Grübeleien wiederkommen würden, sobald sie allein in ihrem Zimmer war und die Nacht anbrach. »Die letzten Wochen waren ... schrecklich.«
Sie schämte sich oft dafür, dass sie nicht mit Geduld und Gleichmut an Roberts Krankenbett sitzen konnte. Nur schwer hatte sie sich an seinen Zustand gewöhnt. Obwohl sie ihn liebte, waren die Krankenbesuche eine Belastung. Nach drei Monaten hatte sich ihr Körper auf seine Weise gewehrt. Panikattacken hatten sich eingestellt, und ihr Hausarzt hatte schon befürchtet, dass sie eine Depression entwickeln würde. Schweren Herzens hatte sie sich gezwungen gesehen, die Notbremse zu ziehen.
Marie, die Melanies Gedanken zu spüren schien, streichelte ihr sanft übers Haar, das nicht wie das ihrer Großmutter schwarz war, sondern braun - der europäische Einfluss in ihrer Familie setzte sich allmählich durch. Aber Melanies Augen hatten immer noch die Mandelform, die alle Frauen der Familie besaßen. Das vietnamesische Erbe, wie Robert es immer nannte.
»Und wie geht es ihm jetzt?«, fragte Marie, nachdem sie Melanie einen Moment lang betrachtet hatte.
»Noch immer unverändert. Er schläft. Es scheint so weit alles unter Kontrolle, aber ...«
Melanie schloss kurz die Augen und versuchte, die Bilder abzuschütteln. Der schöne, kräftige Mann, den sie eigentlich im Sommer heiraten wollte, war abgemagert. Hilflos lag er in seinem Bett, bewegt von hydraulischen Matratzen und überwacht von zahlreichen Monitoren.
Melanie öffnete die Augen wieder und unterdrückte die Tränen, dann löste sie sich sanft aus der Umarmung ihrer Großmutter. »Wo ist Grand-mère?«
Als Kind hatte sie sich angewöhnt, ihre Urgroßmutter Grand-mère zu nennen, um Hanna von Marie unterscheiden zu können. Sie war dreisprachig aufgewachsen: Hanna hatte ihr Vietnamesisch beigebracht, Marie Französisch, und Elena hatte darauf geachtet, dass sie über all den fremden Wörtern Deutsch nicht vergaß. Wenn sie alle vier zusammen waren
- was in letzter Zeit leider nur sehr selten vorkam -, geriet ihr Gespräch zu einem bunten Gemisch aus den drei Sprachen, je nachdem, in welcher Sprache ihnen ein Begriff durch den Kopf schoss. »Maman ist in ihrem Salon, ihre Beine machen heute nicht so mit, wie sie sollen, also habe ich sie vor dem Fenster platziert. «
»Das wird sie sicher ärgern«, entgegnete Melanie, denn sie kannte Hanna als agile alte Dame, die es hasste, untätig zu sein. Aus welchem Grund zog man sonst mit über achtzig ein Modemuseum auf?
»Und wie! Sie war heute Morgen ganz ungnädig. Sie hasst diese Rheumaschübe. Aber glaub mir, spätestens morgen oder übermorgen läuft sie wieder wie ein Windhund und kommandiert unsere Museumswärterin und den Gärtner herum.«
Marie führte sie an den Ausstellungsräumen vorbei zur Treppe. Kurz erhaschte Melanie einen Blick auf die Kleider, die in Glasvitrinen ausgestellt waren mit allem, was die Damen vergangener Jahrhunderte getragen hatten. Ihre Großmütter hatten eine wunderbare Sammlung, in verschiedenen Farben und Stilrichtungen und inklusive Accessoires wie Täschchen, Schuhen und Hüten. Kaum zu glauben, wie sich die Mode vom Mittelalter bis zur Jetztzeit entwickelt hatte.
»Was macht eigentlich Elenas Laden?«, riss Marie ihre Enkelin aus der Betrachtung. »Ich habe schon viel zu lange nicht mehr mit deiner Mutter telefoniert.«
»Dem Geschäft geht es gut. Mama hat eine neue Kollektion entworfen, die sie im Juli bei der Fashion Week vorstellen will.«
»Und deine Arbeit?«
»Nun ja, ich ... ich habe schon lange keine Auslandsaufträge mehr angenommen.« Melanie senkte den Kopf. Das Fotografieren und Reisen fehlte ihr sehr. Doch aus Angst, dass es Robert plötzlich schlechter gehen könnte, lehnte sie Aufträge, die sie ins Ausland führten, ab. Wenn überhaupt, fotografierte sie im Inland. Aber diese Jobs waren selten, weil die jungen Modemacher dort aus Kostengründen selbst zur Kamera griffen oder Freunde beauftragten. »Aber mit etwas Glück besorgt meine Agentur noch den einen oder anderen Auftrag in Berlin. «
»Robert würde wollen, dass du dich um deine Arbeit kümmerst. Das musst du dir immer sagen. Es würde ihm gar nicht gefallen, wenn du wegen ihm ständig zu Hause sitzt.«
Melanie seufzte. »Das ist richtig, aber es fällt mir schwer, mich auf etwas anderes zu konzentrieren, wenn ich wieder in die Klinik muss. Und danach bin ich immer so fertig, dass an Arbeit nicht zu denken ist.«
Marie streichelte ihr tröstend über den Arm. »Du leistest gerade Großes. Als dein Großvater gestorben ist, habe ich ähnlich gefühlt. Bei ihm waren es nur drei Wochen, aber das waren die schlimmsten meines Lebens.«
Melanie senkte den Kopf und kniff die Lippen zusammen. Im Moment wollte sie nicht darüber reden. Und sie wollte auch keine Anerkennung für das, was sie tat. Oder Mitleid. Es änderte ja doch nichts. Marie schien das zu bemerken und verstummte augenblicklich.
Schweigend ließen sie die Treppe und den Korridor hinter sich, bis sie an der Salontür ankamen, die leicht offen stand.
Die Möblierung des Salons war schlicht gehalten und stellte sehr gut verschiedene Stationen aus Hannas Leben dar. Es gab einen hübsch bemalten chinesischen Lackschrank, der sehr alt wirkte und sicher das Herz jedes Antiquitätenhändlers hätte höher schlagen lassen. In der Raummitte standen schwere lederne Hocker, die wohl aus der Kolonialzeit stammten. Eine schneeweiße Orchidee wucherte in einem Steintopf aus den 50ern, das Beistelltischchen bestand aus Glas und Metall und wirkte sehr modern zwischen den anderen Möbelstücken.
An der offenstehenden Balkontür hing das Windspiel, das Melanie von ihrer letzten Reise mitgebracht hatte. Der Anblick versetzte ihr einen Stich. Ihr eigenes lag noch immer unangetastet in einer Schublade. Elena hatte vorgeschlagen, es in Roberts Krankenzimmer aufzuhängen, doch das hatte Melanie abgelehnt.
In dem breiten Rattansessel vor dem Fenster wirkte Hanna klein und zerbrechlich, erst recht, weil sie in eine dicke Decke eingewickelt war, die sie vor der Kälte schützen sollte.
Hannas Gesicht war eine Landkarte ihres Lebens, mit vielen Wegen, die nur sie kannte. Ihre Augen, die so dunkel glänzten wie Onyxe, hatten viel gesehen. Sie war mittlerweile sechsundneunzig und sah doch keinen Tag älter aus als achtzig. Ihr Aussehen hatte sich seit ihrem achtzigsten Geburtstag nicht mehr verändert. Offenbar bewahrheitete sich an ihrer Urgroßmutter, was ein befreundeter Fotograf mal behauptet hatte: Ab einem gewissen Alter verschwand das Alter. Hatten die Falten erst einmal eine bestimmte Tiefe erreicht, wurden sie nicht mehr tiefer.
Auch Hanna trug ein Áo dài, eines mit wesentlich prächtigerer Stickerei. Mittlerweile bevorzugte sie die Kleider ihrer Heimat. Aus Bequemlichkeit und sicher auch aus Nostalgie.
»Melanie, da bist du ja!«, begrüßte sie ihre Urenkelin und versuchte, sich zu erheben. Das fiel ihr sichtlich schwer, auch wenn sie sonst sehr frisch und lebendig wirkte.
»Bleib bitte sitzen, Grand-mère, ich bin gleich bei dir.« Melanie ging zu ihr und umarmte sie, ganz vorsichtig, aus Angst, diese zarte Frau zu zerdrücken. Dabei spürte sie jedoch, dass dieser Körper nicht zerbrechen würde, denn die Knochen, die sie unter der dünnen Haut fühlte, waren stark. Ein leichter Jasminduft ging von ihr aus. Sie ließ diesen Duft aus Paris kommen und hatte wohl seit Jahren kein anderes Parfüm mehr getragen.
»Es ist schön, dass du mal wieder hier bist. Ich wollte dir ja eigentlich entgegenstürmen, aber das Rheuma.«
© Ullstein Verlag
Die Villa hatte sich nicht verändert. Ihre rot-weißen Mauern, die von einem kleinen Turm überragt wurden, erhoben sich aus einem Meer von Grün. Die ersten zartgrünen Blätter zeigten sich an den Bäumen, in den Wiesen leuchtete das Gelb unzähliger Butterblumen.
Melanie verlangsamte ihren Wagen, um den See betrachten zu können, der an das Anwesen grenzte und dessen Oberfläche zu gut einem Drittel mit Seerosen bedeckt war. Ein Schwan zog majestätisch seine Kreise. Wie rosa Wattebäusche wirkten die Abendwolken, die sich in dem Wasser spiegelten.
Zum ersten Mal seit Monaten durchströmte Melanie ein Gefühl der Wärme. Wie lange war sie schon nicht mehr hier gewesen! Sie erinnerte sich an glückliche Ferientage und Wochenenden, Weihnachtsfeiern im Foyer und Gewitternächte, in denen sie alle wach geblieben waren, bis das Donnergrollen vorüber gewesen war.
Wahrscheinlich hatte ihre Mutter recht gehabt, als sie sagte, dass Melanie ein Aufenthalt bei den Großmüttern guttun würde. Melanie hatte sich zunächst gesträubt, dann aber eingesehen, dass es besser war, ein wenig Abstand zu gewinnen.
Die vergangenen Monate waren die Hölle gewesen. Beinahe jeden Tag hatte Melanie an Roberts Krankenbett gesessen in der Hoffnung, dass sich etwas tun würde. Doch das Koma hatte ihren Verlobten nach wie vor fest im Griff. Die Ärzte hielten das nicht für ungewöhnlich, doch mit jedem Tag, der verging, schwand Melanies Hoffnung, ihm je wieder in die Augen blicken und ihm sagen zu können, dass sie ihn liebte.
Nachdem sie den See umrundet hatte, fuhr sie den Schotterweg hinauf, vorbei an dem Schild mit der Aufschrift »Modemuseum Blumensee«. Das Museum hatten ihre Großmutter und ihre Urgroßmutter vor etwa fünfzehn Jahren eröffnet. Damals waren beide aus Vietnam zurückgekehrt, nachdem sie dort eine Näherei aufgebaut hatten. Sie brauchten eine neue Herausforderung, und da traf es sich gut, dass die Villa Blumensee, am Rande einer brandenburgischen Kleinstadt gelegen, einen neuen Besitzer suchte.
Die Wende hatte den Bau marode zurückgelassen, eigentlich war das nichts für zwei ältere, alleinstehende Frauen. Doch Hanna und Marie hatten sich gegen alle Bedenken durchgesetzt und auch ignoriert, dass die Nachbarn im Ort ihr Vorhaben zunächst belächelt hatten.
Melanies Großmütter hatten es allen gezeigt. Seit etwa fünf Jahren rechnete sich das Museum - und die Besucherzahlen nahmen zu!
Auf dem Parkplatz neben dem Haupthaus stellte Melanie ihren Wagen ab, zog die Reisetasche von der Rückbank und stieg aus. Kiesel knirschten unter ihren Schuhen, und der Duft der ersten Frühjahrsblüher stieg ihr in die Nase. Dichte Jasminbüsche trennten den vorderen Teil des Gartens vom hinteren ab, der für Besucher nicht zugänglich war.
Jetzt war das Museum geschlossen, das Gelände vollkommen leer. Nur ein Rasenmäher brummte in der Ferne.
Melanie erklomm die Treppe, die zur Eingangstür führte, und klingelte. Urgroßmutter Hanna hatte die alte Klingelanlage restaurieren lassen. Das wunderschöne antiquierte Läuten konnte Melanie bis draußen hören.
Während sie wartete, betrachtete sie den alten Springbrunnen in der Mitte des Rondells. Wegen der immensen Wasser- kosten wurde er nur während der Öffnungszeiten betrieben. Die leuchtend bunten Blumenrabatten, die die Wege säumen, wirkten sehr gepflegt.
Da hallten Schritte durch das Foyer. Eine zierliche Gestalt erschien kurz im Fenster neben der Tür, dann wurde geöffnet.
Marie Bahrenboom, Melanies Großmutter, war trotz ihrer siebenundsiebzig Lebensjahre noch immer eine Schönheit. Ihr silbergrau meliertes Haar trug sie zu einem eleganten Knoten geschlungen. Wie immer nach Feierabend trug sie eines ihrer Áo dàis, der traditionellen Gewänder, die sie während ihrer Zeit in Vietnam schätzen gelernt hatte. Sie besaß Dutzende davon. Dieses hier war aus pflaumenblauer Seide, geschmückt mit silbernen Stickereien.
Lächelnd schloss Marie ihre Enkelin in die Arme. »Meine Kleine, lass dich drücken! Es ist schön, dass du ein paar Tage zu uns kommst. Es wird dir sicher guttun.«
»Das hoffe ich«, entgegnete Melanie. Die Erinnerungen, die sie mit diesem Ort verband, waren schön, doch sie wusste genau, dass die Grübeleien wiederkommen würden, sobald sie allein in ihrem Zimmer war und die Nacht anbrach. »Die letzten Wochen waren ... schrecklich.«
Sie schämte sich oft dafür, dass sie nicht mit Geduld und Gleichmut an Roberts Krankenbett sitzen konnte. Nur schwer hatte sie sich an seinen Zustand gewöhnt. Obwohl sie ihn liebte, waren die Krankenbesuche eine Belastung. Nach drei Monaten hatte sich ihr Körper auf seine Weise gewehrt. Panikattacken hatten sich eingestellt, und ihr Hausarzt hatte schon befürchtet, dass sie eine Depression entwickeln würde. Schweren Herzens hatte sie sich gezwungen gesehen, die Notbremse zu ziehen.
Marie, die Melanies Gedanken zu spüren schien, streichelte ihr sanft übers Haar, das nicht wie das ihrer Großmutter schwarz war, sondern braun - der europäische Einfluss in ihrer Familie setzte sich allmählich durch. Aber Melanies Augen hatten immer noch die Mandelform, die alle Frauen der Familie besaßen. Das vietnamesische Erbe, wie Robert es immer nannte.
»Und wie geht es ihm jetzt?«, fragte Marie, nachdem sie Melanie einen Moment lang betrachtet hatte.
»Noch immer unverändert. Er schläft. Es scheint so weit alles unter Kontrolle, aber ...«
Melanie schloss kurz die Augen und versuchte, die Bilder abzuschütteln. Der schöne, kräftige Mann, den sie eigentlich im Sommer heiraten wollte, war abgemagert. Hilflos lag er in seinem Bett, bewegt von hydraulischen Matratzen und überwacht von zahlreichen Monitoren.
Melanie öffnete die Augen wieder und unterdrückte die Tränen, dann löste sie sich sanft aus der Umarmung ihrer Großmutter. »Wo ist Grand-mère?«
Als Kind hatte sie sich angewöhnt, ihre Urgroßmutter Grand-mère zu nennen, um Hanna von Marie unterscheiden zu können. Sie war dreisprachig aufgewachsen: Hanna hatte ihr Vietnamesisch beigebracht, Marie Französisch, und Elena hatte darauf geachtet, dass sie über all den fremden Wörtern Deutsch nicht vergaß. Wenn sie alle vier zusammen waren
- was in letzter Zeit leider nur sehr selten vorkam -, geriet ihr Gespräch zu einem bunten Gemisch aus den drei Sprachen, je nachdem, in welcher Sprache ihnen ein Begriff durch den Kopf schoss. »Maman ist in ihrem Salon, ihre Beine machen heute nicht so mit, wie sie sollen, also habe ich sie vor dem Fenster platziert. «
»Das wird sie sicher ärgern«, entgegnete Melanie, denn sie kannte Hanna als agile alte Dame, die es hasste, untätig zu sein. Aus welchem Grund zog man sonst mit über achtzig ein Modemuseum auf?
»Und wie! Sie war heute Morgen ganz ungnädig. Sie hasst diese Rheumaschübe. Aber glaub mir, spätestens morgen oder übermorgen läuft sie wieder wie ein Windhund und kommandiert unsere Museumswärterin und den Gärtner herum.«
Marie führte sie an den Ausstellungsräumen vorbei zur Treppe. Kurz erhaschte Melanie einen Blick auf die Kleider, die in Glasvitrinen ausgestellt waren mit allem, was die Damen vergangener Jahrhunderte getragen hatten. Ihre Großmütter hatten eine wunderbare Sammlung, in verschiedenen Farben und Stilrichtungen und inklusive Accessoires wie Täschchen, Schuhen und Hüten. Kaum zu glauben, wie sich die Mode vom Mittelalter bis zur Jetztzeit entwickelt hatte.
»Was macht eigentlich Elenas Laden?«, riss Marie ihre Enkelin aus der Betrachtung. »Ich habe schon viel zu lange nicht mehr mit deiner Mutter telefoniert.«
»Dem Geschäft geht es gut. Mama hat eine neue Kollektion entworfen, die sie im Juli bei der Fashion Week vorstellen will.«
»Und deine Arbeit?«
»Nun ja, ich ... ich habe schon lange keine Auslandsaufträge mehr angenommen.« Melanie senkte den Kopf. Das Fotografieren und Reisen fehlte ihr sehr. Doch aus Angst, dass es Robert plötzlich schlechter gehen könnte, lehnte sie Aufträge, die sie ins Ausland führten, ab. Wenn überhaupt, fotografierte sie im Inland. Aber diese Jobs waren selten, weil die jungen Modemacher dort aus Kostengründen selbst zur Kamera griffen oder Freunde beauftragten. »Aber mit etwas Glück besorgt meine Agentur noch den einen oder anderen Auftrag in Berlin. «
»Robert würde wollen, dass du dich um deine Arbeit kümmerst. Das musst du dir immer sagen. Es würde ihm gar nicht gefallen, wenn du wegen ihm ständig zu Hause sitzt.«
Melanie seufzte. »Das ist richtig, aber es fällt mir schwer, mich auf etwas anderes zu konzentrieren, wenn ich wieder in die Klinik muss. Und danach bin ich immer so fertig, dass an Arbeit nicht zu denken ist.«
Marie streichelte ihr tröstend über den Arm. »Du leistest gerade Großes. Als dein Großvater gestorben ist, habe ich ähnlich gefühlt. Bei ihm waren es nur drei Wochen, aber das waren die schlimmsten meines Lebens.«
Melanie senkte den Kopf und kniff die Lippen zusammen. Im Moment wollte sie nicht darüber reden. Und sie wollte auch keine Anerkennung für das, was sie tat. Oder Mitleid. Es änderte ja doch nichts. Marie schien das zu bemerken und verstummte augenblicklich.
Schweigend ließen sie die Treppe und den Korridor hinter sich, bis sie an der Salontür ankamen, die leicht offen stand.
Die Möblierung des Salons war schlicht gehalten und stellte sehr gut verschiedene Stationen aus Hannas Leben dar. Es gab einen hübsch bemalten chinesischen Lackschrank, der sehr alt wirkte und sicher das Herz jedes Antiquitätenhändlers hätte höher schlagen lassen. In der Raummitte standen schwere lederne Hocker, die wohl aus der Kolonialzeit stammten. Eine schneeweiße Orchidee wucherte in einem Steintopf aus den 50ern, das Beistelltischchen bestand aus Glas und Metall und wirkte sehr modern zwischen den anderen Möbelstücken.
An der offenstehenden Balkontür hing das Windspiel, das Melanie von ihrer letzten Reise mitgebracht hatte. Der Anblick versetzte ihr einen Stich. Ihr eigenes lag noch immer unangetastet in einer Schublade. Elena hatte vorgeschlagen, es in Roberts Krankenzimmer aufzuhängen, doch das hatte Melanie abgelehnt.
In dem breiten Rattansessel vor dem Fenster wirkte Hanna klein und zerbrechlich, erst recht, weil sie in eine dicke Decke eingewickelt war, die sie vor der Kälte schützen sollte.
Hannas Gesicht war eine Landkarte ihres Lebens, mit vielen Wegen, die nur sie kannte. Ihre Augen, die so dunkel glänzten wie Onyxe, hatten viel gesehen. Sie war mittlerweile sechsundneunzig und sah doch keinen Tag älter aus als achtzig. Ihr Aussehen hatte sich seit ihrem achtzigsten Geburtstag nicht mehr verändert. Offenbar bewahrheitete sich an ihrer Urgroßmutter, was ein befreundeter Fotograf mal behauptet hatte: Ab einem gewissen Alter verschwand das Alter. Hatten die Falten erst einmal eine bestimmte Tiefe erreicht, wurden sie nicht mehr tiefer.
Auch Hanna trug ein Áo dài, eines mit wesentlich prächtigerer Stickerei. Mittlerweile bevorzugte sie die Kleider ihrer Heimat. Aus Bequemlichkeit und sicher auch aus Nostalgie.
»Melanie, da bist du ja!«, begrüßte sie ihre Urenkelin und versuchte, sich zu erheben. Das fiel ihr sichtlich schwer, auch wenn sie sonst sehr frisch und lebendig wirkte.
»Bleib bitte sitzen, Grand-mère, ich bin gleich bei dir.« Melanie ging zu ihr und umarmte sie, ganz vorsichtig, aus Angst, diese zarte Frau zu zerdrücken. Dabei spürte sie jedoch, dass dieser Körper nicht zerbrechen würde, denn die Knochen, die sie unter der dünnen Haut fühlte, waren stark. Ein leichter Jasminduft ging von ihr aus. Sie ließ diesen Duft aus Paris kommen und hatte wohl seit Jahren kein anderes Parfüm mehr getragen.
»Es ist schön, dass du mal wieder hier bist. Ich wollte dir ja eigentlich entgegenstürmen, aber das Rheuma.«
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Autoren-Porträt von Corina Bomann
Bomann, CorinaCorina Bomann ist in einem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen und hat schon immer geschrieben. Mit "Die Schmetterlingsinsel" gelang ihr der absolute Durchbruch. Seitdem ist jeder ihrer Romane ein Bestseller geworden, auch international. Inzwischen wohnt sie wieder in einem gemütlichen Haus in Mecklenburg-Vorpommern. Es ist der perfekte Ort zum Schreiben.
Bibliographische Angaben
- Autor: Corina Bomann
- 2014, 544 Seiten, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548285279
- ISBN-13: 9783548285276
- Erscheinungsdatum: 09.05.2014
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