Der unheimliche Geisterrufer / Die Geheimnisse des Nicholas Flamel Bd.4
Band 4 - Eine abenteuerliche Jagd nach den Geheimnissen des berühmtesten Alchemisten aller Zeiten
Mit knapper Not konnten Flamel und die Zwillinge nach San Francisco fliehen. Um zu verhindern, dass ihre Feinde die Armee unheimlicher Kreaturen aus Alcatraz befreien, muss Josh nun auch in der Feuermagie ausgebildet werden.
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Produktinformationen zu „Der unheimliche Geisterrufer / Die Geheimnisse des Nicholas Flamel Bd.4 “
Mit knapper Not konnten Flamel und die Zwillinge nach San Francisco fliehen. Um zu verhindern, dass ihre Feinde die Armee unheimlicher Kreaturen aus Alcatraz befreien, muss Josh nun auch in der Feuermagie ausgebildet werden.
Klappentext zu „Der unheimliche Geisterrufer / Die Geheimnisse des Nicholas Flamel Bd.4 “
Die Zeit läuft ab für Nicholas Flamel!Mit knapper Not konnten Flamel und die Zwillinge wieder zurück nach San Francisco fliehen. Doch auch hier gibt es kein Ausruhen. Um ihren Feinden entgegentreten zu können, muss Josh in der Feuermagie ausgebildet werden. Und kaum beherrscht er sie, verschwindet er spurlos. Sophie ist zutiefst erschüttert, als sie herausfindet, dass erneut Dee hinter dem Verschwinden ihres Bruders steckt. Der dunkle Magier hat nun jegliche Skrupel verloren: Mit Joshs Hilfe will er etwas Uraltes aus dem Geisterreich herbeirufen. Ein Wesen, das die Macht hat, selbst das Ältere Geschlecht zu töten - ganz sicher aber Josh.
Lese-Probe zu „Der unheimliche Geisterrufer / Die Geheimnisse des Nicholas Flamel Bd.4 “
Der unheimliche Geisterrufer von Michael ScottKapitel 1
... mehr
»Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal hierher zurückkomme«, sagte Sophie Newman und grinste ihren Bruder an.
»Und ich hätte nie gedacht, dass ich mich so darüber freuen würde«, erwiderte Josh. »Es sieht alles so ... ich weiß auch nicht ... anders aus.«
Es sieht noch genauso aus wie immer«, fand seine Schwester. »Wir sind es, die sich verändert haben.«
Sophie und Josh gingen die Scott Street in Pacific Heights, einem Stadtviertel von San Francisco, hinunter. Sie steuerten das Haus ihrer Tante Agnes an der Ecke zur Sacramento Street an. Vor sechs Tagen - am Donnerstag, den 31. Mai - hatten sie die Tante zum letzten Mal gesehen und waren von ihrem Haus aus zur Arbeit gegangen, Sophie ins Café und Josh in die Buchhandlung. Es war ein ganz gewöhnlicher Tag gewesen ... Der letzte gewöhnliche Tag in ihrem Leben, wie sich herausgestellt hatte.
An diesem Tag hatte sich ihre Welt für immer verändert.
Auch sie hatten sich verändert, und zwar physisch wie psychisch.
»Was sagen wir ihr?«, fragte Josh nervös.
Tante Agnes war 84 Jahre alt, und auch wenn die beiden sie Tante nannten, waren sie nicht blutsverwandt mit ihr. Sophie vermutete, Agnes sei vielleicht die Schwester ihrer Großmutter ... oder eine Cousine oder auch nur eine Freundin. Sicher wusste sie es nicht. Sie war eine ganz liebe, aber leicht aus der Fassung zu bringende alte Dame, die schon in helle Aufregung geriet, wenn die Zwillinge auch nur fünf Minuten zu spät kamen. Sie trieb die beiden in den Wahnsinn und erstattete ihren Eltern über so gut wie alles, was sie taten, Bericht.
»Nur nichts Kompliziertes«, antwortete Sophie. »Wir bleiben bei der Geschichte, die wir Mom und Dad erzählt haben: Zuerst hat die Buchhandlung geschlossen, weil es Perenelle nicht gut ging, und dann haben die Flamels -«
»Die Flemings«, korrigierte Josh.
»... die Flemings uns eingeladen, ein paar Tage mit ihnen in ihrem Haus in der Wüste zu verbringen.«
»Und warum musste die Buchhandlung schließen?«
»Ein Leck in der Gasleitung.«
Josh nickte. »Ein Leck in der Gasleitung. Und wo genau ist das Haus in der Wüste?«
»Joshua Tree.«
»Okay, alles klar.«
»Sicher? Du bist ein miserabler Lügner.«
Josh zuckte mit den Schultern. »Ich werde mich anstrengen. Du weißt, dass sie uns ganz schön was husten wird, ja?«
»Ich weiß. Und das ist erst der Anfang. Danach müssen wir auch noch mit Mom und Dad sprechen.«
Wieder nickte Josh. Dann sah er seine Schwester an. Schon seit Tagen hatte er sich heftig Gedanken über etwas gemacht. Jetzt hielt er den Zeitpunkt für günstig, die Sache zur Sprache zu bringen. »Ich habe mir überlegt«, begann er zögernd, »ob wir ihnen nicht einfach die Wahrheit sagen sollten.«
»Die Wahrheit?« An Sophies Miene war nichts abzulesen.
Die Zwillinge überquerten die Jackson Street. Drei Blocks weiter vorn konnten sie schon das weiße, im viktorianischen Stil erbaute Haus der Tante sehen.
»Was hältst du davon?«, fragte Josh nach, als seine Schwester schwieg.
Endlich nickte Sophie. »Klar, könnten wir.« Sie strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und sah ihren Bruder an. »Aber du weißt schon, was das heißt, ja? Wir verklickern Mom und Dad, dass ihr gesamtes Lebenswerk für die Katz war. Dass alles, was sie studiert haben - Geschichte, Archäologie und Paläontologie -, so nicht stimmt.« Ihre Augen weiteten sich. »Super Idee. Mach das mal. Ich lass dir gerne den Vortritt und schau es mir an.«
Josh zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Okay, okay, dann sagen wir es ihnen eben nicht.«
»Zumindest jetzt noch nicht.«
»Einverstanden. Aber früher oder später erfahren sie es doch. Du weißt selbst, dass es unmöglich ist, Geheimnisse vor ihnen zu haben. Sie kriegen immer alles raus.«
»Weil Tante Agnes petzt«, murmelte Sophie.
Eine glänzende schwarze Stretchlimousine mit getönten Scheiben fuhr langsam an den Zwillingen vorbei. Der Fahrer hatte sich vorgebeugt und versuchte, durch die Bäume entlang der Straße die Hausnummern zu erkennen. Der Wagen blinkte und hielt ein Stück weiter vorn an.
Josh wies mit dem Kinn darauf. »Komisch. Sieht so aus, als würde er vor Tante Agnes' Haus halten.«
Sophie blickte in Gedanken versunken auf. »Wenn wir nur mit jemandem reden könnten. Mit jemandem wie Gilgamesch.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich hoffe, es geht ihm gut.« Als sie den Unsterblichen das letzte Mal gesehen hatte, war er verwundet gewesen. Ein Pfeil des gehörnten Gottes hatte ihn getroffen. Sophie sah ihren Bruder an und stellte ärgerlich fest: »Du hörst mir ja gar nicht zu.«
»Der Wagen hält tatsächlich vor Tante Agnes' Haus«, stellte Josh leise fest. Seine Kopfhaut kribbelte. War das eine Warnung? »Sophie?«
»Was ist denn?«
»Wann hatte Tante Agnes das letzte Mal Besuch?«
»Sie bekommt nie Besuch.«
Die Zwillinge beobachteten, wie der schlanke Chauffeur im schwarzen Anzug ausstieg und die Eingangsstufen hinaufging, eine Hand locker auf das Eisengeländer gelegt. Er trug schwarze Handschuhe. Mit ihren geschärften Sinnen hörten die Zwillinge deutlich sein Klopfen an der Tür. Instinktiv gingen beide schneller.
Tante Agnes öffnete. Sie war eine zierliche, knochige alte Dame mit knubbeligen Knien und von Arthrose geschwollenen Fingern. Josh wusste, dass sie als junges Mädchen als große Schönheit gegolten hatte. Aber das war lange her. Sie hatte nie geheiratet und in der Familie erzählte man sich, dass ihr Liebster im Krieg gefallen sei. Josh hatte sich immer gefragt, in welchem.
»Josh?«
»Hier stimmt was nicht«, murmelte Josh. Er begann zu joggen und Sophie passte sich mühelos seinem Schritt an.
Die Zwillinge sahen, dass der Chauffeur Tante Agnes etwas hinhielt und sie es ihm aus der Hand nahm. Mit zusammengekniffenen Augen beugte sie sich über etwas, das aussah wie ein Foto. Als sie sich noch tiefer darüber beugte, schlüpfte der Mann plötzlich an ihr vorbei und stürmte ins Haus.
Josh sprintete los. »Der Wagen darf nicht wegfahren!«, rief er Sophie zu, während er schon über die Straße rannte und die Stufen zum Haus hinaufhastete. »Hallo, Tante Agnes, wir sind wieder da«, grüßte er und lief an ihr vorbei.
Die alte Dame drehte sich einmal um ihre eigene Achse; dabei fiel ihr das Foto aus den Händen.
Auch Sophie überquerte im Laufschritt die Straße, blieb dann aber hinter dem Wagen stehen. Sie bückte sich und presste die Fingerspitzen auf den hinteren Reifen an der Beifahrerseite. Dann legte sie den Daumen auf den Kreis an der Unterseite ihres Handgelenks und ihre Finger begannen, weiß zu glühen. Es stank nach verbranntem Gummi, machte fünfmal deutlich hörbar plopp und der Reifen hatte fünf Löcher. Luft strömte heraus und der Wagen sank rasch auf die Felge.
»Sophie!«, kreischte die alte Dame, als das Mädchen die Eingangsstufen herauflief und ihre verwirrte Tante an der Hand nahm. »Was ist hier los? Wo wart ihr? Wer war der nette junge Mann? War das Josh, den ich eben gesehen habe?«
»Komm mit, Tante Agnes.«
Sophie zog ihre Tante von der Tür weg, damit sie, falls Josh oder der Chauffeur wieder herausgestürmt kamen, nicht versehentlich über den Haufen gerannt wurde. Sie bückte sich und hob das Foto auf, das ihre Tante fallen gelassen hatte. Dann führte sie die alte Dame ein gutes Stück vom Haus weg. In sicherer Entfernung besah Sophie sich das vergilbte Foto.
Es zeigte eine junge Frau in Schwesterntracht - zumindest erschien es Sophie so. In die untere rechte Ecke hatte jemand mit weißer Tinte das Wort Ypres sowie die Jahreszahl 1914 geschrieben. Sophie hielt den Atem an. Die Frau auf dem Foto war ohne jeden Zweifel Scathach.
Josh betrat die dunkle Diele und drückte sich flach an die Wand. Er wartete, bis seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Noch vor einer Woche wäre ihm das nicht in den Sinn gekommen, aber vor einer Woche wäre er auch nicht hinter einem Eindringling her in ein Haus gestürmt. Er hätte getan, was man in einem solchen Fall vernünftigerweise tut, und hätte den Polizeinotruf gewählt. Jetzt griff er in den Schirmständer hinter der Tür und zog einen der stabilen Gehstöcke seiner Tante heraus. Es war nicht Clarent, aber immerhin etwas.
Josh verharrte wieder reglos, den Kopf zur Seite geneigt, und lauschte. Wo war der Fremde?
Auf dem oberen Flur knarrte es, dann kam ein schlanker junger Mann die Treppe herunter. Er trug einen schlichten schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schmaler schwarzer Krawatte. Als er Josh sah, bremste er sein Tempo etwas, blieb aber nicht stehen. Er lächelte, doch es war mehr ein Reflex als eine bewusste Geste, denn das Lächeln ging nicht über seine Lippen hinaus. Aus der Nähe sah Josh, dass es sich um einen Asiaten handelte; um einen Japaner vielleicht.
Josh löste sich von der Wand. Den Gehstock hielt er wie ein Schwert vor sich. »Wohin willst du?«
»An dir vorbei oder durch dich hindurch, für mich macht das keinen Unterschied«, antwortete der junge Mann auf Englisch mit starkem japanischem Akzent.
»Was machst du hier?«, wollte Josh wissen.
Der Fremde trat von der untersten Treppenstufe in die Diele und wollte Richtung Haustür gehen, doch Josh versperrte ihm mit dem Stock den Weg.
»Nicht so schnell. Du schuldest mir noch eine Antwort.«
Der junge Mann packte den Stock, riss ihn Josh aus den Händen und zerbrach ihn über dem Knie. Josh verzog das Gesicht. Das musste wehgetan haben. Der Mann warf die beiden Stockhälften auf den Boden. »Ich schulde dir gar nichts, aber du kannst von Glück sagen, dass ich heute gute Laune habe.«
Etwas in der Stimme des Mannes ließ Josh einen Schritt zurückweichen. Es war etwas Kaltes und Kalkulierendes, das ihn plötzlich zweifeln ließ, ob der Mann tatsächlich durch und durch menschlich war. Von der Tür aus schaute er ihm nach, wie er leichtfüßig die Eingangstreppe hinunterlief. Der Mann wollte gerade die Wagentür öffnen, da bemerkte er den hinteren Reifen.
Sophie wackelte lächelnd mit dem Finger. »Sieht so aus, als hätten Sie einen Platten.«
Josh lief rasch die Treppe hinunter und stellte sich zu seiner Schwester und der Tante.
»Was geht hier vor, Josh?«, fragte Agnes gereizt. Hinter den dicken Brillengläsern wirkten ihre grauen Augen unverhältnismäßig groß.
Das hintere Fenster an der Beifahrerseite senkte sich ein Stückweit ab, und der Japaner sagte aufgeregt etwas in den Spalt hinein, wobei er auf den Reifen zeigte.
Die Wagentür wurde abrupt aufgestoßen und eine junge Frau stieg aus. Sie trug einen maßgeschneiderten schwarzen Hosenanzug über einer weißen Seidenbluse, dazu schwarze Lederhandschuhe und eine Sonnenbrille mit kleinen runden Gläsern. Doch was sie verriet, waren das gegelte rote Haar, das wie Igelstacheln abstand, und die blasse Haut mit den Sommersprossen.
»Scathach!«, riefen Sophie und Josh voller Freude.
Die Frau lächelte und entblößte dabei ihre Vampirzähne. Als sie die Brille abnahm, sah man, dass sie leuchtend grüne Augen hatte. »Falsch«, sagte sie. »Ich bin Aoife von den Schatten, und ich will wissen, was mit meiner Zwillingsschwester passiert ist.«
Kapitel 2
»Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal hierher zurückkommen würde«, sagte Nicholas Flamel und drückte die Hintertür zu der kleinen Buchhandlung auf.
»Ich auch nicht«, erwiderte Perenelle.
Die Tür klemmte und Flamel stemmte die Schulter dagegen und drückte mit aller Kraft. Endlich ließ sie sich öffnen, das Türblatt schrammte über den gefliesten Boden, und im selben Moment stieg ihnen der Gestank in die Nase: der leicht süßliche Geruch nach vermodertem Holz und feuchtem Papier, gemischt mit ranzigem Fäulnisgeruch.
Perenelle hustete, presste eine Hand auf den Mund und blinzelte die Tränen weg, die ihr plötzlich in die Augen schossen. »Igitt!«
Flamel versuchte, möglichst flach zu atmen. Er nahm noch Spuren von Dees Schwefelgeruch in der feuchten Luft wahr, den typischen Gestank nach faulen Eiern. Die beiden gingen einen dunklen Gang hinunter. Auf beiden Seiten standen stapelweise Kartons mit antiquarischen Büchern. Die Kartons wiesen schwarze Fäulnisstreifen auf und die Deckel hatten sich bereits verzogen. Einige waren aufgebrochen und der Inhalt lag jetzt auf dem Boden.
Perenelle strich mit dem Finger über einen der Kartons. Ihre Fingerspitze war danach ganz schwarz. Sie hielt den Finger hoch, damit ihr Mann ihn sehen konnte. »Erzählst du mir, was hier los war?«
»Der Doktor und ich haben gegeneinander gekämpft«, antwortete Flamel leise.
»Das sehe ich.« Perenelle lächelte. »Und du hast gewonnen.«
»Na ja, so ein Sieg ist relativ ...« Flamel öffnete die Tür am Ende des Flurs und betrat den Verkaufsraum. »Der Laden hat leider etwas gelitten.« Er streckte den Arm nach hinten, ergriff die Hand seiner Frau und zog sie in den mit Büchern vollgestopften Raum.
»Oh, Nicholas ...«, flüsterte Perenelle.
Der Buchladen war vollkommen verwüstet.
Alles war von einer dicken Schicht grünschwarzem Schimmel überzogen und der Schwefelgestank nahm einem fast den Atem. Zwischen den zusammengebrochenen Tischen und Regalen lagen überall Bücher mit herausgerissenen Seiten, zerfetzten Umschlägen und gebrochenen Rücken. Ein großes Stück der Decke fehlte. Der Putz hing wie Stofffetzen an den Rändern herunter und man konnte die rohen Balken und zerrissenen Kabel sehen. Da, wo einmal die Kellertür gewesen war, klaffte jetzt ein Loch. Der Türrahmen war zu einer stinkenden schwarzen Masse zusammengefault, auf der schon Pilze wuchsen. Winzige weiße Maden krochen durch den Dreck. Der leuchtend bunte Teppich, der einmal mitten im Laden gelegen hatte, war zu einem hässlichen grauen Gebilde zusammengeschrumpft.
»Zerstörung und Fäulnis«, flüsterte Perenelle. »Dees Visitenkarte.«
Die große elegante Frau bahnte sich vorsichtig einen Weg in den Laden. Sobald sie etwas berührte, zerfiel es zu Staub oder einem Pulver, von dem Sporen aufstiegen. Die Bodendielen waren schwammig und klebrig und quietschten bei jedem Schritt unheilvoll. Man musste fürchten, jeden Augenblick im Keller zu landen. In der Mitte des Raumes blieb Perenelle stehen. Sie stemmte die Hände in die Hüften und drehte sich langsam um sich selbst. Ihre großen grünen Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte sie geliebt, diese Buchhandlung. Ein Jahrzehnt lang war sie ihr Zuhause und ihr Leben gewesen. Sie hatten im Lauf der Jahrhunderte in vielen Berufen gearbeitet,
doch diese Buchhandlung erinnerte sie mehr als alles andere an ihre erste Zeit mit Nicholas im 14. Jahrhundert, als er Schreiber und Buchhändler in Paris gewesen war. Damals waren sie einfache, gewöhnliche Leute gewesen, die ein unauffälliges Leben führten - bis zu jenem schicksalhaften Tag, als Nicholas von dem Mann mit dem Kapuzenumhang und den auffallend blauen Augen den Codex kaufte, das Buch Abrahams des Weisen. An diesem Tag endete ihr normales Leben und sie betraten die Welt des Außergewöhnlichen, wo nichts so war, wie es schien, und man niemandem trauen konnte.
Perenelle drehte sich zu ihrem Mann um. Er hatte sich nicht von der Tür wegbewegt und blickte sich deprimiert im Laden um. »Nicholas«, sagte sie leise, und als er den Kopf hob, fiel ihr auf, wie sehr er in der letzten Woche gealtert war. Jahrhundertelang hatte sich sein Aussehen kaum verändert. Mit seinem kurz geschorenen Haar, der glatten Haut und den hellen Augen hatte er immer ausgesehen, als sei er um die fünfzig Jahre alt. So alt war er gewesen, als sie angefangen hatten den Unsterblichkeitstrunk zu brauen. Jetzt sah er aus wie mindestens siebzig.
Die Haare auf seinem Kopf waren grau und in seine Stirn hatten sich tiefe Falten eingegraben. Auch um die Augenwinkel herum war die Haut faltig und die Augen selbst lagen tief in den Höhlen. Auf seinen Handrücken waren dunkle Altersflecke zu erkennen.
Der Alchemyst sah ihren Blick und lächelte bedauernd. »Ich weiß, ich sehe alt aus - für jemanden, der sechshundertundsiebenundsiebzig Jahre gelebt hat, aber wiederum gar nicht so schlecht.«
Übersetzung: Ursula Höfker
© 2011 für die deutschsprachige Ausgabe cbj, München
»Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal hierher zurückkomme«, sagte Sophie Newman und grinste ihren Bruder an.
»Und ich hätte nie gedacht, dass ich mich so darüber freuen würde«, erwiderte Josh. »Es sieht alles so ... ich weiß auch nicht ... anders aus.«
Es sieht noch genauso aus wie immer«, fand seine Schwester. »Wir sind es, die sich verändert haben.«
Sophie und Josh gingen die Scott Street in Pacific Heights, einem Stadtviertel von San Francisco, hinunter. Sie steuerten das Haus ihrer Tante Agnes an der Ecke zur Sacramento Street an. Vor sechs Tagen - am Donnerstag, den 31. Mai - hatten sie die Tante zum letzten Mal gesehen und waren von ihrem Haus aus zur Arbeit gegangen, Sophie ins Café und Josh in die Buchhandlung. Es war ein ganz gewöhnlicher Tag gewesen ... Der letzte gewöhnliche Tag in ihrem Leben, wie sich herausgestellt hatte.
An diesem Tag hatte sich ihre Welt für immer verändert.
Auch sie hatten sich verändert, und zwar physisch wie psychisch.
»Was sagen wir ihr?«, fragte Josh nervös.
Tante Agnes war 84 Jahre alt, und auch wenn die beiden sie Tante nannten, waren sie nicht blutsverwandt mit ihr. Sophie vermutete, Agnes sei vielleicht die Schwester ihrer Großmutter ... oder eine Cousine oder auch nur eine Freundin. Sicher wusste sie es nicht. Sie war eine ganz liebe, aber leicht aus der Fassung zu bringende alte Dame, die schon in helle Aufregung geriet, wenn die Zwillinge auch nur fünf Minuten zu spät kamen. Sie trieb die beiden in den Wahnsinn und erstattete ihren Eltern über so gut wie alles, was sie taten, Bericht.
»Nur nichts Kompliziertes«, antwortete Sophie. »Wir bleiben bei der Geschichte, die wir Mom und Dad erzählt haben: Zuerst hat die Buchhandlung geschlossen, weil es Perenelle nicht gut ging, und dann haben die Flamels -«
»Die Flemings«, korrigierte Josh.
»... die Flemings uns eingeladen, ein paar Tage mit ihnen in ihrem Haus in der Wüste zu verbringen.«
»Und warum musste die Buchhandlung schließen?«
»Ein Leck in der Gasleitung.«
Josh nickte. »Ein Leck in der Gasleitung. Und wo genau ist das Haus in der Wüste?«
»Joshua Tree.«
»Okay, alles klar.«
»Sicher? Du bist ein miserabler Lügner.«
Josh zuckte mit den Schultern. »Ich werde mich anstrengen. Du weißt, dass sie uns ganz schön was husten wird, ja?«
»Ich weiß. Und das ist erst der Anfang. Danach müssen wir auch noch mit Mom und Dad sprechen.«
Wieder nickte Josh. Dann sah er seine Schwester an. Schon seit Tagen hatte er sich heftig Gedanken über etwas gemacht. Jetzt hielt er den Zeitpunkt für günstig, die Sache zur Sprache zu bringen. »Ich habe mir überlegt«, begann er zögernd, »ob wir ihnen nicht einfach die Wahrheit sagen sollten.«
»Die Wahrheit?« An Sophies Miene war nichts abzulesen.
Die Zwillinge überquerten die Jackson Street. Drei Blocks weiter vorn konnten sie schon das weiße, im viktorianischen Stil erbaute Haus der Tante sehen.
»Was hältst du davon?«, fragte Josh nach, als seine Schwester schwieg.
Endlich nickte Sophie. »Klar, könnten wir.« Sie strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und sah ihren Bruder an. »Aber du weißt schon, was das heißt, ja? Wir verklickern Mom und Dad, dass ihr gesamtes Lebenswerk für die Katz war. Dass alles, was sie studiert haben - Geschichte, Archäologie und Paläontologie -, so nicht stimmt.« Ihre Augen weiteten sich. »Super Idee. Mach das mal. Ich lass dir gerne den Vortritt und schau es mir an.«
Josh zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Okay, okay, dann sagen wir es ihnen eben nicht.«
»Zumindest jetzt noch nicht.«
»Einverstanden. Aber früher oder später erfahren sie es doch. Du weißt selbst, dass es unmöglich ist, Geheimnisse vor ihnen zu haben. Sie kriegen immer alles raus.«
»Weil Tante Agnes petzt«, murmelte Sophie.
Eine glänzende schwarze Stretchlimousine mit getönten Scheiben fuhr langsam an den Zwillingen vorbei. Der Fahrer hatte sich vorgebeugt und versuchte, durch die Bäume entlang der Straße die Hausnummern zu erkennen. Der Wagen blinkte und hielt ein Stück weiter vorn an.
Josh wies mit dem Kinn darauf. »Komisch. Sieht so aus, als würde er vor Tante Agnes' Haus halten.«
Sophie blickte in Gedanken versunken auf. »Wenn wir nur mit jemandem reden könnten. Mit jemandem wie Gilgamesch.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich hoffe, es geht ihm gut.« Als sie den Unsterblichen das letzte Mal gesehen hatte, war er verwundet gewesen. Ein Pfeil des gehörnten Gottes hatte ihn getroffen. Sophie sah ihren Bruder an und stellte ärgerlich fest: »Du hörst mir ja gar nicht zu.«
»Der Wagen hält tatsächlich vor Tante Agnes' Haus«, stellte Josh leise fest. Seine Kopfhaut kribbelte. War das eine Warnung? »Sophie?«
»Was ist denn?«
»Wann hatte Tante Agnes das letzte Mal Besuch?«
»Sie bekommt nie Besuch.«
Die Zwillinge beobachteten, wie der schlanke Chauffeur im schwarzen Anzug ausstieg und die Eingangsstufen hinaufging, eine Hand locker auf das Eisengeländer gelegt. Er trug schwarze Handschuhe. Mit ihren geschärften Sinnen hörten die Zwillinge deutlich sein Klopfen an der Tür. Instinktiv gingen beide schneller.
Tante Agnes öffnete. Sie war eine zierliche, knochige alte Dame mit knubbeligen Knien und von Arthrose geschwollenen Fingern. Josh wusste, dass sie als junges Mädchen als große Schönheit gegolten hatte. Aber das war lange her. Sie hatte nie geheiratet und in der Familie erzählte man sich, dass ihr Liebster im Krieg gefallen sei. Josh hatte sich immer gefragt, in welchem.
»Josh?«
»Hier stimmt was nicht«, murmelte Josh. Er begann zu joggen und Sophie passte sich mühelos seinem Schritt an.
Die Zwillinge sahen, dass der Chauffeur Tante Agnes etwas hinhielt und sie es ihm aus der Hand nahm. Mit zusammengekniffenen Augen beugte sie sich über etwas, das aussah wie ein Foto. Als sie sich noch tiefer darüber beugte, schlüpfte der Mann plötzlich an ihr vorbei und stürmte ins Haus.
Josh sprintete los. »Der Wagen darf nicht wegfahren!«, rief er Sophie zu, während er schon über die Straße rannte und die Stufen zum Haus hinaufhastete. »Hallo, Tante Agnes, wir sind wieder da«, grüßte er und lief an ihr vorbei.
Die alte Dame drehte sich einmal um ihre eigene Achse; dabei fiel ihr das Foto aus den Händen.
Auch Sophie überquerte im Laufschritt die Straße, blieb dann aber hinter dem Wagen stehen. Sie bückte sich und presste die Fingerspitzen auf den hinteren Reifen an der Beifahrerseite. Dann legte sie den Daumen auf den Kreis an der Unterseite ihres Handgelenks und ihre Finger begannen, weiß zu glühen. Es stank nach verbranntem Gummi, machte fünfmal deutlich hörbar plopp und der Reifen hatte fünf Löcher. Luft strömte heraus und der Wagen sank rasch auf die Felge.
»Sophie!«, kreischte die alte Dame, als das Mädchen die Eingangsstufen herauflief und ihre verwirrte Tante an der Hand nahm. »Was ist hier los? Wo wart ihr? Wer war der nette junge Mann? War das Josh, den ich eben gesehen habe?«
»Komm mit, Tante Agnes.«
Sophie zog ihre Tante von der Tür weg, damit sie, falls Josh oder der Chauffeur wieder herausgestürmt kamen, nicht versehentlich über den Haufen gerannt wurde. Sie bückte sich und hob das Foto auf, das ihre Tante fallen gelassen hatte. Dann führte sie die alte Dame ein gutes Stück vom Haus weg. In sicherer Entfernung besah Sophie sich das vergilbte Foto.
Es zeigte eine junge Frau in Schwesterntracht - zumindest erschien es Sophie so. In die untere rechte Ecke hatte jemand mit weißer Tinte das Wort Ypres sowie die Jahreszahl 1914 geschrieben. Sophie hielt den Atem an. Die Frau auf dem Foto war ohne jeden Zweifel Scathach.
Josh betrat die dunkle Diele und drückte sich flach an die Wand. Er wartete, bis seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Noch vor einer Woche wäre ihm das nicht in den Sinn gekommen, aber vor einer Woche wäre er auch nicht hinter einem Eindringling her in ein Haus gestürmt. Er hätte getan, was man in einem solchen Fall vernünftigerweise tut, und hätte den Polizeinotruf gewählt. Jetzt griff er in den Schirmständer hinter der Tür und zog einen der stabilen Gehstöcke seiner Tante heraus. Es war nicht Clarent, aber immerhin etwas.
Josh verharrte wieder reglos, den Kopf zur Seite geneigt, und lauschte. Wo war der Fremde?
Auf dem oberen Flur knarrte es, dann kam ein schlanker junger Mann die Treppe herunter. Er trug einen schlichten schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schmaler schwarzer Krawatte. Als er Josh sah, bremste er sein Tempo etwas, blieb aber nicht stehen. Er lächelte, doch es war mehr ein Reflex als eine bewusste Geste, denn das Lächeln ging nicht über seine Lippen hinaus. Aus der Nähe sah Josh, dass es sich um einen Asiaten handelte; um einen Japaner vielleicht.
Josh löste sich von der Wand. Den Gehstock hielt er wie ein Schwert vor sich. »Wohin willst du?«
»An dir vorbei oder durch dich hindurch, für mich macht das keinen Unterschied«, antwortete der junge Mann auf Englisch mit starkem japanischem Akzent.
»Was machst du hier?«, wollte Josh wissen.
Der Fremde trat von der untersten Treppenstufe in die Diele und wollte Richtung Haustür gehen, doch Josh versperrte ihm mit dem Stock den Weg.
»Nicht so schnell. Du schuldest mir noch eine Antwort.«
Der junge Mann packte den Stock, riss ihn Josh aus den Händen und zerbrach ihn über dem Knie. Josh verzog das Gesicht. Das musste wehgetan haben. Der Mann warf die beiden Stockhälften auf den Boden. »Ich schulde dir gar nichts, aber du kannst von Glück sagen, dass ich heute gute Laune habe.«
Etwas in der Stimme des Mannes ließ Josh einen Schritt zurückweichen. Es war etwas Kaltes und Kalkulierendes, das ihn plötzlich zweifeln ließ, ob der Mann tatsächlich durch und durch menschlich war. Von der Tür aus schaute er ihm nach, wie er leichtfüßig die Eingangstreppe hinunterlief. Der Mann wollte gerade die Wagentür öffnen, da bemerkte er den hinteren Reifen.
Sophie wackelte lächelnd mit dem Finger. »Sieht so aus, als hätten Sie einen Platten.«
Josh lief rasch die Treppe hinunter und stellte sich zu seiner Schwester und der Tante.
»Was geht hier vor, Josh?«, fragte Agnes gereizt. Hinter den dicken Brillengläsern wirkten ihre grauen Augen unverhältnismäßig groß.
Das hintere Fenster an der Beifahrerseite senkte sich ein Stückweit ab, und der Japaner sagte aufgeregt etwas in den Spalt hinein, wobei er auf den Reifen zeigte.
Die Wagentür wurde abrupt aufgestoßen und eine junge Frau stieg aus. Sie trug einen maßgeschneiderten schwarzen Hosenanzug über einer weißen Seidenbluse, dazu schwarze Lederhandschuhe und eine Sonnenbrille mit kleinen runden Gläsern. Doch was sie verriet, waren das gegelte rote Haar, das wie Igelstacheln abstand, und die blasse Haut mit den Sommersprossen.
»Scathach!«, riefen Sophie und Josh voller Freude.
Die Frau lächelte und entblößte dabei ihre Vampirzähne. Als sie die Brille abnahm, sah man, dass sie leuchtend grüne Augen hatte. »Falsch«, sagte sie. »Ich bin Aoife von den Schatten, und ich will wissen, was mit meiner Zwillingsschwester passiert ist.«
Kapitel 2
»Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal hierher zurückkommen würde«, sagte Nicholas Flamel und drückte die Hintertür zu der kleinen Buchhandlung auf.
»Ich auch nicht«, erwiderte Perenelle.
Die Tür klemmte und Flamel stemmte die Schulter dagegen und drückte mit aller Kraft. Endlich ließ sie sich öffnen, das Türblatt schrammte über den gefliesten Boden, und im selben Moment stieg ihnen der Gestank in die Nase: der leicht süßliche Geruch nach vermodertem Holz und feuchtem Papier, gemischt mit ranzigem Fäulnisgeruch.
Perenelle hustete, presste eine Hand auf den Mund und blinzelte die Tränen weg, die ihr plötzlich in die Augen schossen. »Igitt!«
Flamel versuchte, möglichst flach zu atmen. Er nahm noch Spuren von Dees Schwefelgeruch in der feuchten Luft wahr, den typischen Gestank nach faulen Eiern. Die beiden gingen einen dunklen Gang hinunter. Auf beiden Seiten standen stapelweise Kartons mit antiquarischen Büchern. Die Kartons wiesen schwarze Fäulnisstreifen auf und die Deckel hatten sich bereits verzogen. Einige waren aufgebrochen und der Inhalt lag jetzt auf dem Boden.
Perenelle strich mit dem Finger über einen der Kartons. Ihre Fingerspitze war danach ganz schwarz. Sie hielt den Finger hoch, damit ihr Mann ihn sehen konnte. »Erzählst du mir, was hier los war?«
»Der Doktor und ich haben gegeneinander gekämpft«, antwortete Flamel leise.
»Das sehe ich.« Perenelle lächelte. »Und du hast gewonnen.«
»Na ja, so ein Sieg ist relativ ...« Flamel öffnete die Tür am Ende des Flurs und betrat den Verkaufsraum. »Der Laden hat leider etwas gelitten.« Er streckte den Arm nach hinten, ergriff die Hand seiner Frau und zog sie in den mit Büchern vollgestopften Raum.
»Oh, Nicholas ...«, flüsterte Perenelle.
Der Buchladen war vollkommen verwüstet.
Alles war von einer dicken Schicht grünschwarzem Schimmel überzogen und der Schwefelgestank nahm einem fast den Atem. Zwischen den zusammengebrochenen Tischen und Regalen lagen überall Bücher mit herausgerissenen Seiten, zerfetzten Umschlägen und gebrochenen Rücken. Ein großes Stück der Decke fehlte. Der Putz hing wie Stofffetzen an den Rändern herunter und man konnte die rohen Balken und zerrissenen Kabel sehen. Da, wo einmal die Kellertür gewesen war, klaffte jetzt ein Loch. Der Türrahmen war zu einer stinkenden schwarzen Masse zusammengefault, auf der schon Pilze wuchsen. Winzige weiße Maden krochen durch den Dreck. Der leuchtend bunte Teppich, der einmal mitten im Laden gelegen hatte, war zu einem hässlichen grauen Gebilde zusammengeschrumpft.
»Zerstörung und Fäulnis«, flüsterte Perenelle. »Dees Visitenkarte.«
Die große elegante Frau bahnte sich vorsichtig einen Weg in den Laden. Sobald sie etwas berührte, zerfiel es zu Staub oder einem Pulver, von dem Sporen aufstiegen. Die Bodendielen waren schwammig und klebrig und quietschten bei jedem Schritt unheilvoll. Man musste fürchten, jeden Augenblick im Keller zu landen. In der Mitte des Raumes blieb Perenelle stehen. Sie stemmte die Hände in die Hüften und drehte sich langsam um sich selbst. Ihre großen grünen Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte sie geliebt, diese Buchhandlung. Ein Jahrzehnt lang war sie ihr Zuhause und ihr Leben gewesen. Sie hatten im Lauf der Jahrhunderte in vielen Berufen gearbeitet,
doch diese Buchhandlung erinnerte sie mehr als alles andere an ihre erste Zeit mit Nicholas im 14. Jahrhundert, als er Schreiber und Buchhändler in Paris gewesen war. Damals waren sie einfache, gewöhnliche Leute gewesen, die ein unauffälliges Leben führten - bis zu jenem schicksalhaften Tag, als Nicholas von dem Mann mit dem Kapuzenumhang und den auffallend blauen Augen den Codex kaufte, das Buch Abrahams des Weisen. An diesem Tag endete ihr normales Leben und sie betraten die Welt des Außergewöhnlichen, wo nichts so war, wie es schien, und man niemandem trauen konnte.
Perenelle drehte sich zu ihrem Mann um. Er hatte sich nicht von der Tür wegbewegt und blickte sich deprimiert im Laden um. »Nicholas«, sagte sie leise, und als er den Kopf hob, fiel ihr auf, wie sehr er in der letzten Woche gealtert war. Jahrhundertelang hatte sich sein Aussehen kaum verändert. Mit seinem kurz geschorenen Haar, der glatten Haut und den hellen Augen hatte er immer ausgesehen, als sei er um die fünfzig Jahre alt. So alt war er gewesen, als sie angefangen hatten den Unsterblichkeitstrunk zu brauen. Jetzt sah er aus wie mindestens siebzig.
Die Haare auf seinem Kopf waren grau und in seine Stirn hatten sich tiefe Falten eingegraben. Auch um die Augenwinkel herum war die Haut faltig und die Augen selbst lagen tief in den Höhlen. Auf seinen Handrücken waren dunkle Altersflecke zu erkennen.
Der Alchemyst sah ihren Blick und lächelte bedauernd. »Ich weiß, ich sehe alt aus - für jemanden, der sechshundertundsiebenundsiebzig Jahre gelebt hat, aber wiederum gar nicht so schlecht.«
Übersetzung: Ursula Höfker
© 2011 für die deutschsprachige Ausgabe cbj, München
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Autoren-Porträt von Michael Scott
Michael Scott ist einer der erfolgreichsten und profiliertesten Autoren Irlands und ein international anerkannter Fachmann für mythen- und kulturgeschichtliche Themen. Seine zahlreichen Fantasy- und Science-Fiction-Romane für Jugendliche wie für Erwachsene sind in mehr als zwanzig Ländern veröffentlicht. Seine Reihe um die "Geheimnisse des Nicholas Flamel" ist ein internationaler Bestseller. Michael Scott lebt und schreibt in Dublin. Ursula Höfker arbeitete nach Schule und Studium der Angewandten Sprachwissenschaften in verschiedenen Buch- und Zeitschriftenverlagen, bevor sie sich nach einem kurzen Abstecher in die USA in ihrem Heimatdorf als freiberufliche Übersetzerin selbständig machte. Seither lebt sie in Süddeutschland und träumt von ihrem alten Häuschen in der Toskana, das sie viel zu selten sieht.
Bibliographische Angaben
- Autor: Michael Scott
- Altersempfehlung: Ab 12 Jahre
- 2012, 448 Seiten, Maße: 12,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Ursula Höfker
- Verlag: cbt
- ISBN-10: 357040157X
- ISBN-13: 9783570401576
- Erscheinungsdatum: 06.11.2012
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