Der Professor
Psychothriller
Der pensionierte Professor Adrian Thomas ist des Lebens überdrüssig - zumal ihm sein Arzt eben eine rasch fortschreitende Demenz attestiert hat. Da wird er auf offener Straße einziger Zeuge einer Entführung. Oder ist das schon Teil seiner Krankheit?
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Professor “
Der pensionierte Professor Adrian Thomas ist des Lebens überdrüssig - zumal ihm sein Arzt eben eine rasch fortschreitende Demenz attestiert hat. Da wird er auf offener Straße einziger Zeuge einer Entführung. Oder ist das schon Teil seiner Krankheit?
Klappentext zu „Der Professor “
Der pensionierte Psychologieprofessor Adrian Thomas bekommt von seinem Arzt eine niederschmetternde Diagnose: Demenz. Damit haben sich seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Vor seinem inneren Auge erscheint die Schreckensvision seines unaufhaltsamen, unheilbaren Abgleitens in die Dunkelheit. Verstört blickt der alte Mann auf die Straße hinaus und sieht in der anbrechenden Dämmerung ein vielleicht sechzehnjähriges Mädchen vorübereilen. Gleichzeitig rollt ein Lieferwagen heran, bremst ab und beschleunigt wieder: Das Mädchen ist verschwunden. Der alte Professor ist verwirrt. Hat er gerade eine Entführung beobachtet? Wenn es tatsächlich ein Verbrechen war, muss er handeln. Die Frage ist nur, wie. Kann er noch klar genug denken, um das Mädchen zu finden?
Der pensionierte Psychologieprofessor Adrian Thomas bekommt von seinem Arzt eine niederschmetternde Diagnose: Demenz. Noch immer unter dem Eindruck der bestürzenden Nachricht blickt der alte Mann auf die Straße hinaus und sieht ein etwa sechzehnjähriges Mädchen vorübereilen. Gleichzeitig rollt ein Lieferwagen heran, bremst ab und beschleunigt wieder: Das Mädchen ist verschwunden. Der Professor ist verwirrt. Täuscht er sich, oder ist er gerade Zeuge einer Entführung geworden? Wenn er tatsächlich ein Verbrechen beobachtet hat, muss er handeln - das ist er sich schuldig. Die Frage ist nur, wie. Wird ihm seine Krankheit die Chance lassen, das Richtige zu tun?
Lese-Probe zu „Der Professor “
Der Professor von John Katzenbach1
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Als die Tür aufging, wusste Adrian, dass er tot war. Der hastig abgewandte Blick, die eingezogenen Schultern, die nervösen, gehetzten Schritte, mit denen der Arzt das Zimmer durchquerte, ließen keinen Zweifel. Fragte sich also nur: Wie viel Zeit bleibt mir noch? Wie schlimm wird es werden?
Die Antworten ließen nicht lange auf sich warten.
Adrian Thomas sah zu, wie der Neurologe in den Testergebnissen blätterte, bevor er sich hinter seinem großen Eichenschreibtisch verschanzte. Der Arzt lehnte sich im Sessel zurück, beugte sich wieder vor, blickte auf und sagte endlich: »Die Untersuchungsergebnisse schließen die meisten naheliegenden Diagnosen aus ...«
Adrian hatte nichts anderes erwartet. MRT. EKG. EEG. Blut. Urin. Ultraschall. Hirnszintigramm. Eine ganze Phalanx an kognitiven Funktionstests. Inzwischen waren über neun Monate vergangen, seit er zum ersten Mal festgestellt hatte, dass er Dinge vergaß, die man sich gewöhnlich leicht merken konnte. Wie er zum Baumarkt gefahren war, wo er plötzlich vor dem Regal mit Glühbirnen stand und nicht den blassesten Schimmer hatte, was er kaufen wollte; wie er einmal in der Stadt einem alten Kollegen über den Weg gelaufen war und ihm ums Verrecken der Name nicht mehr einfiel, obwohl der Mann zwanzig Jahre lang im Dozentenzimmer nebenan gesessen hatte. Vor sechs Tagen dann hatte er abends eine geschlagene Stunde lang im Wohnzimmer ihres Hauses im westlichen Massachusetts mit seiner längst verstorbenen Frau angeregt geplaudert. Sie hatte sogar in ihrem geliebten Queen-Anne-Sessel mit dem Paisley-Bezug vor dem Kamin gesessen.
Als ihm schließlich dämmerte, was gerade geschehen war, hatte er nicht geglaubt, dass ein Computerausdruck oder eine Farbfotografie von seiner Gehirnstruktur diese Dinge sichtbar machen würde. Trotzdem hatte er sich pflichtbewusst einen Notfalltermin bei seinem Internisten geben lassen, der ihn unverzüglich an den Facharzt weiterverwies. Dort beantwortete er geduldig jede Frage, ließ sich abtasten, stupsen und röntgen.
Als seine tote Frau wieder verschwunden war und er zu seinem Entsetzen erkannte, was passiert war, hatte er den Schluss gezogen, dass er auf dem besten Wege war, verrückt zu werden - eine laienhafte, undifferenzierte Bezeichnung für Psychose oder Schizophrenie. Andererseits hatte er sich nicht verrückt gefühlt. In Wahrheit hatte er sich sogar recht gut gefühlt, als sei es völlig normal, stundenlang mit einem Menschen zu reden, der seit drei Jahren tot war. Sie hatten sich über seine zunehmende Einsamkeit unterhalten, darüber, weshalb er nach ihrem Tod und nach seiner Emeritierung auf einmal angefangen hatte, an der Uni unentgeltlich Seminare abzuhalten. Sie hatten über die neuesten Filme, über interessante Bücher diskutiert und darüber gesprochen, ob sie sich dieses Jahr im Juni ein paar Wochen Auszeit auf Cape Cod gönnen sollten.
Noch während er dem Neurologen gegenübersaß, kam ihm der Gedanke, dass es ein schrecklicher Fehler gewesen war, die Halluzinationen auch nur eine Sekunde lang für ein Krankheitssymptom zu halten. Er hätte von Anfang an erkennen sollen, dass sie ein Segen waren. Er war nunmehr ganz allein, und es wäre doch angenehm, sein Leben für die Spanne, die ihm auf Erden noch blieb, wieder mit Menschen zu bevölkern, die er einmal geliebt hatte, ob sie nun existierten oder nicht.
»Ihre Symptome deuten darauf hin ...«
Er wollte gar nicht hören, was der Arzt ihm zu sagen hatte, der ihn mit einem gequälten Ausdruck ansah und der viel jünger war als er selbst. Irgendwie war es unfair, von einem so jungen Mann gesagt zu bekommen, dass man todkrank war. Das hätte allenfalls einem grauhaarigen Gott in Weiß zugestanden, in dessen müder, sonorer Stimme die Erfahrung eines langen Berufslebens mitschwang, und nicht diesem Grünschnabel mit der Fistelstimme, der unbehaglich auf seinem Sessel wippte. Er hasste das sterile, hell erleuchtete Sprechzimmer mit seinen gerahmten Diplomen und den Bücherregalen, in denen die medizinische Fachliteratur bestimmt nur zur Zierde stand. Der Mann war der Typ, der sich die nötigen Informationen schnell und bequem auf dem Computer oder einem Blackberry besorgte. Adrian blickte an dem Doktor vorbei aus dem Fenster und sah, wie sich auf den belaubten Zweigen einer Weide eine Krähe niederließ. Es schien, als würde der Arzt seinen Sermon in einer fernen Welt herunterleiern, an der er von diesem Moment an kaum noch Anteil hatte. Einen kleinen Anteil vielleicht. Einen unmaßgeblichen Anteil. Eine Sekunde lang stellte er sich vor, dass er lieber der Krähe zuhören sollte, und plötzlich stellte er schockiert und verwirrt fest, dass er für einen Augenblick dachte, es sei die Krähe, die ihm diesen Vortrag hielt. Da das eher unwahrscheinlich war, senkte er den Blick und zwang sich, dem Doktor zuzuhören.
»... Es tut mir leid, Professor Thomas«, sagte der Neurologe zögernd. Er wählte seine Worte mit Bedacht. »Aber ich glaube, Sie leiden in fortgeschrittenem Stadium an einer relativ seltenen Krankheit namens Lewy-Körper-Demenz. Sagt Ihnen das was?«
Vage, ja. Er hatte den Begriff schon ein-, zweimal gehört, wenn ihm auch nicht gleich einfiel, wo. Vielleicht hatte ihn einer der Kollegen am Psychologischen Institut der Universität einmal verwendet, um ein Forschungsprojekt zu begründen oder sich über ein Förderantragsverfahren zu beklagen. Er schüttelte trotzdem den Kopf. Besser, er hörte die ungeschminkte Wahrheit von einem Experten auf diesem Gebiet, auch wenn der Arzt viel zu jung war.
Die Worte flogen ihm wie Schutt nach einer Explosion um die Ohren und rieselten wie Trümmerstaub auf die Schreibtischplatte: Stetig. Fortschreitend. Rapide Verschlechterung. Halluzinationen. Kontrollverlust der Körperfunktionen. Verlust des kritischen Denkvermögens. Verlust des Kurzzeitgedächtnisses. Verlust des Langzeitgedächtnisses.
Und schließlich das Todesurteil: »Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber typischerweise gehen wir von fünf bis sieben Jahren aus. Vielleicht. Und ich glaube, dass Sie ...« - der Arzt legte eine Pause ein und blickte auf seine Notizen, bevor er fortfuhr - »... bereits seit mindestens einem Jahr an dieser Krankheit leiden, somit wäre dies die maximale Lebenserwartung. In den meisten Fällen schreitet die Krankheit bedeutend schneller fort ...«
Nach kurzem Zögern folgte ein serviles »Wenn Sie eine zweite Meinung einholen wollen ...«.
Wieso, fragte Adrian sich, sollte er eine schlechte Nachricht zweimal hören wollen?
Und dann ein weiterer und einigermaßen vorhersehbarer Schlag: »... Die Krankheit ist nicht heilbar. Es gibt Medikamente, die einige der Symptome lindern können - Alzheimer-Mittel, atypische Antipsychotika, um die Trugbilder und Wahnvorstellungen zu behandeln -, doch garantieren können wir nichts, und oft bringen sie keine signifikante Besserung mit sich. Doch man sollte es damit probieren, um zu sehen, ob sie die Funktionen für eine gewisse Zeit aufrechterhalten ...« Adrian wartete eine kleine Pause ab, bevor er sagte: »Aber ich fühle mich nicht krank.«
Der Neurologe nickte. »Auch das ist leider typisch. Für einen Mann Mitte sechzig sind Sie in einer ausgezeichneten körperlichen Verfassung. Sie haben das Herz eines viel jüngeren Mannes ...«
»Viel Sport und Joggen ...«
»Nun, das ist gut.«
»Demnach bin ich gesund genug, um bei meinem eigenen Verfall zuzusehen? Wie von einem Ringplatz bei meinem eigenen K.o.?«
Der Neurologe ließ sich mit der Antwort Zeit. »Ja ...«, sagte er schließlich. »Aus einigen Studien können wir den Schluss ziehen, dass möglichst viel geistige Betätigung in Kombination mit einem körperlich aktiven Alltag sowie Sport die Wirkung auf die Stirnlappen, in denen die Krankheit lokalisiert ist, teilweise verzögern können.«
Adrian nickte. Das wusste er. Ebenso wie er wusste, dass die Stirnlappen für Entscheidungsprozesse zuständig sind und für die Fähigkeit, die Welt zu begreifen. Die Stirnlappen waren mehr oder weniger der Teil seines Gehirns, der ihn zu dem gemacht hatte, der er war, und der ihn jetzt zu einem vollkommen anderen und wahrscheinlich nicht wiederzuerkennenden Menschen machen würde. Von einem Moment zum anderen rechnete er nicht mehr damit, noch lange Adrian Thomas zu sein.
Dieser Gedanke beschäftigte ihn, und er hörte dem Neurologen nicht länger zu, bis die Frage in sein Bewusstsein drang: »Haben Sie zu Hause Hilfe? Frau? Kinder? Andere Angehörige? Es wird nicht lange dauern, bis Sie auf eine gute Versorgung angewiesen sind. Danach werden Sie in eine Pflegeeinrichtung wechseln müssen. Ich würde möglichst bald mit diesen Menschen sprechen. Ihnen begreiflich machen, was Ihnen bevorsteht ...« Während er das sagte, griff der Arzt nach einem Rezeptblock und machte sich zügig daran, reihenweise Medikamente aufzuschreiben.
Adrian lächelte. »Ich habe alle Hilfe, die ich brauchen werde, zu Hause.«
Die Neun-Millimeter-Halbautomatik Mister Ruger, dachte er. Die Waffe befand sich in der obersten Nachttischschublade neben seinem Bett. Das Dreizehn-Schuss-Magazin war zwar voll, doch ihm würde eine Kugel genügen.
Der Arzt sagte noch einiges über häusliche Krankenpflege und Versicherungsbeiträge, über Vollmachten und Patientenverfügungen, längere Krankenhausaufenthalte und die Notwendigkeit, alle seine künftigen Arzttermine einzuhalten, seine Medikamente zu nehmen - auch wenn sie den Krankheitsverlauf kaum beeinflussen würden, könnten sie ja immerhin ein wenig helfen. Adrian erkannte, dass er den weiteren Ausführungen des Arztes keine Beachtung mehr zu schenken brauchte.
Eingebettet in die Parzellen ehemaliger landwirtschaftlicher Flächen am Rande von Adrians kleiner Universitätsstadt, auf denen exklusive herrschaftliche Wohnsitze entstanden waren, befand sich ein Naturschutzgebiet mit einem Wildpark, der sich über einen bescheidenen Hügel erstreckte - von den Bewohnern als Berg bezeichnet, kam er in Wahrheit eher einer topographischen Bodenwelle gleich.
Zum Mount Pollux wand sich ein Wanderweg hinauf, der zunächst durch den Wald und dann zu einer Lichtung führte, wo man einen prächtigen Ausblick über das Tal hatte. Es hatte ihn schon immer gestört, dass es neben dem Mount Pollux nicht auch noch einen Mount Castor gab, und er hatte sich gefragt, wer dem Hügel einen so hochtrabenden Namen gegeben hatte. Irgendein aufgeblasener Akademiker vermutlich, ein Mitglied der Fakultät vor zweihundert Jahren, als sie den Studenten am College in schwarzem Zwirn und gestärktem weißem Kragen die klassische Bildung eintrichterten. Doch trotz des fragwürdigen Namens und des allzu ehrenvollen Titels »Mount« war ihm dieser Ort im Lauf der Jahre ans Herz gewachsen. Es war ein stilles Fleckchen Erde, das die Hunde der Umgebung liebten, weil sie hier ohne Leine tollen durften, und das er selber mochte, weil er hier mit seinen Gedanken allein sein konnte.
Er stellte seinen alten Volvo in einer Parkbucht am unteren Ende des Weges ab und machte sich zu Fuß an den vertrauten Aufstieg. Normalerweise hätte er bei dem aufgeweichten Boden Wanderstiefel getragen, und ihm war bewusst, dass er wahrscheinlich nicht weit kommen würde, ohne seine Schuhe zu ruinieren, doch er sagte sich, dass er sich darum jetzt keine Gedanken mehr zu machen brauchte.
Der Nachmittag ging bereits zur Neige, und es zog ihm kalt den Rücken hoch. Er war für einen Spaziergang nicht richtig angezogen, und mit der Abenddämmerung schwebte ein letzter Winterhauch über die Wälder von Neuengland. Neben seinen durchnässten Schuhen ignorierte er auch die Kälte.
Auf dem Pfad begegnete er keiner Menschenseele. Keine Golden Retriever, die auf einer Spur durchs Unterholz schossen. Nur Adrian mit stetigem Schritt. Er war dankbar für die Einsamkeit. Ihm kam der seltsame Gedanke, dass er womöglich bei einer zufälligen Begegnung einem wildfremden Menschen erzählen würde: »Ich habe eine Krankheit, von der Sie noch nie gehört haben und an der ich sterben werde, nur dass sie mich bis dahin langsam, aber sicher lahmlegt.«
Mit Krebs oder einer Herzerkrankung, dachte er, blieb man, während es einen umbrachte, zumindest der Mensch, der man war. Er empfand Wut und hätte am liebsten um sich geschlagen, doch stattdessen marschierte er einfach nur weiter den Hügel hinauf. Er horchte auf seinen Atem. Der war regelmäßig. Normal. Kein bisschen angestrengt. Ein gequältes Röcheln wäre ihm bedeutend lieber gewesen, irgendetwas, das ihm sagte, es gehe mit ihm zu Ende.
Bis zum Gipfel, wenn man es so nennen wollte, brauchte er ungefähr eine halbe Stunde. Eine Hügelkette im Westen streifte das letzte Sonnenlicht, und er setzte sich auf eine große Moräne aus Schiefergestein und starrte ins Tal. Die ersten Zeichen des Neuengland-Frühlings waren schon deutlich zu erkennen. Er sah die ersten Blumen, vor allem gelbe und violette Krokusse, die aus der feuchten Erde gekrochen waren, erste grüne Blattknospen bedeckten die Zweige der Bäume wie ein Dreitagebart. Über ihm formierte sich ein Schwarm kanadischer Wildgänse auf dem Flug nach Norden zu einem lang gestreckten V. Ihr heiseres Schreien hallte vom blassblauen Himmel wider. Das alles war so normal, dass er sich ein wenig albern vorkam, weil das, was in ihm vor sich ging, mit dem Rest der Welt nicht im Einklang war.
In der Ferne konnte er die Türme der Kirche im Zentrum des Universitätscampus erkennen. Das Baseballteam würde im Schlagtunnel trainieren, weil das Feld noch unter einer Plane steckte. Nicht weit davon hatte er sein Dozentenzimmer gehabt und - wenn er um diese Jahreszeit nachmittags das Fenster öffnete - das ferne Geräusch eines Schlägers am Ball gehört. So wie ein Rotkehlchen, das irgendwo in einem Innenhof der Colleges nach einem Wurm scharrte, war es für ihn nach einem langen Winter stets ein willkommener Frühlingsbote gewesen.
...
Übersetzung: Anke und Eberhard Kreutzer
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2010 Droemer Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Als die Tür aufging, wusste Adrian, dass er tot war. Der hastig abgewandte Blick, die eingezogenen Schultern, die nervösen, gehetzten Schritte, mit denen der Arzt das Zimmer durchquerte, ließen keinen Zweifel. Fragte sich also nur: Wie viel Zeit bleibt mir noch? Wie schlimm wird es werden?
Die Antworten ließen nicht lange auf sich warten.
Adrian Thomas sah zu, wie der Neurologe in den Testergebnissen blätterte, bevor er sich hinter seinem großen Eichenschreibtisch verschanzte. Der Arzt lehnte sich im Sessel zurück, beugte sich wieder vor, blickte auf und sagte endlich: »Die Untersuchungsergebnisse schließen die meisten naheliegenden Diagnosen aus ...«
Adrian hatte nichts anderes erwartet. MRT. EKG. EEG. Blut. Urin. Ultraschall. Hirnszintigramm. Eine ganze Phalanx an kognitiven Funktionstests. Inzwischen waren über neun Monate vergangen, seit er zum ersten Mal festgestellt hatte, dass er Dinge vergaß, die man sich gewöhnlich leicht merken konnte. Wie er zum Baumarkt gefahren war, wo er plötzlich vor dem Regal mit Glühbirnen stand und nicht den blassesten Schimmer hatte, was er kaufen wollte; wie er einmal in der Stadt einem alten Kollegen über den Weg gelaufen war und ihm ums Verrecken der Name nicht mehr einfiel, obwohl der Mann zwanzig Jahre lang im Dozentenzimmer nebenan gesessen hatte. Vor sechs Tagen dann hatte er abends eine geschlagene Stunde lang im Wohnzimmer ihres Hauses im westlichen Massachusetts mit seiner längst verstorbenen Frau angeregt geplaudert. Sie hatte sogar in ihrem geliebten Queen-Anne-Sessel mit dem Paisley-Bezug vor dem Kamin gesessen.
Als ihm schließlich dämmerte, was gerade geschehen war, hatte er nicht geglaubt, dass ein Computerausdruck oder eine Farbfotografie von seiner Gehirnstruktur diese Dinge sichtbar machen würde. Trotzdem hatte er sich pflichtbewusst einen Notfalltermin bei seinem Internisten geben lassen, der ihn unverzüglich an den Facharzt weiterverwies. Dort beantwortete er geduldig jede Frage, ließ sich abtasten, stupsen und röntgen.
Als seine tote Frau wieder verschwunden war und er zu seinem Entsetzen erkannte, was passiert war, hatte er den Schluss gezogen, dass er auf dem besten Wege war, verrückt zu werden - eine laienhafte, undifferenzierte Bezeichnung für Psychose oder Schizophrenie. Andererseits hatte er sich nicht verrückt gefühlt. In Wahrheit hatte er sich sogar recht gut gefühlt, als sei es völlig normal, stundenlang mit einem Menschen zu reden, der seit drei Jahren tot war. Sie hatten sich über seine zunehmende Einsamkeit unterhalten, darüber, weshalb er nach ihrem Tod und nach seiner Emeritierung auf einmal angefangen hatte, an der Uni unentgeltlich Seminare abzuhalten. Sie hatten über die neuesten Filme, über interessante Bücher diskutiert und darüber gesprochen, ob sie sich dieses Jahr im Juni ein paar Wochen Auszeit auf Cape Cod gönnen sollten.
Noch während er dem Neurologen gegenübersaß, kam ihm der Gedanke, dass es ein schrecklicher Fehler gewesen war, die Halluzinationen auch nur eine Sekunde lang für ein Krankheitssymptom zu halten. Er hätte von Anfang an erkennen sollen, dass sie ein Segen waren. Er war nunmehr ganz allein, und es wäre doch angenehm, sein Leben für die Spanne, die ihm auf Erden noch blieb, wieder mit Menschen zu bevölkern, die er einmal geliebt hatte, ob sie nun existierten oder nicht.
»Ihre Symptome deuten darauf hin ...«
Er wollte gar nicht hören, was der Arzt ihm zu sagen hatte, der ihn mit einem gequälten Ausdruck ansah und der viel jünger war als er selbst. Irgendwie war es unfair, von einem so jungen Mann gesagt zu bekommen, dass man todkrank war. Das hätte allenfalls einem grauhaarigen Gott in Weiß zugestanden, in dessen müder, sonorer Stimme die Erfahrung eines langen Berufslebens mitschwang, und nicht diesem Grünschnabel mit der Fistelstimme, der unbehaglich auf seinem Sessel wippte. Er hasste das sterile, hell erleuchtete Sprechzimmer mit seinen gerahmten Diplomen und den Bücherregalen, in denen die medizinische Fachliteratur bestimmt nur zur Zierde stand. Der Mann war der Typ, der sich die nötigen Informationen schnell und bequem auf dem Computer oder einem Blackberry besorgte. Adrian blickte an dem Doktor vorbei aus dem Fenster und sah, wie sich auf den belaubten Zweigen einer Weide eine Krähe niederließ. Es schien, als würde der Arzt seinen Sermon in einer fernen Welt herunterleiern, an der er von diesem Moment an kaum noch Anteil hatte. Einen kleinen Anteil vielleicht. Einen unmaßgeblichen Anteil. Eine Sekunde lang stellte er sich vor, dass er lieber der Krähe zuhören sollte, und plötzlich stellte er schockiert und verwirrt fest, dass er für einen Augenblick dachte, es sei die Krähe, die ihm diesen Vortrag hielt. Da das eher unwahrscheinlich war, senkte er den Blick und zwang sich, dem Doktor zuzuhören.
»... Es tut mir leid, Professor Thomas«, sagte der Neurologe zögernd. Er wählte seine Worte mit Bedacht. »Aber ich glaube, Sie leiden in fortgeschrittenem Stadium an einer relativ seltenen Krankheit namens Lewy-Körper-Demenz. Sagt Ihnen das was?«
Vage, ja. Er hatte den Begriff schon ein-, zweimal gehört, wenn ihm auch nicht gleich einfiel, wo. Vielleicht hatte ihn einer der Kollegen am Psychologischen Institut der Universität einmal verwendet, um ein Forschungsprojekt zu begründen oder sich über ein Förderantragsverfahren zu beklagen. Er schüttelte trotzdem den Kopf. Besser, er hörte die ungeschminkte Wahrheit von einem Experten auf diesem Gebiet, auch wenn der Arzt viel zu jung war.
Die Worte flogen ihm wie Schutt nach einer Explosion um die Ohren und rieselten wie Trümmerstaub auf die Schreibtischplatte: Stetig. Fortschreitend. Rapide Verschlechterung. Halluzinationen. Kontrollverlust der Körperfunktionen. Verlust des kritischen Denkvermögens. Verlust des Kurzzeitgedächtnisses. Verlust des Langzeitgedächtnisses.
Und schließlich das Todesurteil: »Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber typischerweise gehen wir von fünf bis sieben Jahren aus. Vielleicht. Und ich glaube, dass Sie ...« - der Arzt legte eine Pause ein und blickte auf seine Notizen, bevor er fortfuhr - »... bereits seit mindestens einem Jahr an dieser Krankheit leiden, somit wäre dies die maximale Lebenserwartung. In den meisten Fällen schreitet die Krankheit bedeutend schneller fort ...«
Nach kurzem Zögern folgte ein serviles »Wenn Sie eine zweite Meinung einholen wollen ...«.
Wieso, fragte Adrian sich, sollte er eine schlechte Nachricht zweimal hören wollen?
Und dann ein weiterer und einigermaßen vorhersehbarer Schlag: »... Die Krankheit ist nicht heilbar. Es gibt Medikamente, die einige der Symptome lindern können - Alzheimer-Mittel, atypische Antipsychotika, um die Trugbilder und Wahnvorstellungen zu behandeln -, doch garantieren können wir nichts, und oft bringen sie keine signifikante Besserung mit sich. Doch man sollte es damit probieren, um zu sehen, ob sie die Funktionen für eine gewisse Zeit aufrechterhalten ...« Adrian wartete eine kleine Pause ab, bevor er sagte: »Aber ich fühle mich nicht krank.«
Der Neurologe nickte. »Auch das ist leider typisch. Für einen Mann Mitte sechzig sind Sie in einer ausgezeichneten körperlichen Verfassung. Sie haben das Herz eines viel jüngeren Mannes ...«
»Viel Sport und Joggen ...«
»Nun, das ist gut.«
»Demnach bin ich gesund genug, um bei meinem eigenen Verfall zuzusehen? Wie von einem Ringplatz bei meinem eigenen K.o.?«
Der Neurologe ließ sich mit der Antwort Zeit. »Ja ...«, sagte er schließlich. »Aus einigen Studien können wir den Schluss ziehen, dass möglichst viel geistige Betätigung in Kombination mit einem körperlich aktiven Alltag sowie Sport die Wirkung auf die Stirnlappen, in denen die Krankheit lokalisiert ist, teilweise verzögern können.«
Adrian nickte. Das wusste er. Ebenso wie er wusste, dass die Stirnlappen für Entscheidungsprozesse zuständig sind und für die Fähigkeit, die Welt zu begreifen. Die Stirnlappen waren mehr oder weniger der Teil seines Gehirns, der ihn zu dem gemacht hatte, der er war, und der ihn jetzt zu einem vollkommen anderen und wahrscheinlich nicht wiederzuerkennenden Menschen machen würde. Von einem Moment zum anderen rechnete er nicht mehr damit, noch lange Adrian Thomas zu sein.
Dieser Gedanke beschäftigte ihn, und er hörte dem Neurologen nicht länger zu, bis die Frage in sein Bewusstsein drang: »Haben Sie zu Hause Hilfe? Frau? Kinder? Andere Angehörige? Es wird nicht lange dauern, bis Sie auf eine gute Versorgung angewiesen sind. Danach werden Sie in eine Pflegeeinrichtung wechseln müssen. Ich würde möglichst bald mit diesen Menschen sprechen. Ihnen begreiflich machen, was Ihnen bevorsteht ...« Während er das sagte, griff der Arzt nach einem Rezeptblock und machte sich zügig daran, reihenweise Medikamente aufzuschreiben.
Adrian lächelte. »Ich habe alle Hilfe, die ich brauchen werde, zu Hause.«
Die Neun-Millimeter-Halbautomatik Mister Ruger, dachte er. Die Waffe befand sich in der obersten Nachttischschublade neben seinem Bett. Das Dreizehn-Schuss-Magazin war zwar voll, doch ihm würde eine Kugel genügen.
Der Arzt sagte noch einiges über häusliche Krankenpflege und Versicherungsbeiträge, über Vollmachten und Patientenverfügungen, längere Krankenhausaufenthalte und die Notwendigkeit, alle seine künftigen Arzttermine einzuhalten, seine Medikamente zu nehmen - auch wenn sie den Krankheitsverlauf kaum beeinflussen würden, könnten sie ja immerhin ein wenig helfen. Adrian erkannte, dass er den weiteren Ausführungen des Arztes keine Beachtung mehr zu schenken brauchte.
Eingebettet in die Parzellen ehemaliger landwirtschaftlicher Flächen am Rande von Adrians kleiner Universitätsstadt, auf denen exklusive herrschaftliche Wohnsitze entstanden waren, befand sich ein Naturschutzgebiet mit einem Wildpark, der sich über einen bescheidenen Hügel erstreckte - von den Bewohnern als Berg bezeichnet, kam er in Wahrheit eher einer topographischen Bodenwelle gleich.
Zum Mount Pollux wand sich ein Wanderweg hinauf, der zunächst durch den Wald und dann zu einer Lichtung führte, wo man einen prächtigen Ausblick über das Tal hatte. Es hatte ihn schon immer gestört, dass es neben dem Mount Pollux nicht auch noch einen Mount Castor gab, und er hatte sich gefragt, wer dem Hügel einen so hochtrabenden Namen gegeben hatte. Irgendein aufgeblasener Akademiker vermutlich, ein Mitglied der Fakultät vor zweihundert Jahren, als sie den Studenten am College in schwarzem Zwirn und gestärktem weißem Kragen die klassische Bildung eintrichterten. Doch trotz des fragwürdigen Namens und des allzu ehrenvollen Titels »Mount« war ihm dieser Ort im Lauf der Jahre ans Herz gewachsen. Es war ein stilles Fleckchen Erde, das die Hunde der Umgebung liebten, weil sie hier ohne Leine tollen durften, und das er selber mochte, weil er hier mit seinen Gedanken allein sein konnte.
Er stellte seinen alten Volvo in einer Parkbucht am unteren Ende des Weges ab und machte sich zu Fuß an den vertrauten Aufstieg. Normalerweise hätte er bei dem aufgeweichten Boden Wanderstiefel getragen, und ihm war bewusst, dass er wahrscheinlich nicht weit kommen würde, ohne seine Schuhe zu ruinieren, doch er sagte sich, dass er sich darum jetzt keine Gedanken mehr zu machen brauchte.
Der Nachmittag ging bereits zur Neige, und es zog ihm kalt den Rücken hoch. Er war für einen Spaziergang nicht richtig angezogen, und mit der Abenddämmerung schwebte ein letzter Winterhauch über die Wälder von Neuengland. Neben seinen durchnässten Schuhen ignorierte er auch die Kälte.
Auf dem Pfad begegnete er keiner Menschenseele. Keine Golden Retriever, die auf einer Spur durchs Unterholz schossen. Nur Adrian mit stetigem Schritt. Er war dankbar für die Einsamkeit. Ihm kam der seltsame Gedanke, dass er womöglich bei einer zufälligen Begegnung einem wildfremden Menschen erzählen würde: »Ich habe eine Krankheit, von der Sie noch nie gehört haben und an der ich sterben werde, nur dass sie mich bis dahin langsam, aber sicher lahmlegt.«
Mit Krebs oder einer Herzerkrankung, dachte er, blieb man, während es einen umbrachte, zumindest der Mensch, der man war. Er empfand Wut und hätte am liebsten um sich geschlagen, doch stattdessen marschierte er einfach nur weiter den Hügel hinauf. Er horchte auf seinen Atem. Der war regelmäßig. Normal. Kein bisschen angestrengt. Ein gequältes Röcheln wäre ihm bedeutend lieber gewesen, irgendetwas, das ihm sagte, es gehe mit ihm zu Ende.
Bis zum Gipfel, wenn man es so nennen wollte, brauchte er ungefähr eine halbe Stunde. Eine Hügelkette im Westen streifte das letzte Sonnenlicht, und er setzte sich auf eine große Moräne aus Schiefergestein und starrte ins Tal. Die ersten Zeichen des Neuengland-Frühlings waren schon deutlich zu erkennen. Er sah die ersten Blumen, vor allem gelbe und violette Krokusse, die aus der feuchten Erde gekrochen waren, erste grüne Blattknospen bedeckten die Zweige der Bäume wie ein Dreitagebart. Über ihm formierte sich ein Schwarm kanadischer Wildgänse auf dem Flug nach Norden zu einem lang gestreckten V. Ihr heiseres Schreien hallte vom blassblauen Himmel wider. Das alles war so normal, dass er sich ein wenig albern vorkam, weil das, was in ihm vor sich ging, mit dem Rest der Welt nicht im Einklang war.
In der Ferne konnte er die Türme der Kirche im Zentrum des Universitätscampus erkennen. Das Baseballteam würde im Schlagtunnel trainieren, weil das Feld noch unter einer Plane steckte. Nicht weit davon hatte er sein Dozentenzimmer gehabt und - wenn er um diese Jahreszeit nachmittags das Fenster öffnete - das ferne Geräusch eines Schlägers am Ball gehört. So wie ein Rotkehlchen, das irgendwo in einem Innenhof der Colleges nach einem Wurm scharrte, war es für ihn nach einem langen Winter stets ein willkommener Frühlingsbote gewesen.
...
Übersetzung: Anke und Eberhard Kreutzer
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2010 Droemer Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von John Katzenbach
John Katzenbach, geboren 1950, war ursprünglich Gerichtsreporter für den »Miami Herald« und die »Miami News«. Bei Droemer Knaur sind inzwischen zahlreiche Kriminalromane von ihm erschienen, darunter die Bestseller »Die Anstalt«, »Der Patient«, »Der Professor« und »Der Bruder". Zweimal war Katzenbach für den Edgar Award, den renommiertesten Krimipreis der USA, nominiert. Er lebt mit seiner Familie in Amherst im Westen des US-Bundesstaates Massachusetts.Weitere Informationen unter www.john-katzenbach.de und www.johnkatzenbach.com
Bibliographische Angaben
- Autor: John Katzenbach
- 2011, 8. Aufl., 560 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Anke Kreutzer, Eberhard Kreutzer
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426500701
- ISBN-13: 9783426500705
- Erscheinungsdatum: 24.11.2011
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