Das Licht des Nordens
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Das Licht des Nordens von JenniferDonnelly
LESEPROBE
Wenn in den North Woods derSommer kommt, vergeht die Zeit langsamer. Und manchmal bleibt sie ganz stehen.Der Himmel, der fast das ganze Jahr über grau und trüb ist, wird ein Meer ausBlau, so weit und hell, daß man nicht anders kann,als innezuhalten bei dem, was man gerade tut - beim Wäscheaufhängen vielleichtoder beim Schälen der Maiskolben auf der Hintertreppe -, um hinaufzusehen.Grillen zirpen in den Birken und locken einen aus der Sonne unter die Zweige,und die Hitze läßt die Luft stillstehen, die süß undschwer wie Balsam ist.
Während ich hier auf der Veranda des Glenmore stehe,dem schönsten Hotel am ganzen Big Moose Lake, sage ich mir, daßheute, am Donnerstag, dem 12. Juli 1906, ein solcher Tag ist. Die Zeit ist stehengeblieben, und die Ruhe und Schönheit diesesherrlichen Nachmittags werden niemals enden. Die Gäste aus New York, alle insommerliches Weiß gekleidet, werden für immer auf dem Rasen Krockettspielen. Die alte Mrs. Ellis wird bis ans Ende der Zeit auf der Veranda sitzenund mit ihrem Stock aufs Geländer klopfen, um frische Limonade zu bestellen.Die Kinder von Ärzten und Anwälten aus Utica, Rome und Syracuse werden fürimmer lachend und kreischend durch die Wälder laufen, ganz benommen von zu vielEiscreme.
Ich glaube das alles. Von ganzem Herzen. Denn ich bin geübt darin, wenn esgilt, mir selbst Lügen zu erzählen.
Bis Ada Bouchard aus der Tür tritt und meine Hand nimmt. Und Mrs. Morrison, dieFrau des Direktors, an uns vorbeigeht und oben an der Treppe innehält. Zu jederanderen Zeit bekämen wir was zu hören für unser untätiges Herumstehen. Jetztscheint sie unsere Anwesenheit nicht mal zu bemerken. Sie verschränkt die Armevor der Brust, und ihre grauen Augen blicken besorgt aufs Dock und den Dampfer,der längsseits angelegt hat.
»Das ist die Zilpha, nicht wahr, Mattie?« flüstert Ada. »Sie haben den Grund des Sees abgesucht, stimmts?«
Ich drücke ihre Hand. »Das glaub ich nicht. Ich glaub, sie haben bloß das Uferabgesucht. Die Köchin meint, daß sich die beiden nurverirrt haben. Sie haben im Dunkeln nicht zurückgefunden und die Nacht im Waldverbracht, das ist alles.«
»Ich hab Angst, Mattie. Du nicht?«
Ich antworte nicht. Ich hab zwar keine Angst, kann aber nicht erklären, wie ichmich fühle, denn manchmal fehlen mir einfach die Worte. Obwohl ich Websters Lexikon der Englischen Sprache fast ganzdurchgelesen habe, wollen sie mir dennoch nicht einfallen, wenn ich siebrauche.
Gerade im Moment suche ich nach einem Wort, das ein Gefühl beschreibt - einkaltes, grausiges Gefühl tief im Innern -, das einen befällt, wenn man weiß, daß etwas geschehen wird, das einen verändert, ohne daß man etwas dagegen tun kann. Und man begreift zum erstenmal, zum allererstenmal, daß es ein Vorher und ein Nachher, eine Vergangenheit undeine Zukunft geben wird. Und daß man nicht mehr diegleiche Person sein wird, die man gewesen ist.
Ich stelle mir vor, daß Eva sich so gefühlt hat, alssie in den Apfel biß. Oder Hamlet, als er den Geistseines Vaters sah. Oder Jesus als Knabe, als jemand ihm sagte, daß sein Pa keineswegs ein Zimmermann sei.
Wie heißt das Wort für dieses Gefühl? Für Kenntnis, Furcht und Verlust ineinem? Kenntnisfurcht? Verlustangst? Malgnostiktion?
Während ich unter dem wolkenlosen Himmel auf dieser Veranda stehe, in den Rosendie Bienen sum- men und ausden Kiefern ein Kardinalsvogel ruft, sage ich mir, daßAda ein aufgescheuchtes Huhn ist, die sich immer grundlos Sorgen macht. Im Glenmore kann nichts Schlimmespassieren, nicht an einem Tag wie diesem.
Und dann sehe ich die Köchin vom Dock heraufrennen,aschfahl und atemlos, mit geschürztem Rock, und weiß, daßich mich getäuscht habe.
»Mattie, mach den Salon auf!«ruft sie, ohne die Gäste zu beachten. »Schnell, Mädchen!«
Ich höre sie kaum. Mein Blick ist auf Mr. Crabbgerichtet, den Maschinisten der Zilpha. Er kommt denWeg herauf und trägt eine junge Frau in seinen Armen. Ihr Kopf lehnt wie einewelke Blume an seiner Brust. Wasser tropft aus ihrem Rock.
»O Mattie, sieh dir das an. O Gott, Mattie, schau«, sagt Ada, undnestelt an ihrer Schürze.
»Pst, Ada. Sie ist naß geworden, das ist alles. Siehaben sich auf dem See verirrt das Boot ist gekentert, sie sind ans Ufergeschwommen, und sie ist ohnmächtig geworden.«
»Gütiger Gott«, sagt Mrs. Morrison und legt die Hände auf den Mund.
»Mattie! Ada! Warum steht ihr hier rum und haltetMaulaffen feil?« keucht die Köchin und schleppt ihrenschweren Leib die Stufen herauf. »Schließ das freie Zimmer auf, Mattie. Das neben dem Salon. Zieh die Rollos runter und legeine alte Decke aufs Bett. Ada, geh und mach eine Kanne Kaffee und ein paar Sandwiches. Im Eisschrank liegen Schinken und Hähnchen.Jetzt macht schon!«
Im Salon spielen gerade ein paar Kinder Verstecken. Ich jage sie hinaus undsperre die Tür eines kleinen Zimmers auf, das von Postkutschern oderSchiffskapitänen benutzt wird, wenn das Wetter zu schlecht ist, umweiterzufahren. Ich merke, daß ich die Deckevergessen habe, und laufe zum Wäscheschrank, um sie zu holen. Gerade als ichsie über die Matratze breite, kommt Mr. Crabb herein.Ich habe auch ein Kissen und einen schweren Quiltmitgebracht, weil sie völlig durchgefroren sein wird, wenn sie in nassenKleidern im Freien geschlafen hat.
Mr. Crabb legt sie aufs Bett. Die Köchin streckt dieBeine der Frau aus und schiebt ihr das Kissen unter den Kopf. Dann kommen dieMorrisons herein, gleich hinter ihnen Mr. Sperry, derBesitzer des Glenmore. Erstarrt sie an, wird bleich und geht wieder hinaus.
»Ich hol eine Wärmflasche und Tee undund Brandy«,sage ich und sehe zuerst die Köchin, dann Mrs. Morrison und dann ein Bild ander Wand an. Überallhin, bloß nicht auf die Frau. »Soll ich? Soll ich Brandy holen?«
»Sei still, Mattie. Dafür ist es zu spät«, erwidertdie Köchin.
Daraufhin zwinge ich mich, sie anzusehen. Ihre Augen sind trüb und leer, ihreHaut gelb wie Muskatellerwein. Auf ihrer Stirn ist eine häßlicheWunde, und ihre Lippen sind aufgeplatzt. Gestern hatte sie allein auf derVeranda gesessen und am Saum ihres Rocks gezupft. Ich brachte ihr ein GlasLimonade, weil es heiß war draußen und sie angegriffen aussah. Ich berechneteihr nichts dafür. Sie sah aus, als hätte sie nicht viel Geld.
Hinter mir bedrängt die Köchin Mr. Crabb. »Was istmit dem Mann, mit dem sie zusammen war? Carl Grahm?«
»Von ihm gibts keine Spur«, antwortet er. »Zumindest noch nicht. Wir haben dasBoot, mit dem sie gekentert sind. In South Bay.«
»Ich werde die Familie benachrichtigen müssen«, sagt Mrs. Morrison. »Sie ist inAlbany.«
»Nein, da kommt nur Grahm, der Mann, her«, wirft dieKöchin ein. »Das Mädchen lebte in South Otselic. Ichhab im Fremdenbuch nachgesehen.«
Mrs. Morrison nickt. »Ich ruf die Vermittlung an und versuche, mich mit einemGeschäft oder einem Hotel dort verbinden zu lassen. Oder mit sonst irgend jemandem, der der Familie was ausrichten kann. MeinGott, was werd ich bloß sagen? Ach, ihre arme, arme Mutter!« Sie drückt sichein Taschentuch an die Augen und eilt hinaus.
»Sie wird noch einen zweiten Anruf machen müssen, bevor der Tag zu Ende ist«,sagt die Köchin. »Wenn ihr mich fragt, haben Leute, die nicht schwimmen können,auf einem See nichts zu suchen.«
»Zu sehr von sich überzeugt, dieser Bursche«, sagt Mr. Morrison. »Ich hab ihngefragt, ob er mit einem Ruderboot umgehen kann, und das hat er bejaht. So wasschafft nur ein Dummkopf aus der Stadt, an einem ruhigen Tag ein Boot zumKentern zu bringen« Er sagt noch mehr, was ich jedoch nicht höre. Ich habe dasGefühl, als würden mir Eisenbänder die Brust zudrücken. Ich schließe die Augenund versuche, tief zu atmen, aber das macht alles nur noch schlimmer. EinBündel Briefe, mit einem blaßblauen Band verschnürt,taucht vor meinem geistigen Auge auf. Briefe, die oben unter meiner Matratzeliegen. Briefe, die zu verbrennen ich versprochen habe. Ich kann die Adressedarauf sehen: Chester Gillette, 17 1/2 Main Street, Cortland,New York.
Die Köchin schiebt mich aufgeregt von der Toten weg. »Mattie,zieh die Rollos runter, wie ich dir aufgetragen hab«, sagt sie. Sie faltetGrace Brown die Hände über der Brust und schließt ihr die Augen. »In der Küchegibts Kaffee und Sandwiches«, erklärt sie denMännern. »Möchten Sie etwas essen?«
»Wir nehmen uns was mit, Mrs. Hennessy, wenns recht ist«, antwortet Mr.Morrison. »Wir gehen wie- der raus. Sobald Sperry denSheriff erreicht hat. Er ruft auch bei Martins an,um ihnen zu sagen, daß sie die Augen aufhaltensollen. Und bei Higbys und den anderen Hotels. Nurfür den Fall, daß Grahm esans Ufer geschafft und sich im Wald verirrt hat.«
»Sein Name ist nicht Carl Grahm. Sondern Chester.Chester Gillette«, platze ich heraus, bevor ich mich zurückhalten kann.
»Woher weißt du das, Mattie?«fragt die Köchin. Alle sehen mich plötzlich an - die Köchin, Mr. Morrison undMr. Crabb.
»Ich ich glaub, ich hab gehört, daß sie ihn sonannte«, stammle ich, mit einemmal verängstigt.
Die Köchin kneift die Augen zusammen. »Hast du was gesehen, Mattie?Weißt du etwas, das du uns sagen solltest?«
Was hatte ich gesehen? Zu viel. Was wußte ich? Nur soviel, daß man für Wissen einen verdammt hohen Preisbezahlen muß. Miss Wilcox,meine Lehrerin, hat mir so viel beigebracht. Warum nur hat sie mich das nichtgelehrt?
© Piper Verlag
Übersetzung: AngelikaFelenda
- Autor: Jennifer Donnelly
- 2006, 12. Aufl., 432 Seiten, Maße: 11,8 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Angelika Felenda
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492248403
- ISBN-13: 9783492248402
- Erscheinungsdatum: 01.12.2006
4 von 5 Sternen
5 Sterne 2Schreiben Sie einen Kommentar zu "Das Licht des Nordens".
Kommentar verfassen