Verachtung / Carl Mørck. Sonderdezernat Q Bd.4 (ePub)
Der vierte Fall für Carl Morck, Sonderdezernat Q - Thriller
Der Spitzentitel jetzt im Taschenbuch!
Eine Reihe vermisster Personen aus dem Jahr 1987, die durch eine Person und deren entsetzliches Schicksal verbunden sind: Nete Hermansen. Eine junge Frau ohne jede Chance auf ein selbstbestimmtes Leben, von Menschen...
Eine Reihe vermisster Personen aus dem Jahr 1987, die durch eine Person und deren entsetzliches Schicksal verbunden sind: Nete Hermansen. Eine junge Frau ohne jede Chance auf ein selbstbestimmtes Leben, von Menschen...
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Produktinformationen zu „Verachtung / Carl Mørck. Sonderdezernat Q Bd.4 (ePub)“
Der Spitzentitel jetzt im Taschenbuch!
Eine Reihe vermisster Personen aus dem Jahr 1987, die durch eine Person und deren entsetzliches Schicksal verbunden sind: Nete Hermansen. Eine junge Frau ohne jede Chance auf ein selbstbestimmtes Leben, von Menschen grausam misshandelt, wird zwangssterilisiert durch einen fanatischen Arzt und verbannt nach Sprogø, der Insel für ausgestoßene Frauen. Sie nimmt grausam Rache ...
Eine Reihe vermisster Personen aus dem Jahr 1987, die durch eine Person und deren entsetzliches Schicksal verbunden sind: Nete Hermansen. Eine junge Frau ohne jede Chance auf ein selbstbestimmtes Leben, von Menschen grausam misshandelt, wird zwangssterilisiert durch einen fanatischen Arzt und verbannt nach Sprogø, der Insel für ausgestoßene Frauen. Sie nimmt grausam Rache ...
Lese-Probe zu „Verachtung / Carl Mørck. Sonderdezernat Q Bd.4 (ePub)“
Verachtung von Jussi Adler OlsenProlog
November 1985
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Fast hätte sie sich ganz diesem Gefühl hingegeben. Das Champagnerglas in ihrer Hand war angenehm kühl, die Stimmen verschwommen zu einem Summen und die Hand ihres Mannes ruhte leicht auf ihrer Taille. Bis auf die Zeiten des Verliebtseins hatte es nur Sekunden in einer fernen Kindheit gegeben, die an das heranreichen konnten, was sie in diesem Moment empfand. Das Gefühl der Geborgenheit beim Einschlafen, mit dem Murmeln der Großmutter und gedämpftem Lachen im Ohr. Dem Lachen von Menschen, die es längst nicht mehr gab.
Nete presste die Lippen zusammen, damit das Gefühl nicht die Oberhand gewann.
Sie richtete sich auf und ließ ihren Blick über die eleganten Kleider und schlanken Rücken schweifen. Eine beachtliche Schar von Geladenen hatte sich eingefunden zum Ehrendinner für den dänischen Laureaten des Großen Nordischen Preises in Medizin. Forscher natürlich und Ärzte und die Spitzen der Gesellschaft. Einer Gesellschaft, in die sie nicht hineingeboren war, in der sie sich aber mit den Jahren immer wohler fühlte.
Sie atmete tief ein und stieß einen wohligen Seufzer aus. Da spürte sie auf einmal überdeutlich einen Blick, der sich über die Köpfe der kunstvoll frisierten Frauen und der Smoking tragenden Männer hinweg auf sie heftete. Es war ein Blick wie eine undefinierbare und beunruhigende Entladung. Ein Blick, wie ihn nur Menschen aussandten, die einem Böses wollten. Instinktiv tat sie einen Schritt zur Seite, wie ein gejagtes Tier, das im Gebüsch Deckung sucht, legte ihrem Mann die Hand auf den Arm, versuchte zu lächeln, während ihre Augen zwischen den festlich gekleideten Menschen und den Kronleuchtern hin und her wanderten.
Eine Frau warf für den Moment eines Lachens den Kopf in den Nacken, sodass die Sicht quer durch den Saal freigegeben war.
Dort vor der Wand stand er.
Wie ein Leuchtturm ragte seine Gestalt aus der Schar der Gäste heraus. Trotz der leicht gebeugten Haltung ein riesiges Raubtier, dessen Augen wie Suchscheinwerfer über die Menge glitten.
Sie spürte seinen lauernden Blick mit jeder Faser ihres Körpers und sie wusste, dass ihr Leben binnen Sekunden in sich zusammenstürzen würde, wenn sie nicht augenblicklich reagierte.
»Andreas«, sagte sie und griff sich dabei an den Hals, der schon jetzt schweißnass war, »können wir bitte gehen? Ich fühle mich nicht gut.«
Mehr brauchte es nicht. Ihr Mann hob die dunklen Augenbrauen, nickte den anderen zu, und während er ihren Arm nahm, wandte er sich von der Gruppe ab. Für diese Gesten liebte sie ihn.
»Danke«, sagte sie. »Leider wieder der Kopf.«
Er nickte. Das kannte er nur zu gut von sich selbst. Lange Abende im abgedunkelten Raum, wenn sich die Migräne erst festgesetzt hatte.
Auch das verband sie.
Sie kamen bis zu der ausladenden Treppe vor den Festräumen. Da glitt der Hüne von der Seite heran und stellte sich vor sie hin.
Ihr fiel auf, dass er deutlich gealtert war. Die Augen, die früher Funken gesprüht hatten, waren matt geworden. Das Haar war nicht wiederzuerkennen. Knapp dreißig Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen.
»Du hier, Nete? Dich hätte ich in dieser Gesellschaft am allerwenigsten erwartet.«
Sie zog Andreas um ihren Verfolger herum, doch der ließ nicht locker. »Erinnerst du dich nicht mehr an mich, Nete?«, kam die Stimme jetzt von hinten. »Doch, das tust du. Curt Wad. Du erinnerst dich sicher.«
Sie hatten die Treppe schon halb geschafft, da holte er sie ein.
»Bist du etwa Direktor Rosens Hure? Solltest du tatsächlich so hoch aufgestiegen sein? Schau mal an, wer hätte das gedacht.«
Sie versuchte, ihren Mann mit sich zu ziehen, aber Andreas Rosen war nicht dafür bekannt, dass er Problemen den Rücken kehrte.
»Würden Sie so freundlich sein und meine Frau in Ruhe lassen?« Der Blick, der seine Worte begleitete, kündete von unterdrücktem Zorn.
»So, so.« Der Verfolger trat einen Schritt zurück. »Da ist dir also tatsächlich Andreas Rosen ins Netz gegangen. Guter Fang, Nete. « Er versuchte sich an etwas, das andere als halbherziges Lächeln bezeichnet hätten, aber sie wusste es besser.
»Das ist meiner Aufmerksamkeit ja vollständig entgangen. Ich komme nicht so oft in diese Kreise, weißt du. Lese keine Klatschspalten.«
Wie in Zeitlupe sah sie ihren Mann verächtlich den Kopf schütteln. Spürte, wie seine Hand nach ihrer griff und sie hinter sich her zog. Sekundenlang konnte sie keine Luft holen. Ihrer beider Schritte klangen wie asynchrone Echos des gleichen Impulses: Bloß weg hier!
Erst als sie schon an der Garderobe standen, war die Stimme wieder hinter ihnen zu hören.
»Herr Rosen! Dann wissen Sie ja vielleicht gar nicht, dass Ihre Frau eine Hure ist? Ein schlichtes Mädel, das die Insel Sprogø besser kennt als so manch anderer. Ich sage nur: Besserungsanstalt. Ein Mädel, das es nicht so genau nimmt, für wen es die Beine breit macht. Dessen debiles Hirn den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge nicht kennt und ... «
Es zog in ihrem Handgelenk, als sich Andreas Rosen abrupt umdrehte. Mehrere Gäste wollten den Mann, der die festliche Atmosphäre störte, zum Schweigen bringen. Zwei jüngere Ärzte traten dazu, bauten sich drohend vor dem großen Kerl auf und demonstrierten damit überdeutlich, dass er unerwünscht war.
»Andreas, lass es!«, rief sie, aber ihr Mann hörte nicht auf sie. Das Alphatier in ihm war erwacht und hatte angefangen, sein Territorium zu markieren.
»Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind«, sagte er. »Aber ich schlage vor, dass Sie sich öffentlich erst dann wieder zeigen, wenn Sie gelernt haben, sich unter Menschen zu benehmen.«
Der Angesprochene, der die Männer, die ihn festhielten, ohnehin um einen Kopf überragte, straffte die Schultern und reckte das Kinn. Von der Garderobe her waren alle Augenpaare auf seine trockenen Lippen gerichtet. Die Damen hinter der Theke, die die Pelze und Trenchcoats verwahrten, die anderen, die sich an der Gruppe vorbeidrückten, und die Privatchauffeure, die an den Schwingtüren warteten - alle hatten die Köpfe zu ihm gewandt.
Und dann kamen jene Sätze, die niemals hätten ausgesprochen werden dürfen.
»Dann fragen Sie Nete doch, wo sie sterilisiert wurde, Herr Rosen. Fragen Sie sie, wie viele Schwangerschaftsabbrüche sie hatte. Fragen Sie sie, wie sich fünf Tage in der Strafzelle anfühlen. Fragen Sie sie danach, aber kommen Sie mir nicht mit Belehrungen über Umgangsformen, Andreas Rosen. Dazu bedarf es anderer.«
Curt Wad trat zur Seite. »Ich gehe!«, rief er hasserfüllt. »Und du, Nete! «, der Finger, mit dem er auf sie deutete, zitterte, »schmor doch in der Hölle. Wo du hingehörst.«
Als die Schwingtüren hinter ihm zuklappten, wurde das Stimmengewirr laut.
wen es die Beine breit macht. Dessen debiles Hirn den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge nicht kennt und ... «
Es zog in ihrem Handgelenk, als sich Andreas Rosen abrupt umdrehte. Mehrere Gäste wollten den Mann, der die festliche Atmosphäre störte, zum Schweigen bringen. Zwei jüngere Ärzte traten dazu, bauten sich drohend vor dem großen Kerl auf und demonstrierten damit überdeutlich, dass er unerwünscht war.
»Andreas, lass es!«, rief sie, aber ihr Mann hörte nicht auf sie. Das Alphatier in ihm war erwacht und hatte angefangen, sein Territorium zu markieren.
»Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind«, sagte er. »Aber ich schlage vor, dass Sie sich öffentlich erst dann wieder zeigen, wenn Sie gelernt haben, sich unter Menschen zu benehmen.«
Der Angesprochene, der die Männer, die ihn festhielten, ohnehin um einen Kopf überragte, straffte die Schultern und reckte das Kinn. Von der Garderobe her waren alle Augenpaare auf seine trockenen Lippen gerichtet. Die Damen hinter der Theke, die die Pelze und Trenchcoats verwahrten, die anderen, die sich an der Gruppe vorbeidrückten, und die Privatchauffeure, die an den Schwingtüren warteten - alle hatten die Köpfe zu ihm gewandt.
Und dann kamen jene Sätze, die niemals hätten ausgesprochen werden dürfen.
»Dann fragen Sie Nete doch, wo sie sterilisiert wurde, Herr Rosen. Fragen Sie sie, wie viele Schwangerschaftsabbrüche sie hatte. Fragen Sie sie, wie sich fünf Tage in der Strafzelle anfühlen. Fragen Sie sie danach, aber kommen Sie mir nicht mit Belehrungen über Umgangsformen, Andreas Rosen. Dazu bedarf es anderer.«
Curt Wad trat zur Seite. »Ich gehe!«, rief er hasserfüllt. »Und du, Nete! «, der Finger, mit dem er auf sie deutete, zitterte, »schmor doch in der Hölle. Wo du hingehörst.«
Als die Schwingtüren hinter ihm zuklappten, wurde das Stimmengewirr laut.
»Das war Curt Wad«, flüsterte jemand hinter ihnen. »Hat mit dem heutigen Preisträger zusammen studiert. Und das ist auch das einzig Gute, das sich über ihn sagen lässt.«
Aber sie stand mindestens ebenso im Zentrum der Aufmerksamkeit. Entblößt.
Die Menschen ringsum musterten sie. Und die Blicke verweilten bei Dingen, die auf einmal Netes wahres Ich zu enthüllen schienen. War das Dekolleté zu tief? Sahen ihre Hüften, ihre Lippen vulgär aus?
Als die Garderobenfrau ihnen die Mäntel reichte, kam deren warmer Atem Nete fast giftig vor. »Du bist keinen Deut besser als ich«, schien er zu hauchen.
So schnell ging das.
Sie schlug die Augen nieder und nahm den Arm ihres Mannes. Ihres geliebten Mannes, dessen Blick sie nicht zu begegnen wagte.
Sie horchte auf das leise, regelmäßige Brummen des Motors. Sie hatten seither kein Wort gewechselt, saßen nur nebeneinander und starrten an den unablässig arbeitenden Scheibenwischern vorbei in den dunklen Herbstabend.
Vielleicht wartete er auf Dementis, aber damit konnte sie nicht dienen.
Vielleicht erwartete sie, dass er ihr entgegenkam. Dass er ihr aus der Zwangsjacke half, in die sie sich eingeschnürt fühlte. Dass er sie einfach ansah und sagte, das alles habe nichts zu bedeuten, nur ihre gemeinsamen elf Jahre zählten.
Und nicht die siebenunddreißig Jahre, die sie vorher gelebt hatte.
Aber er schaltete das Autoradio ein und füllte so den Raum lautstark mit Distanz. Sting begleitete sie südwärts über Seeland, Sade und Madonna über die Insel Falster und den Guldborgsund. Es war die Nacht der jungen Sänger und ihrer neuen, unverwechselbaren Stimmen. Das war das Einzige, was sie verband.
Alles andere verschwand.
Wenige hundert Meter vor dem Dorf Blans und zwei Kilometer vor dem großen Hof fuhr er plötzlich auf den Seitenstreifen.
»So, und jetzt schieß los«, sagte er, den Blick in die Dunkelheit gerichtet. Kein freundliches, tröstendes Wort. Nur dieses »Jetzt schieß los«. Nicht einmal ihren Namen nahm er in den Mund.
Sie schloss die Augen. Dann fing sie stockend an zu sprechen, bat ihn zu verstehen, dass es Ereignisse gegeben habe, die alles erklärten, und dass der Mann, der sie so beleidigt habe, an ihrem Unglück schuld sei.
Aber davon abgesehen stimme, was er gesagt habe. Das gab sie mit leiser Stimme zu.
Insgesamt stimme es.
Einen quälenden Augenblick lang war nur sein Atem zu hören. Dann wandte er sich ihr zu. Seine Augen waren dunkel. »Deshalb also konnten wir beide keine Kinder bekommen«, sagte er.
Sie nickte. Presste die Lippen zusammen. Sagte, wie es war. Ja, sie hatte sich schuldig gemacht, indem sie gelogen, indem sie den Grund verschwiegen hatte. Sie gab es zu. Als junges Mädchen habe man sie nach Sprogø gebracht, aber da habe sie nichts dafürgekonnt, das sei das Ergebnis von Machtmissbrauch, Ablehnung und Willkür gewesen. Das Ende einer Kette von Fehlurteilen. Das und nichts anderes. Und ja, sie habe mehrere Aborte gehabt und sei sterilisiert worden, aber dieser entsetzliche Mensch, dem sie gerade begegnet seien ...
Da legte er ihr eine Hand auf den Arm, deren Eiseskälte sich wie mit Stromstößen auf ihren Körper übertrug und sie erstarren ließ.
Dann schaltete er in den ersten Gang, ließ die Kupplung kommen und fuhr langsam durch den Ort. Zwischen den Wiesen und dem Ausblick auf das dunkle Meer beschleunigte er.
»Bedaure, Nete. Aber dass du mich jahrelang in dem blinden Glauben gelassen hast, wir beide könnten ein Kind bekommen, kann ich dir nicht verzeihen. Das kann ich einfach nicht. Und was das Übrige angeht, so widert es mich an.«
Er schwieg, und sie spürte, wie ihre Schläfen eiskalt wurden und sich der Nacken verspannte.
Schließlich hob er den Kopf auf diese anmaßende Art, wie er es in Verhandlungen mit Menschen tat, die seinem Gefühl nach seinen Respekt nicht verdienten.
»Ich packe meine Sachen und räume das Feld«, sagte er und betonte jedes Wort. »Bis du etwas anderes gefunden hast. Ich gebe dir eine Woche. Von Havngaard kannst du mitnehmen, was du willst. Es soll dir an nichts fehlen.«
Immer ungläubiger starrte sie ihn an. Dann wandte sie sich langsam ab und blickte über das Wasser. Ließ das Fenster ein wenig herunter und nahm den Geruch des Tangs wahr. Das tiefschwarze Meer schien endgültig nach ihr zu greifen. Wie damals, in jenen einsamen, verzweifelten Tagen auf Sprogø, als die unablässig heranrollenden Wellen sie gelockt hatten, ihrem elenden Leben ein Ende zu bereiten.
»Es soll dir an nichts fehlen« - als wenn das etwas bedeutete. Dann kannte er sie wirklich nicht.
Einen Moment lang fixierte sie das Datum auf der Uhr, 14. November 1985. Ihre Lippen zitterten, als sie ihm das Gesicht zuwandte.
Seine Augen wirkten wie dunkle Höhlen. Ihn interessierte nur die Straße vor ihm, nur die nächste Kurve.
Da hob sie langsam eine Hand zum Steuer, packte es, und als er protestieren wollte, zog sie so kräftig daran, wie sie nur konnte.
Der Wagen mit seiner gewaltigen Schubkraft reagierte sofort. Die Straße verschwand unter ihnen, und das Krachen durch die Böschung übertönte die letzten Proteste ihres Mannes.
Als sie aufs Meer aufschlugen, war es fast wie nach Hause zu kommen.
...
Übersetzung: Hannes Thiess
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München
Fast hätte sie sich ganz diesem Gefühl hingegeben. Das Champagnerglas in ihrer Hand war angenehm kühl, die Stimmen verschwommen zu einem Summen und die Hand ihres Mannes ruhte leicht auf ihrer Taille. Bis auf die Zeiten des Verliebtseins hatte es nur Sekunden in einer fernen Kindheit gegeben, die an das heranreichen konnten, was sie in diesem Moment empfand. Das Gefühl der Geborgenheit beim Einschlafen, mit dem Murmeln der Großmutter und gedämpftem Lachen im Ohr. Dem Lachen von Menschen, die es längst nicht mehr gab.
Nete presste die Lippen zusammen, damit das Gefühl nicht die Oberhand gewann.
Sie richtete sich auf und ließ ihren Blick über die eleganten Kleider und schlanken Rücken schweifen. Eine beachtliche Schar von Geladenen hatte sich eingefunden zum Ehrendinner für den dänischen Laureaten des Großen Nordischen Preises in Medizin. Forscher natürlich und Ärzte und die Spitzen der Gesellschaft. Einer Gesellschaft, in die sie nicht hineingeboren war, in der sie sich aber mit den Jahren immer wohler fühlte.
Sie atmete tief ein und stieß einen wohligen Seufzer aus. Da spürte sie auf einmal überdeutlich einen Blick, der sich über die Köpfe der kunstvoll frisierten Frauen und der Smoking tragenden Männer hinweg auf sie heftete. Es war ein Blick wie eine undefinierbare und beunruhigende Entladung. Ein Blick, wie ihn nur Menschen aussandten, die einem Böses wollten. Instinktiv tat sie einen Schritt zur Seite, wie ein gejagtes Tier, das im Gebüsch Deckung sucht, legte ihrem Mann die Hand auf den Arm, versuchte zu lächeln, während ihre Augen zwischen den festlich gekleideten Menschen und den Kronleuchtern hin und her wanderten.
Eine Frau warf für den Moment eines Lachens den Kopf in den Nacken, sodass die Sicht quer durch den Saal freigegeben war.
Dort vor der Wand stand er.
Wie ein Leuchtturm ragte seine Gestalt aus der Schar der Gäste heraus. Trotz der leicht gebeugten Haltung ein riesiges Raubtier, dessen Augen wie Suchscheinwerfer über die Menge glitten.
Sie spürte seinen lauernden Blick mit jeder Faser ihres Körpers und sie wusste, dass ihr Leben binnen Sekunden in sich zusammenstürzen würde, wenn sie nicht augenblicklich reagierte.
»Andreas«, sagte sie und griff sich dabei an den Hals, der schon jetzt schweißnass war, »können wir bitte gehen? Ich fühle mich nicht gut.«
Mehr brauchte es nicht. Ihr Mann hob die dunklen Augenbrauen, nickte den anderen zu, und während er ihren Arm nahm, wandte er sich von der Gruppe ab. Für diese Gesten liebte sie ihn.
»Danke«, sagte sie. »Leider wieder der Kopf.«
Er nickte. Das kannte er nur zu gut von sich selbst. Lange Abende im abgedunkelten Raum, wenn sich die Migräne erst festgesetzt hatte.
Auch das verband sie.
Sie kamen bis zu der ausladenden Treppe vor den Festräumen. Da glitt der Hüne von der Seite heran und stellte sich vor sie hin.
Ihr fiel auf, dass er deutlich gealtert war. Die Augen, die früher Funken gesprüht hatten, waren matt geworden. Das Haar war nicht wiederzuerkennen. Knapp dreißig Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen.
»Du hier, Nete? Dich hätte ich in dieser Gesellschaft am allerwenigsten erwartet.«
Sie zog Andreas um ihren Verfolger herum, doch der ließ nicht locker. »Erinnerst du dich nicht mehr an mich, Nete?«, kam die Stimme jetzt von hinten. »Doch, das tust du. Curt Wad. Du erinnerst dich sicher.«
Sie hatten die Treppe schon halb geschafft, da holte er sie ein.
»Bist du etwa Direktor Rosens Hure? Solltest du tatsächlich so hoch aufgestiegen sein? Schau mal an, wer hätte das gedacht.«
Sie versuchte, ihren Mann mit sich zu ziehen, aber Andreas Rosen war nicht dafür bekannt, dass er Problemen den Rücken kehrte.
»Würden Sie so freundlich sein und meine Frau in Ruhe lassen?« Der Blick, der seine Worte begleitete, kündete von unterdrücktem Zorn.
»So, so.« Der Verfolger trat einen Schritt zurück. »Da ist dir also tatsächlich Andreas Rosen ins Netz gegangen. Guter Fang, Nete. « Er versuchte sich an etwas, das andere als halbherziges Lächeln bezeichnet hätten, aber sie wusste es besser.
»Das ist meiner Aufmerksamkeit ja vollständig entgangen. Ich komme nicht so oft in diese Kreise, weißt du. Lese keine Klatschspalten.«
Wie in Zeitlupe sah sie ihren Mann verächtlich den Kopf schütteln. Spürte, wie seine Hand nach ihrer griff und sie hinter sich her zog. Sekundenlang konnte sie keine Luft holen. Ihrer beider Schritte klangen wie asynchrone Echos des gleichen Impulses: Bloß weg hier!
Erst als sie schon an der Garderobe standen, war die Stimme wieder hinter ihnen zu hören.
»Herr Rosen! Dann wissen Sie ja vielleicht gar nicht, dass Ihre Frau eine Hure ist? Ein schlichtes Mädel, das die Insel Sprogø besser kennt als so manch anderer. Ich sage nur: Besserungsanstalt. Ein Mädel, das es nicht so genau nimmt, für wen es die Beine breit macht. Dessen debiles Hirn den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge nicht kennt und ... «
Es zog in ihrem Handgelenk, als sich Andreas Rosen abrupt umdrehte. Mehrere Gäste wollten den Mann, der die festliche Atmosphäre störte, zum Schweigen bringen. Zwei jüngere Ärzte traten dazu, bauten sich drohend vor dem großen Kerl auf und demonstrierten damit überdeutlich, dass er unerwünscht war.
»Andreas, lass es!«, rief sie, aber ihr Mann hörte nicht auf sie. Das Alphatier in ihm war erwacht und hatte angefangen, sein Territorium zu markieren.
»Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind«, sagte er. »Aber ich schlage vor, dass Sie sich öffentlich erst dann wieder zeigen, wenn Sie gelernt haben, sich unter Menschen zu benehmen.«
Der Angesprochene, der die Männer, die ihn festhielten, ohnehin um einen Kopf überragte, straffte die Schultern und reckte das Kinn. Von der Garderobe her waren alle Augenpaare auf seine trockenen Lippen gerichtet. Die Damen hinter der Theke, die die Pelze und Trenchcoats verwahrten, die anderen, die sich an der Gruppe vorbeidrückten, und die Privatchauffeure, die an den Schwingtüren warteten - alle hatten die Köpfe zu ihm gewandt.
Und dann kamen jene Sätze, die niemals hätten ausgesprochen werden dürfen.
»Dann fragen Sie Nete doch, wo sie sterilisiert wurde, Herr Rosen. Fragen Sie sie, wie viele Schwangerschaftsabbrüche sie hatte. Fragen Sie sie, wie sich fünf Tage in der Strafzelle anfühlen. Fragen Sie sie danach, aber kommen Sie mir nicht mit Belehrungen über Umgangsformen, Andreas Rosen. Dazu bedarf es anderer.«
Curt Wad trat zur Seite. »Ich gehe!«, rief er hasserfüllt. »Und du, Nete! «, der Finger, mit dem er auf sie deutete, zitterte, »schmor doch in der Hölle. Wo du hingehörst.«
Als die Schwingtüren hinter ihm zuklappten, wurde das Stimmengewirr laut.
wen es die Beine breit macht. Dessen debiles Hirn den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge nicht kennt und ... «
Es zog in ihrem Handgelenk, als sich Andreas Rosen abrupt umdrehte. Mehrere Gäste wollten den Mann, der die festliche Atmosphäre störte, zum Schweigen bringen. Zwei jüngere Ärzte traten dazu, bauten sich drohend vor dem großen Kerl auf und demonstrierten damit überdeutlich, dass er unerwünscht war.
»Andreas, lass es!«, rief sie, aber ihr Mann hörte nicht auf sie. Das Alphatier in ihm war erwacht und hatte angefangen, sein Territorium zu markieren.
»Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind«, sagte er. »Aber ich schlage vor, dass Sie sich öffentlich erst dann wieder zeigen, wenn Sie gelernt haben, sich unter Menschen zu benehmen.«
Der Angesprochene, der die Männer, die ihn festhielten, ohnehin um einen Kopf überragte, straffte die Schultern und reckte das Kinn. Von der Garderobe her waren alle Augenpaare auf seine trockenen Lippen gerichtet. Die Damen hinter der Theke, die die Pelze und Trenchcoats verwahrten, die anderen, die sich an der Gruppe vorbeidrückten, und die Privatchauffeure, die an den Schwingtüren warteten - alle hatten die Köpfe zu ihm gewandt.
Und dann kamen jene Sätze, die niemals hätten ausgesprochen werden dürfen.
»Dann fragen Sie Nete doch, wo sie sterilisiert wurde, Herr Rosen. Fragen Sie sie, wie viele Schwangerschaftsabbrüche sie hatte. Fragen Sie sie, wie sich fünf Tage in der Strafzelle anfühlen. Fragen Sie sie danach, aber kommen Sie mir nicht mit Belehrungen über Umgangsformen, Andreas Rosen. Dazu bedarf es anderer.«
Curt Wad trat zur Seite. »Ich gehe!«, rief er hasserfüllt. »Und du, Nete! «, der Finger, mit dem er auf sie deutete, zitterte, »schmor doch in der Hölle. Wo du hingehörst.«
Als die Schwingtüren hinter ihm zuklappten, wurde das Stimmengewirr laut.
»Das war Curt Wad«, flüsterte jemand hinter ihnen. »Hat mit dem heutigen Preisträger zusammen studiert. Und das ist auch das einzig Gute, das sich über ihn sagen lässt.«
Aber sie stand mindestens ebenso im Zentrum der Aufmerksamkeit. Entblößt.
Die Menschen ringsum musterten sie. Und die Blicke verweilten bei Dingen, die auf einmal Netes wahres Ich zu enthüllen schienen. War das Dekolleté zu tief? Sahen ihre Hüften, ihre Lippen vulgär aus?
Als die Garderobenfrau ihnen die Mäntel reichte, kam deren warmer Atem Nete fast giftig vor. »Du bist keinen Deut besser als ich«, schien er zu hauchen.
So schnell ging das.
Sie schlug die Augen nieder und nahm den Arm ihres Mannes. Ihres geliebten Mannes, dessen Blick sie nicht zu begegnen wagte.
Sie horchte auf das leise, regelmäßige Brummen des Motors. Sie hatten seither kein Wort gewechselt, saßen nur nebeneinander und starrten an den unablässig arbeitenden Scheibenwischern vorbei in den dunklen Herbstabend.
Vielleicht wartete er auf Dementis, aber damit konnte sie nicht dienen.
Vielleicht erwartete sie, dass er ihr entgegenkam. Dass er ihr aus der Zwangsjacke half, in die sie sich eingeschnürt fühlte. Dass er sie einfach ansah und sagte, das alles habe nichts zu bedeuten, nur ihre gemeinsamen elf Jahre zählten.
Und nicht die siebenunddreißig Jahre, die sie vorher gelebt hatte.
Aber er schaltete das Autoradio ein und füllte so den Raum lautstark mit Distanz. Sting begleitete sie südwärts über Seeland, Sade und Madonna über die Insel Falster und den Guldborgsund. Es war die Nacht der jungen Sänger und ihrer neuen, unverwechselbaren Stimmen. Das war das Einzige, was sie verband.
Alles andere verschwand.
Wenige hundert Meter vor dem Dorf Blans und zwei Kilometer vor dem großen Hof fuhr er plötzlich auf den Seitenstreifen.
»So, und jetzt schieß los«, sagte er, den Blick in die Dunkelheit gerichtet. Kein freundliches, tröstendes Wort. Nur dieses »Jetzt schieß los«. Nicht einmal ihren Namen nahm er in den Mund.
Sie schloss die Augen. Dann fing sie stockend an zu sprechen, bat ihn zu verstehen, dass es Ereignisse gegeben habe, die alles erklärten, und dass der Mann, der sie so beleidigt habe, an ihrem Unglück schuld sei.
Aber davon abgesehen stimme, was er gesagt habe. Das gab sie mit leiser Stimme zu.
Insgesamt stimme es.
Einen quälenden Augenblick lang war nur sein Atem zu hören. Dann wandte er sich ihr zu. Seine Augen waren dunkel. »Deshalb also konnten wir beide keine Kinder bekommen«, sagte er.
Sie nickte. Presste die Lippen zusammen. Sagte, wie es war. Ja, sie hatte sich schuldig gemacht, indem sie gelogen, indem sie den Grund verschwiegen hatte. Sie gab es zu. Als junges Mädchen habe man sie nach Sprogø gebracht, aber da habe sie nichts dafürgekonnt, das sei das Ergebnis von Machtmissbrauch, Ablehnung und Willkür gewesen. Das Ende einer Kette von Fehlurteilen. Das und nichts anderes. Und ja, sie habe mehrere Aborte gehabt und sei sterilisiert worden, aber dieser entsetzliche Mensch, dem sie gerade begegnet seien ...
Da legte er ihr eine Hand auf den Arm, deren Eiseskälte sich wie mit Stromstößen auf ihren Körper übertrug und sie erstarren ließ.
Dann schaltete er in den ersten Gang, ließ die Kupplung kommen und fuhr langsam durch den Ort. Zwischen den Wiesen und dem Ausblick auf das dunkle Meer beschleunigte er.
»Bedaure, Nete. Aber dass du mich jahrelang in dem blinden Glauben gelassen hast, wir beide könnten ein Kind bekommen, kann ich dir nicht verzeihen. Das kann ich einfach nicht. Und was das Übrige angeht, so widert es mich an.«
Er schwieg, und sie spürte, wie ihre Schläfen eiskalt wurden und sich der Nacken verspannte.
Schließlich hob er den Kopf auf diese anmaßende Art, wie er es in Verhandlungen mit Menschen tat, die seinem Gefühl nach seinen Respekt nicht verdienten.
»Ich packe meine Sachen und räume das Feld«, sagte er und betonte jedes Wort. »Bis du etwas anderes gefunden hast. Ich gebe dir eine Woche. Von Havngaard kannst du mitnehmen, was du willst. Es soll dir an nichts fehlen.«
Immer ungläubiger starrte sie ihn an. Dann wandte sie sich langsam ab und blickte über das Wasser. Ließ das Fenster ein wenig herunter und nahm den Geruch des Tangs wahr. Das tiefschwarze Meer schien endgültig nach ihr zu greifen. Wie damals, in jenen einsamen, verzweifelten Tagen auf Sprogø, als die unablässig heranrollenden Wellen sie gelockt hatten, ihrem elenden Leben ein Ende zu bereiten.
»Es soll dir an nichts fehlen« - als wenn das etwas bedeutete. Dann kannte er sie wirklich nicht.
Einen Moment lang fixierte sie das Datum auf der Uhr, 14. November 1985. Ihre Lippen zitterten, als sie ihm das Gesicht zuwandte.
Seine Augen wirkten wie dunkle Höhlen. Ihn interessierte nur die Straße vor ihm, nur die nächste Kurve.
Da hob sie langsam eine Hand zum Steuer, packte es, und als er protestieren wollte, zog sie so kräftig daran, wie sie nur konnte.
Der Wagen mit seiner gewaltigen Schubkraft reagierte sofort. Die Straße verschwand unter ihnen, und das Krachen durch die Böschung übertönte die letzten Proteste ihres Mannes.
Als sie aufs Meer aufschlugen, war es fast wie nach Hause zu kommen.
...
Übersetzung: Hannes Thiess
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München
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Autoren-Porträt von Jussi Adler-Olsen
Jussi Adler-Olsen wurde 1950 in Kopenhagen geboren. Seit 1997 veröffentlicht er Romane, seit 2007 die erfolgreiche Serie um Carl Mørck vom Sonderdezernat Q. Mit den Thrillern „Erbarmen", „Schändung", „Erlösung", „Verachtung" sowie seinem Roman „Das Alphabethaus" und „Das Washington-Dekret" stürmt er die internationalen Bestsellerlisten. Seine vielfach preisgekrönten Bücher wurden in über 30 Ländern verkauft, die Filmrechte an der Sonderdezernat-Q-Serie hat Lars von Triers Produktionsfirma Zentropa erworben.Bibliographische Angaben
- Autor: Jussi Adler-Olsen
- 2012, 4. Auflage, 544 Seiten, Deutsch
- Übersetzer: Hannes Thiess
- Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
- ISBN-10: 3423413182
- ISBN-13: 9783423413183
- Erscheinungsdatum: 01.09.2012
Abhängig von Bildschirmgröße und eingestellter Schriftgröße kann die Seitenzahl auf Ihrem Lesegerät variieren.
eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 2.82 MB
- Ohne Kopierschutz
- Vorlesefunktion
Rezension zu „Verachtung / Carl Mørck. Sonderdezernat Q Bd.4 (ePub)“
"Bestsellerautor Jussi Adler-Olsen hat ein gutes Gespür für gesellschaftliche Entwicklungen - denn seine Thriller ahnen bisweilen aktuelle Ereignisse voraus."Wolfgang Keil, Main-Post 22.08.2012
Pressezitat
»Der Mann ist ein Phänomen.«Volker Isfo, Abendzeitung 22.08.2012
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Kommentare zu "Verachtung / Carl Mørck. Sonderdezernat Q Bd.4"
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