Die Macht der Kränkung
Wo die Wurzeln des Destruktiven liegen
Arzt und Psychotherapeut Reinhard Haller weiß: Fast alle menschlichen Probleme beruhen auf einer Kränkung. Der Grund? Kränkungen stellen unsere...
Arzt und Psychotherapeut Reinhard Haller weiß: Fast alle menschlichen Probleme beruhen auf einer Kränkung. Der Grund? Kränkungen stellen unsere...
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Produktinformationen zu „Die Macht der Kränkung “
Klappentext zu „Die Macht der Kränkung “
Wo die Wurzeln des Destruktiven liegenArzt und Psychotherapeut Reinhard Haller weiß: Fast alle menschlichen Probleme beruhen auf einer Kränkung. Der Grund? Kränkungen stellen unsere Selbstachtung, unser Ehrgefühl und unsere Werte in Frage. Sie treffen uns genau dort, wo es am meisten weh tut, werfen uns unter Umständen aus der Bahn, machen uns krank und können sogar die Ursache für die brutalsten Verbrechen und Kriege sein. Reinhard Haller macht mit Hilfe von ausgesuchten Beispielen aus der Geschichte und der Praxis deutlich, wie sehr Kränkungen uns in unserem Denken und Handeln beeinflussen können, aber auch wie es klappen kann, an seelischen Verletzungen zu wachsen und durch sie sogar die eigene Persönlichkeit zu stärken.
Lese-Probe zu „Die Macht der Kränkung “
Reinhard Haller - Die Macht der KränkungEinleitung
Am Anfang war die Kränkung. Kein Streit, kaum ein Konflikt und
nur wenige Krisen, die nicht auf Kränkungen zurückzuführen
sind. Kränkungen trüben das Lebensglück, lösen mannigfaches
Leid aus, stoßen den Menschen in Bitternis und bestimmen viele
Schicksale. Nichts beeinflusst Stimmung und Motivation, nichts
Befindlichkeit und Lebensqualität, nichts unser Selbstwertgefühl
so sehr wie manche Kränkung. Ihr Schatten legt sich auf das unbeschwerte
Leben und verwandelt die Leichtigkeit des Seins in
schwermütiges Existieren. Da Kränkungen das Individuum in
seinem Innersten, im Kern der Persönlichkeit treffen, erleben wir
sie als Generalangriff auf das gesamte Ich. Sie führen zu einer
nachhaltigen Erschütterung des Selbst und seiner Werte. Und so
ist kaum jemand ihrer zermürbenden Kraft gewachsen.
Kränkungen stehen am Beginn von Auseinandersetzung und
Feindschaft, von Demütigung und Rache, von Krankheit und
Leid. Kollektive Kränkungen ziehen sich durch die menschliche
Geschichte, ihre destruktive Energie hat Kriege ausgelöst und ist
für Völker und Kulturen schicksalsbestimmend geworden. Ihre
Botschaft finden wir in der Symbolik von Mythen und Sagen, ihre
verheerende Wirkung wird in Dramen und Romanen beschrieben.
Kränkungen liefern den Stoff für die besten Werke der Weltliteratur,
beginnend mit den gekränkten Helden Homers über das von
Kränkungen getragene »Nibelungenlied« bis hin zu den Nobelpreiswerken
unserer Zeit. Nach der Botschaft des Alten Testaments
finden wir das Motiv für das ganz am Anfang der Menschheitsgeschichte
stehende Verbrechen, den Brudermord von Kain
an Abel, in nichts anderem als in tiefer Gekränktheit: Kränkung
als Urmotiv des Urverbrechens.
Kränkungen sind in unserem Leben
... mehr
universell verbreitet und
stellen das zwischenmenschliche Problem schlechthin dar. Sie
sind unvermeidlicher Bestandteil unseres Kommunizierens, ob
wir wollen oder nicht. Mag man sie noch so sehr verdrängen und
tabuisieren, es entrinnt ihnen kein Mensch. Niemand bleibt von
Kränkungen verschont, jeder wird tagtäglich mit ihnen konfrontiert.
Sie ziehen sich durch unser Leben, von der als erste große
Kränkung erlebten Geburt bis hin zur unfassbaren Kränkung des
Todes. Das soziale Leben ist durchdrungen von mangelnder Wertschätzung,
von psychischen Verletzungen, von Enttäuschungen.
Jeder kränkt und wird gekränkt. William Shakespeare hat seine
rhetorische Frage, »Wer lebt, der nicht gekränkt ist oder kränkt?«,
selbst eindeutig beantwortet: Niemand. Man kann nicht nicht
kränken und kann nur schwer nicht gekränkt sein, könnte man
in Abwandlung eines berühmten Wortes von Paul Watzlawick,
dem bedeutenden Kommunikationswissenschaftler und Psychotherapeuten,
folgern.
Kränkung ist mehr als ein Gefühl oder eine negative Stimmung,
mehr als eine Emotion oder ein Affekt, ja mehr als beides
zusammen. Wenn wir sie genau analysieren, ist sie eine Interaktion
zwischen kränkender und gekränkter Person und dem Kränkungsinhalt,
der Kränkung an sich. Als einer der wichtigsten sozialen
Mechanismen hat sie die Bedeutung einer psychologischen
Großmacht - stärker als Ärger und Unzufriedenheit, nachhaltiger
als Zorn und Wut, folgenschwerer als Frustration und Trauer.
Kränkungen quälen Neurotiker und hetzen Querulanten, sie stacheln
Amokläufer und Terroristen an, sie motivieren Kriegstreiber
und Diktatoren. Mit aufreibender Wirkung verhindern sie
persönliche Weiterentwicklung und beruflichen Erfolg, durch destruktive
Kräfte zerstören sie Partnerschaften und Karrieren.
Werden sie nicht überwunden, können sie jeglichen Neuanfang
ersticken und den Fortschritt unterminieren. An Kränkungen
scheitern Wirtschaftsbeziehungen und große Geschäfte, sie sprengen
bewährte Verbindungen und verschworene Gemeinschaften,
sie sind das Ende sorgsam aufgebauter Vernetzungen. Was verwandelt
enge Freundschaft zu jahrelanger Feindschaft, was Verbrüderung
zu Ablehnung, was ewige Liebe zu unversöhnlichem
Hass? Und was ist die Hauptursache der meisten zwischenmenschlichen
Konflikte, was zerschneidet am häufigsten familiäre
Bande, was birgt die größten Gefahren für jedes Bündnis und
was verwandelt tiefe Zuneigung in kalte Verachtung? Es sind
Kränkungen und Gekränktheit.
»Was kränkt, macht krank, was kränkt, löst Krisen aus, Kränkungen
führen zu Kriminalität und Krieg« - so lautet die Hauptthese
dieses Buches. Anders ausgedrückt heißt das: Kränkungen
sind Ursache der meisten Zerwürfnisse, im Kleinen wie im Großen,
sie erweisen sich als tieferer Grund vieler psychischer, ja sogar
körperlicher Krankheiten. Kränken und Gekränktheit sind
die Wurzeln der meisten menschlichen Übel. Kollektive Gefühle
der Kränkung, der Erniedrigung und Scham stellen gewaltige
soziale Energien dar, die zu generationenübergreifender Feindschaft
zwischen den Völkern und kriegerischen Auseinandersetzungen
führen können. Unter Historikern besteht kein Zweifel,
dass die Demütigung der Verlierer des Ersten Weltkriegs durch
die Pariser Vorortverträge - zusammen mit aufkommendem Nationalismus,
Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit - entscheidend
für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war. Kränkung
macht eben auch Geschichte.
Die auf die große Mystikerin und Universalgelehrte Hildegard
von Bingen zurückgehende Weisheit über die krank machende
Wirkung der Kränkungen und den Leid bringenden Effekt von
Beleidigungen hat auch im Zeitalter der Technomedizin nichts
von ihrer Gültigkeit verloren. So resultieren viele psychische Störungen
aus nicht überwundenen, verdrängten und nicht bewusst
gewordenen Kränkungen. Einen Hauptteil der heute so häufig
diagnostizierten psychischen Traumatisierungen und viele reaktive
Depressionen stellen nichts anderes dar als Kränkungsreaktionen.
Kränkungen lösen neurotische Entwicklungen und Sucht
prozesse, genauso wie depressive Störungen und Angstattacken
aus. Sie führen den Menschen an den Rand des Wahnsinns, manchmal
an jenen des Suizids. Bei tief gehender Ursachenforschung erweisen
sich Missbrauch und Abhängigkeit von Alkohol oder Drogen
als fehlgelaufene Versuche, psychische Verletzungen zu lindern
und innere Kränkungen zu betäuben. Was liegt für gekränkte
Menschen denn näher, als die Flucht in die Sucht zu ergreifen?
Wenn man in der psychosomatischen Medizin nach den seelischen
Ursachen körperlicher Funktionsstörungen fahndet, stößt
man nahezu regelmäßig auf verborgene Kränkungen. Selbst bei
scheinbar rein körperlichen Leiden wie Bluthochdruck oder Stoffwechselstörungen
können tief verwurzelte Kränkungskonflikte
entscheidende Auslöser sein. Und manch einer ist an unheilbarer
Kränkung gestorben.
Kränkungen führen als Angriff auf das Selbstbild regelhaft
zu Krisen, also zu psychischen Not- und Entscheidungssituationen.
Da in einer Krise nichts mehr so ist, wie es war, und viele
bisher gültige Regeln und Werte infrage gestellt sind, werden wir
verunsichert und beginnen zu zweifeln, vor allem an uns selbst.
Ob eine Krise überwunden wird, ob man an ihr zerbricht oder
aus ihr gestärkt hervorgeht, hängt maßgeblich davon ab, ob und
wie die durch sie ausgelöste Kränkungsreaktion bewältigt wird.
Wenn es gelingt, die jeder Krise zugrunde liegende Kränkung zu
erkennen und sich ihr zu stellen, können sich daraus sogar ungeahnte
Chancen entwickeln - jene der Höchstleistung durch
Kompensation, der Weiterentwicklung durch bittere Erfahrung,
der Persönlichkeitsstärkung durch Überwindung oder der Souveränität
durch Verzeihenkönnen. So widersprüchlich und paradox
es klingen mag: Kränkungen können in manchen Fällen
auch heilen.
Trotz seiner enormen gesundheitlichen Bedeutung wird das
Kränkungsthema in der Medizin weitgehend tabuisiert. Kränkungen
haben in der Labor- und Apparatemedizin scheinbar
ebenso wenig Platz wie im Selbstbild einer modernen Gesell-
schaft. In den großen Diagnosekatalogen der Weltgesundheitsorganisation
und der psychiatrischen Fachgesellschaften, die
sonst jede noch so kleine Störung erfassen, kommt der Kränkungsbegriff
gar nicht vor. Bei meiner Ausbildung zum Arzt und
Psychiater haben Überlegungen zu Kränken und Gekränktsein so
gut wie keine Rolle gespielt, zumindest außerhalb des Karrierekampfs.
In der psychotherapeutischen Arbeit mit depressiven,
angstkranken und süchtigen Menschen jedoch konnte ich mehr
und mehr erkennen, dass vielen psychischen Störungen verborgene
Kränkungen zugrunde liegen und zahlreiche psychopathologische
Symptome in Wirklichkeit Reaktionen auf nicht verarbeitete
Kränkungserlebnisse sind.
Besonders intensiv hat sich mir die Macht der Kränkung in
meiner Tätigkeit als Kriminalpsychiater und Gerichtsgutachter
gezeigt. Bei zahlreichen Mördern, Räubern oder Attentätern war
kein anderes Motiv als tiefe Gekränktheit zu finden. Viele große
Verbrecher erwiesen sich im Grunde als gekränkte Genies. Kränkungen
sind oft die Wurzel kriminellen Verhaltens, von impulsiven
Stehlhandlungen und Brandstiftungen bis zu Beziehungsdelikten
und Familientragödien reichend. In neuerer Zeit bilden
Kränkungen und Demütigungen die Basis des modernen Terrors.
Der im Jänner 2015 die Welt erschütternde Anschlag auf die
»Charlie Hebdo«-Karikaturisten hatte seinen Ursprung wohl im
Gefühl der Beleidigung und Entwertung und war nichts anderes
als eine grauenhafte, fatale Kränkungsverarbeitung. Die sich daran
anschließende Debatte um die Grenzen der Karikatur war im
Prinzip eine einzige Kränkungsdiskussion. Und wie ist die furchtbare
Tat des Germanwings-Selbstmordattentäters, soweit sie
überhaupt aufgeklärt werden kann, zu interpretieren? Als Fanal
eines Gekränkten.
Dieses Buch kommt im Gegensatz zu seiner eigentlichen Intention
nicht umhin, auch ein Psychologieratgeber zu sein, allerdings
nicht im üblichen Sinn. Es enthält keine Powerstrategien
gegen Beleidigung oder Mobbing und fokussiert nicht auf Anti-
kränkungsmaßnahmen. Wie könnte man auch vermitteln, dass
Sie nach der Lektüre nichts mehr kränken kann? Vielmehr will
die Schrift das Kränkungsthema enttabuisieren und möglichst
intensiv für Kränken und Gekränktsein sensibilisieren: für eigene
Verwundungen und die Verletzlichkeit anderer, für einen sozialen
und emotionalen Prozess, für eine der wichtigsten zwischenmenschlichen
Interaktionen, für das so bedeutende und trotzdem
verdrängte Phänomen der Kränkung. Es will vertraut machen
mit dem Wesen der Kränkung, mit diesem schillernden und
kaum zu beschreibenden sozialen Mechanismus, welcher viel
schwerer zu fassen ist als die Beleidigung und viel unterschwelliger
- aber auch anhaltender - wirkt als Verärgerung oder Missmut.
Das Buch will eine Art »Kränkungsbewusstsein« schaffen,
welches die beste Haltung in der unvermeidlichen Konfrontation
mit Kränkungen darstellt. Es kann nicht vermitteln, wie man
Kränkungen verhindert oder sich gegen diese wehrt, wohl aber,
wie man mit ihnen umgehen kann. Wenn wir uns trauen, die
Kränkungen in unserem Leben anzuschauen und sie auch ernst
nehmen, werden wir besser mit unserer eigenen Empfindlichkeit
und der Kränkungsgrenze der Mitmenschen zurechtkommen.
Das Gespür für eigene Kränkbarkeit und das Kränken anderer
bietet die beste Gewähr für den richtigen Umgang mit Kränkungen.
Um die destruktiven Folgen von Kränkungen zu entschärfen,
ist es notwendig, diese zu enttabuisieren und Möglichkeiten der
positiven Bewältigung - die gibt es tatsächlich - zu suchen. So
kann die Handhabung der Kränkungen zur Entwicklungschance
werden und die Selbst- und Fremdkenntnis fördern. Aufmerksames
Wahrnehmen der eigenen Verletzlichkeit und behutsames
Beachten der Kränkbarkeit unserer Mitmenschen machen uns
sensibler und fördern die zwischenmenschliche Kompetenz. Achtsamkeit
für Kränkungen vertieft unsere Einfühlungsfähigkeit, die
Empathie, die wahrscheinlich wichtigste menschliche Eigenschaft
überhaupt.
In diesem Buch werden drei Thesen verfolgt:
1. Kränkungen sind destruktive Energien, die fast jedem menschlichen
Übel, von Krisen und psychosomatischen Krankheiten
über Partnerschafts- und Berufskonflikte bis zu Terror und
Krieg reichend, zugrunde liegen.
2. Kränkungen sind nicht nur eine komplexe Emotion, sondern
eine Interaktion zwischen Kränkungsabsender (= Kränker),
Kränkungsbotschaft (= Kränkung) und Kränkungsempfänger
bzw. -adressaten (= Gekränkter).
3. Kränkungen bieten die Chance, sich selbst und die Mitmenschen
besser kennenzulernen sowie die vielleicht wichtigste
menschliche Emotion, das Empathievermögen, zu fördern.
Da Kränkungen in der menschlichen Gemeinschaft universell
verbreitet sind und bei so vielen sozialen Begegnungen eine bedeutende
Rolle spielen, besteht die Gefahr der inflationären Verwendung
des Begriffs. Nicht alles und jedes ist eine Entwertung,
nicht jede Kritik eine Demütigung, nicht jede Belastung oder
Auseinandersetzung führt zur echten Kränkungsreaktion. Will
man die Macht der Kränkung realitätsgerecht darstellen, ist eine
nüchterne Einschätzung erforderlich. Deshalb wird das Wesen
der Kränkung, die diesen Namen verdient, exakt beschrieben und
in ihren Grundelementen erfasst. Dass aber neben manch einzigartigen
Fällen, die in diesem Buch präsentiert werden, das eine
oder andere Beispiel trivial und allzu alltäglich wirkt, ja wirken
muss, ist angesichts der Allgegenwart von Kränkungen in unserem
Leben nicht zu vermeiden. Auch müssen in einem Sachbuch,
das ja kein reines Wissenschaftswerk ist, aufgrund der Konzeption
und des beschränkten Umfangs Vereinfachungen vorgenommen
werden, besonders in den theoretischen Teilen und den
Fallschilderungen. Dies mögen die Leserinnen und Leser ungekränkt
und großmütig verzeihen.
Wenn wir heute über die kranke Gesellschaft klagen, übersehen
wir, dass sie nicht nur kalt, egoistisch oder unsolidarisch,
sondern vor allem gekränkt ist, wahrscheinlich mehr als in anderen
Phasen der Geschichte. Dafür gibt es zahlreiche Gründe,
etwa die in Zeiten der Globalisierung stärker gewordene Anspruchshaltung,
die steigende Zahl an hypersensiblen Charakteren
oder die Etablierung des gesellschaftlichen Narzissmus,
welcher unweigerlich mit starker Kränkbarkeit verbunden ist. In
einer Gesellschaft, die sich wesentlich über Leistungserbringung,
hohe Zielsetzungen, permanente Aktivität und Produktion definiert,
werden jegliches Scheitern und die nicht zu verhindernden
Misserfolge zwangsläufig zu Enttäuschungen und Selbstwertzweifeln
führen. Und wenn wir Tätigkeiten, bei denen Produktivität
und Erfolge nicht ohne Weiteres sichtbar sind, immer
weniger
schätzen, bereiten wir den Boden für Frustration und
Kränkung vor.
Noch nie aber wurden Geringschätzung, Entwertung, Enttäuschung
und Kränkung so sehr verdrängt und tabuisiert wie in
unserer modernen Zeit. Das Kränkungsthema passt nicht zum
Bild des bestens funktionierenden Menschen und schon gar nicht
in unser durchorganisiertes Leben. Wenn wir aber genau hinsehen,
müssen wir überrascht erkennen, dass sich hinter der so gern
aufgezogenen Maske der Coolness und Unverletzbarkeit, der
Korrektheit und äußeren Makellosigkeit etwas verbirgt, was der
Mensch heute mehr denn je ist: ein gekränktes und kränkendes
Wesen.
© Ecowin Verlag
stellen das zwischenmenschliche Problem schlechthin dar. Sie
sind unvermeidlicher Bestandteil unseres Kommunizierens, ob
wir wollen oder nicht. Mag man sie noch so sehr verdrängen und
tabuisieren, es entrinnt ihnen kein Mensch. Niemand bleibt von
Kränkungen verschont, jeder wird tagtäglich mit ihnen konfrontiert.
Sie ziehen sich durch unser Leben, von der als erste große
Kränkung erlebten Geburt bis hin zur unfassbaren Kränkung des
Todes. Das soziale Leben ist durchdrungen von mangelnder Wertschätzung,
von psychischen Verletzungen, von Enttäuschungen.
Jeder kränkt und wird gekränkt. William Shakespeare hat seine
rhetorische Frage, »Wer lebt, der nicht gekränkt ist oder kränkt?«,
selbst eindeutig beantwortet: Niemand. Man kann nicht nicht
kränken und kann nur schwer nicht gekränkt sein, könnte man
in Abwandlung eines berühmten Wortes von Paul Watzlawick,
dem bedeutenden Kommunikationswissenschaftler und Psychotherapeuten,
folgern.
Kränkung ist mehr als ein Gefühl oder eine negative Stimmung,
mehr als eine Emotion oder ein Affekt, ja mehr als beides
zusammen. Wenn wir sie genau analysieren, ist sie eine Interaktion
zwischen kränkender und gekränkter Person und dem Kränkungsinhalt,
der Kränkung an sich. Als einer der wichtigsten sozialen
Mechanismen hat sie die Bedeutung einer psychologischen
Großmacht - stärker als Ärger und Unzufriedenheit, nachhaltiger
als Zorn und Wut, folgenschwerer als Frustration und Trauer.
Kränkungen quälen Neurotiker und hetzen Querulanten, sie stacheln
Amokläufer und Terroristen an, sie motivieren Kriegstreiber
und Diktatoren. Mit aufreibender Wirkung verhindern sie
persönliche Weiterentwicklung und beruflichen Erfolg, durch destruktive
Kräfte zerstören sie Partnerschaften und Karrieren.
Werden sie nicht überwunden, können sie jeglichen Neuanfang
ersticken und den Fortschritt unterminieren. An Kränkungen
scheitern Wirtschaftsbeziehungen und große Geschäfte, sie sprengen
bewährte Verbindungen und verschworene Gemeinschaften,
sie sind das Ende sorgsam aufgebauter Vernetzungen. Was verwandelt
enge Freundschaft zu jahrelanger Feindschaft, was Verbrüderung
zu Ablehnung, was ewige Liebe zu unversöhnlichem
Hass? Und was ist die Hauptursache der meisten zwischenmenschlichen
Konflikte, was zerschneidet am häufigsten familiäre
Bande, was birgt die größten Gefahren für jedes Bündnis und
was verwandelt tiefe Zuneigung in kalte Verachtung? Es sind
Kränkungen und Gekränktheit.
»Was kränkt, macht krank, was kränkt, löst Krisen aus, Kränkungen
führen zu Kriminalität und Krieg« - so lautet die Hauptthese
dieses Buches. Anders ausgedrückt heißt das: Kränkungen
sind Ursache der meisten Zerwürfnisse, im Kleinen wie im Großen,
sie erweisen sich als tieferer Grund vieler psychischer, ja sogar
körperlicher Krankheiten. Kränken und Gekränktheit sind
die Wurzeln der meisten menschlichen Übel. Kollektive Gefühle
der Kränkung, der Erniedrigung und Scham stellen gewaltige
soziale Energien dar, die zu generationenübergreifender Feindschaft
zwischen den Völkern und kriegerischen Auseinandersetzungen
führen können. Unter Historikern besteht kein Zweifel,
dass die Demütigung der Verlierer des Ersten Weltkriegs durch
die Pariser Vorortverträge - zusammen mit aufkommendem Nationalismus,
Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit - entscheidend
für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war. Kränkung
macht eben auch Geschichte.
Die auf die große Mystikerin und Universalgelehrte Hildegard
von Bingen zurückgehende Weisheit über die krank machende
Wirkung der Kränkungen und den Leid bringenden Effekt von
Beleidigungen hat auch im Zeitalter der Technomedizin nichts
von ihrer Gültigkeit verloren. So resultieren viele psychische Störungen
aus nicht überwundenen, verdrängten und nicht bewusst
gewordenen Kränkungen. Einen Hauptteil der heute so häufig
diagnostizierten psychischen Traumatisierungen und viele reaktive
Depressionen stellen nichts anderes dar als Kränkungsreaktionen.
Kränkungen lösen neurotische Entwicklungen und Sucht
prozesse, genauso wie depressive Störungen und Angstattacken
aus. Sie führen den Menschen an den Rand des Wahnsinns, manchmal
an jenen des Suizids. Bei tief gehender Ursachenforschung erweisen
sich Missbrauch und Abhängigkeit von Alkohol oder Drogen
als fehlgelaufene Versuche, psychische Verletzungen zu lindern
und innere Kränkungen zu betäuben. Was liegt für gekränkte
Menschen denn näher, als die Flucht in die Sucht zu ergreifen?
Wenn man in der psychosomatischen Medizin nach den seelischen
Ursachen körperlicher Funktionsstörungen fahndet, stößt
man nahezu regelmäßig auf verborgene Kränkungen. Selbst bei
scheinbar rein körperlichen Leiden wie Bluthochdruck oder Stoffwechselstörungen
können tief verwurzelte Kränkungskonflikte
entscheidende Auslöser sein. Und manch einer ist an unheilbarer
Kränkung gestorben.
Kränkungen führen als Angriff auf das Selbstbild regelhaft
zu Krisen, also zu psychischen Not- und Entscheidungssituationen.
Da in einer Krise nichts mehr so ist, wie es war, und viele
bisher gültige Regeln und Werte infrage gestellt sind, werden wir
verunsichert und beginnen zu zweifeln, vor allem an uns selbst.
Ob eine Krise überwunden wird, ob man an ihr zerbricht oder
aus ihr gestärkt hervorgeht, hängt maßgeblich davon ab, ob und
wie die durch sie ausgelöste Kränkungsreaktion bewältigt wird.
Wenn es gelingt, die jeder Krise zugrunde liegende Kränkung zu
erkennen und sich ihr zu stellen, können sich daraus sogar ungeahnte
Chancen entwickeln - jene der Höchstleistung durch
Kompensation, der Weiterentwicklung durch bittere Erfahrung,
der Persönlichkeitsstärkung durch Überwindung oder der Souveränität
durch Verzeihenkönnen. So widersprüchlich und paradox
es klingen mag: Kränkungen können in manchen Fällen
auch heilen.
Trotz seiner enormen gesundheitlichen Bedeutung wird das
Kränkungsthema in der Medizin weitgehend tabuisiert. Kränkungen
haben in der Labor- und Apparatemedizin scheinbar
ebenso wenig Platz wie im Selbstbild einer modernen Gesell-
schaft. In den großen Diagnosekatalogen der Weltgesundheitsorganisation
und der psychiatrischen Fachgesellschaften, die
sonst jede noch so kleine Störung erfassen, kommt der Kränkungsbegriff
gar nicht vor. Bei meiner Ausbildung zum Arzt und
Psychiater haben Überlegungen zu Kränken und Gekränktsein so
gut wie keine Rolle gespielt, zumindest außerhalb des Karrierekampfs.
In der psychotherapeutischen Arbeit mit depressiven,
angstkranken und süchtigen Menschen jedoch konnte ich mehr
und mehr erkennen, dass vielen psychischen Störungen verborgene
Kränkungen zugrunde liegen und zahlreiche psychopathologische
Symptome in Wirklichkeit Reaktionen auf nicht verarbeitete
Kränkungserlebnisse sind.
Besonders intensiv hat sich mir die Macht der Kränkung in
meiner Tätigkeit als Kriminalpsychiater und Gerichtsgutachter
gezeigt. Bei zahlreichen Mördern, Räubern oder Attentätern war
kein anderes Motiv als tiefe Gekränktheit zu finden. Viele große
Verbrecher erwiesen sich im Grunde als gekränkte Genies. Kränkungen
sind oft die Wurzel kriminellen Verhaltens, von impulsiven
Stehlhandlungen und Brandstiftungen bis zu Beziehungsdelikten
und Familientragödien reichend. In neuerer Zeit bilden
Kränkungen und Demütigungen die Basis des modernen Terrors.
Der im Jänner 2015 die Welt erschütternde Anschlag auf die
»Charlie Hebdo«-Karikaturisten hatte seinen Ursprung wohl im
Gefühl der Beleidigung und Entwertung und war nichts anderes
als eine grauenhafte, fatale Kränkungsverarbeitung. Die sich daran
anschließende Debatte um die Grenzen der Karikatur war im
Prinzip eine einzige Kränkungsdiskussion. Und wie ist die furchtbare
Tat des Germanwings-Selbstmordattentäters, soweit sie
überhaupt aufgeklärt werden kann, zu interpretieren? Als Fanal
eines Gekränkten.
Dieses Buch kommt im Gegensatz zu seiner eigentlichen Intention
nicht umhin, auch ein Psychologieratgeber zu sein, allerdings
nicht im üblichen Sinn. Es enthält keine Powerstrategien
gegen Beleidigung oder Mobbing und fokussiert nicht auf Anti-
kränkungsmaßnahmen. Wie könnte man auch vermitteln, dass
Sie nach der Lektüre nichts mehr kränken kann? Vielmehr will
die Schrift das Kränkungsthema enttabuisieren und möglichst
intensiv für Kränken und Gekränktsein sensibilisieren: für eigene
Verwundungen und die Verletzlichkeit anderer, für einen sozialen
und emotionalen Prozess, für eine der wichtigsten zwischenmenschlichen
Interaktionen, für das so bedeutende und trotzdem
verdrängte Phänomen der Kränkung. Es will vertraut machen
mit dem Wesen der Kränkung, mit diesem schillernden und
kaum zu beschreibenden sozialen Mechanismus, welcher viel
schwerer zu fassen ist als die Beleidigung und viel unterschwelliger
- aber auch anhaltender - wirkt als Verärgerung oder Missmut.
Das Buch will eine Art »Kränkungsbewusstsein« schaffen,
welches die beste Haltung in der unvermeidlichen Konfrontation
mit Kränkungen darstellt. Es kann nicht vermitteln, wie man
Kränkungen verhindert oder sich gegen diese wehrt, wohl aber,
wie man mit ihnen umgehen kann. Wenn wir uns trauen, die
Kränkungen in unserem Leben anzuschauen und sie auch ernst
nehmen, werden wir besser mit unserer eigenen Empfindlichkeit
und der Kränkungsgrenze der Mitmenschen zurechtkommen.
Das Gespür für eigene Kränkbarkeit und das Kränken anderer
bietet die beste Gewähr für den richtigen Umgang mit Kränkungen.
Um die destruktiven Folgen von Kränkungen zu entschärfen,
ist es notwendig, diese zu enttabuisieren und Möglichkeiten der
positiven Bewältigung - die gibt es tatsächlich - zu suchen. So
kann die Handhabung der Kränkungen zur Entwicklungschance
werden und die Selbst- und Fremdkenntnis fördern. Aufmerksames
Wahrnehmen der eigenen Verletzlichkeit und behutsames
Beachten der Kränkbarkeit unserer Mitmenschen machen uns
sensibler und fördern die zwischenmenschliche Kompetenz. Achtsamkeit
für Kränkungen vertieft unsere Einfühlungsfähigkeit, die
Empathie, die wahrscheinlich wichtigste menschliche Eigenschaft
überhaupt.
In diesem Buch werden drei Thesen verfolgt:
1. Kränkungen sind destruktive Energien, die fast jedem menschlichen
Übel, von Krisen und psychosomatischen Krankheiten
über Partnerschafts- und Berufskonflikte bis zu Terror und
Krieg reichend, zugrunde liegen.
2. Kränkungen sind nicht nur eine komplexe Emotion, sondern
eine Interaktion zwischen Kränkungsabsender (= Kränker),
Kränkungsbotschaft (= Kränkung) und Kränkungsempfänger
bzw. -adressaten (= Gekränkter).
3. Kränkungen bieten die Chance, sich selbst und die Mitmenschen
besser kennenzulernen sowie die vielleicht wichtigste
menschliche Emotion, das Empathievermögen, zu fördern.
Da Kränkungen in der menschlichen Gemeinschaft universell
verbreitet sind und bei so vielen sozialen Begegnungen eine bedeutende
Rolle spielen, besteht die Gefahr der inflationären Verwendung
des Begriffs. Nicht alles und jedes ist eine Entwertung,
nicht jede Kritik eine Demütigung, nicht jede Belastung oder
Auseinandersetzung führt zur echten Kränkungsreaktion. Will
man die Macht der Kränkung realitätsgerecht darstellen, ist eine
nüchterne Einschätzung erforderlich. Deshalb wird das Wesen
der Kränkung, die diesen Namen verdient, exakt beschrieben und
in ihren Grundelementen erfasst. Dass aber neben manch einzigartigen
Fällen, die in diesem Buch präsentiert werden, das eine
oder andere Beispiel trivial und allzu alltäglich wirkt, ja wirken
muss, ist angesichts der Allgegenwart von Kränkungen in unserem
Leben nicht zu vermeiden. Auch müssen in einem Sachbuch,
das ja kein reines Wissenschaftswerk ist, aufgrund der Konzeption
und des beschränkten Umfangs Vereinfachungen vorgenommen
werden, besonders in den theoretischen Teilen und den
Fallschilderungen. Dies mögen die Leserinnen und Leser ungekränkt
und großmütig verzeihen.
Wenn wir heute über die kranke Gesellschaft klagen, übersehen
wir, dass sie nicht nur kalt, egoistisch oder unsolidarisch,
sondern vor allem gekränkt ist, wahrscheinlich mehr als in anderen
Phasen der Geschichte. Dafür gibt es zahlreiche Gründe,
etwa die in Zeiten der Globalisierung stärker gewordene Anspruchshaltung,
die steigende Zahl an hypersensiblen Charakteren
oder die Etablierung des gesellschaftlichen Narzissmus,
welcher unweigerlich mit starker Kränkbarkeit verbunden ist. In
einer Gesellschaft, die sich wesentlich über Leistungserbringung,
hohe Zielsetzungen, permanente Aktivität und Produktion definiert,
werden jegliches Scheitern und die nicht zu verhindernden
Misserfolge zwangsläufig zu Enttäuschungen und Selbstwertzweifeln
führen. Und wenn wir Tätigkeiten, bei denen Produktivität
und Erfolge nicht ohne Weiteres sichtbar sind, immer
weniger
schätzen, bereiten wir den Boden für Frustration und
Kränkung vor.
Noch nie aber wurden Geringschätzung, Entwertung, Enttäuschung
und Kränkung so sehr verdrängt und tabuisiert wie in
unserer modernen Zeit. Das Kränkungsthema passt nicht zum
Bild des bestens funktionierenden Menschen und schon gar nicht
in unser durchorganisiertes Leben. Wenn wir aber genau hinsehen,
müssen wir überrascht erkennen, dass sich hinter der so gern
aufgezogenen Maske der Coolness und Unverletzbarkeit, der
Korrektheit und äußeren Makellosigkeit etwas verbirgt, was der
Mensch heute mehr denn je ist: ein gekränktes und kränkendes
Wesen.
© Ecowin Verlag
... weniger
Autoren-Porträt von Reinhard Haller
Reinhard Haller ist Psychiater und Psychotherapeut. Der Vorarlberger ist gefragter Experte und forensischer Gutachter. In dieser Rolle begegnete er einigen der bekanntesten Schwerverbrechern wie dem mehrfachen Prostituiertenmörder Jack Unterweger und dem Bombenleger Franz Fuchs. Der ehemalige langjährige Leiter der Klinik Maria Ebene liebt das Wandern und die Berge.
Bibliographische Angaben
- Autor: Reinhard Haller
- 2022, 12. Aufl., 248 Seiten, Maße: 15 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: ecoWing
- ISBN-10: 3711000789
- ISBN-13: 9783711000781
- Erscheinungsdatum: 21.10.2015
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