Bildung als Provokation
In „Bildung als Provokation" geht Konrad Paul Liessmann der Frage nach warum Bildung provoziert und aufregt. Er möchte wissen, wie etwas dass grundsätzlich als positiv zu betrachten ist, so negativ interpretiert werden kann. Der Professor am...
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Produktinformationen zu „Bildung als Provokation “
In „Bildung als Provokation" geht Konrad Paul Liessmann der Frage nach warum Bildung provoziert und aufregt. Er möchte wissen, wie etwas dass grundsätzlich als positiv zu betrachten ist, so negativ interpretiert werden kann. Der Professor am Institut für Philosophie in Wien ist der Meinung, dass der Begriff „Bildung" mittlerweile als Lückenfüller und Allheilmittel verwendet wird. Überall dort, wo andere Praktiken oder Institutionen versagt haben, wird er eingesetzt. Doch was uns heute als Bildung verkauft wird, hat mit ernsthaftem Bildungsanspruch längst nichts mehr zu tun.
Klappentext zu „Bildung als Provokation “
Alle reden von Bildung. Sie wurde zu einer säkularen Heilslehre für die Lösung aller Probleme - von der Bekämpfung der Armut bis zur Integration von Migranten, vom Klimawandel bis zum Kampf gegen den Terror. Während aber "Bildung" als Schlagwort in unserer Gesellschaft omnipräsent geworden ist, ist der Gebildete, ja jeder ernsthafte Bildungsanspruch zur Provokation geworden. Die Gründe dafür nennt Konrad Paul Liessmann in seinem neuen Buch. Dafür begibt er sich sowohl in die Niederungen der Parteienlandschaft als auch in die Untiefen der sozialen Netzwerke, er denkt über den moralischen Diskurs des Zeitgeists nach und darüber, warum es so unangenehm ist, gebildeten Menschen zu begegnen.
Lese-Probe zu „Bildung als Provokation “
Bildung als Provokation - Konrad Paul LiessmannVORWORT
Warum es so unangenehm ist, gebildeten Menschen zu
begegnen
Wer den aktuellen Bildungsdiskurs verfolgt, kann eine
interessante Beobachtung machen. Die Karriere des Begriffs
»Bildung« ist atemberaubend. »Bildung« ersetzt mittlerweile
nicht nur Konzepte wie Pädagogik, Erziehung oder
Unterricht, »Bildung« beschreibt nicht nur den Umgang mit
Menschen von der Beschallung des Ungeborenen im
Mutterleib über die Integration von Migranten bis zur
Einweisung von Senioren in den Gebrauch des Internets,
sondern »Bildung« kann mittlerweile als wohlfeiler Joker
überall dort eingesetzt werden, wo andere Institutionen oder
Praktiken versagen. Wer Bildung sagt, hat immer recht.
Während »Bildung« als universelles
Problemlösungsversprechen omnipräsent geworden ist, ist
der Gebildete, den wir ja eigentlich als Ziel all dieser
Bildungsanstrengungen vermuten müssten, aus dem
Wortschatz nahezu verschwunden. Nicht einmal mehr am
Horizont der Bildungsplanung und der Bildungsbiografien,
die nun untersucht und beschrieben werden, taucht der
Gebildete auf, und wir wüssten auch nicht, an welcher Stelle
der offiziellen Bildungskarrieren er in Erscheinung treten
sollte. Die Absolvierung der Schulpflicht, eine moderne
kompetenzorientierte Reifeprüfung, ein abgeschlossenes
Bachelorstudium nach dem Bologna-Modell - nichts davon
enthält den Gebildeten als Ziel- oder Leitvorstellung. Weder
sollen sich Menschen bilden, noch sollen sie gebildet
werden, gefordert ist heute der Erwerb von »Kompetenzen«
wie Teamfähigkeit, Kommunikationsbereitschaft,
Innovationsfreude und digitale Fitness.
Niemand wird bezweifeln, dass sich Menschen für
unterschiedliche Tätigkeiten qualifizieren, dass sie
vielfältige Fähigkeiten aufweisen und dass sie die
... mehr
aktuellen
Kulturtechniken beherrschen sollen. Aber keine dieser
Beschreibungen erfasst das, was man einmal mit Bildung
gemeint hatte. Gesetzt den Fall, dass uns der in einem
klassischen Sinne Gebildete tatsächlich noch einmal
begegnete, wären wir wahrscheinlich ziemlich irritiert. Der
Gebildete verkörperte all das, was der aktuelle
Bildungsdiskurs gerade nicht mehr unter Bildung verstehen
will. Dazu gehörten ein fundiertes Wissen, das es erlaubt,
auch ohne Zensurbehörde die Fakten von den Fiktionen zu
trennen, ästhetische und literarische Kenntnisse und
Erfahrungen, ein differenziertes historisches und
sprachliches Bewusstsein, ein kritisches Verhältnis zu sich
selbst, eine auf all dem gründende abwägende Urteilskraft
und eine gesteigerte Sensibilität gegenüber den Lügen,
Übertreibungen, Hypes, Phrasen, Moralisierungen und
Plattitüden der Gegenwart. Allerdings ließe sich nichts von
dem vorschnell der Forderung nach Nützlichkeit,
Anwendbarkeit und schneller Verwertbarkeit unterordnen.
Der Gebildete wäre heute eine eigentümliche Erscheinung
- wie aus der Zeit gefallen. Weltfremd wäre der Gebildete
aber nicht. Bildung stellte auch eine Form der Welthaltigkeit
dar, die sich jedoch nicht nur aus den Blasen der sozialen
Netzwerke, sondern auch aus anderen Quellen speist, zu
denen nicht zuletzt jene Bücher gehören, deren Lektüre wir
niemandem mehr zumuten wollen. Begegnete man solch
einem Menschen, wir wären wahrscheinlich unangenehm
berührt, vielleicht von Neid erfüllt, unter Umständen sogar
ein wenig beschämt, weil er unser aktuelles Bildungsweltbild
in Frage stellte.
Bildung, ernst gemeint, wäre heute eine Provokation. Ob
die grassierende Kompetenzorientierungskompetenz
wirklich die zeitgemäße Antwort auf diese Provokation
darstellt, darf allerdings bezweifelt werden. Bildung, das
macht ihren Stachel aus, lässt sich nicht auf formale
Fähigkeiten und Anwendungsorientierungen reduzieren.
Bildung hat immer auch mit konkreten Inhalten und -
horribile dictu - abstraktem Wissen zu tun, damit auch mit
Einsichten und Haltungen, die ihren Wert vorab in sich
tragen und es den Menschen erlauben, zu sich und der Welt
in einer Weise Stellung zu beziehen, die nicht nur dem
Diktat der Zeit und ihrer Moden gehorcht.
Bei aller Kritik an den bildungsfeindlichen
Bildungsreformen unserer Tage gibt es keinen Grund zu
verzweifeln. Gerade die Schnelllebigkeit und Beliebigkeit
der aktuellen Medienkultur lässt die Sehnsucht nach
fundiertem Wissen, kritischer Reflexion, nach Begegnungen
mit der eigenen Tradition und mit fremden Kulturen und
nach einer geschärften Urteilskraft wachsen. Bildung hat
auch mit dem Einüben einer Gelassenheit zu tun, die sich
von überbordender Affirmation des Zeitgeistes ebenso frei
halten möchte wie von einer wohlfeilen Empörung über
medial hochgespielte Nichtigkeiten.
Bildung ist untrennbar mit der Einsicht in die eigene
Unzulänglichkeit verbunden, mit dem Wissen des
Nichtwissens. Diese Bescheidenheit macht sie erst zu jener
Aufgabe und Haltung, die sich offen dem Anderen und
seinen vielfältigen Erscheinungsformen zuwenden kann:
ohne falsche und überzogene Ansprüche, aber auch ohne
den Gestus einer moralischen oder intellektuellen
Überlegenheit und ohne den Dünkel eines selbstgefälligen
Elitenbewusstseins, das mittlerweile selbst zu einem Signum
der Unbildung geworden ist.
Wien, im Mai 2017
Konrad Paul Liessmann
ZUR SACHE DER BILDUNG
BELESENHEIT
Literarische Bildung als Provokation
Anfang des Jahres 2015 sorgte die Twitter-Nachricht einer
Gymnasiastin in Deutschland bundesweit für Aufregung,
sogar die Bundesbildungsministerin Johanna Wanka sah sich
zu einer zustimmenden Stellungnahme genötigt. Was hatte
die junge Frau unter dem Decknamen Naina geschrieben:
»Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete
oder Versicherungen. Aber ich kann 'ne Gedichtsanalyse
schreiben. In 4 Sprachen.«1 Die Debatten über die
Sinnhaftigkeit klassischer und humanistischer Bildung
angesichts der Notwendigkeiten des Lebens in einer
modernen Gesellschaft flackern seitdem immer wieder auf.
Dass an Schulen nicht das gelernt wird, was man zum Leben
so braucht, ist allerdings ein Vorwurf, der pädagogische
Einrichtungen seit der Antike begleitet. Nur lernen, was man
auch sofort anwenden kann? Nur lernen, was nützt? Nur
lernen, was der eigenen Situation und Bedürfnislage
entspricht? Ist es das, was wir unter Bildung verstehen
wollen? Und liegt das Problem nicht darin, dass Bildung
ohnehin seit langem eher an den Erfordernissen der Märkte
und den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen als an
vermeintlich antiquierten Inhalten und angeblich
unbrauchbaren Kenntnissen gemessen wird? Trug Naina mit
ihrem Tweet nicht Eulen nach Athen? (Hoffentlich kennt sie
diese Wendung und ihre Geschichte noch.)
Nutzloses Wissen. Ja, dieses kennzeichnet den Gebildeten,
und dieses ist von Übel. Dass Schüler Gedichte
interpretieren können, aber beim Ausfüllen der
Steuererklärung versagen - das ist offenbar der Albtraum
jeder modernen Bildungsministerin. In der Schule darf es
deshalb keine kontextfreien Wissensfragen mehr geben,
»Faktenwissen« ist zu einem - übrigens verräterischen -
Unwort geworden, so, als sollten lieber Meinungen und
Ideologien vermittelt werden. Situations- und
intentionsadäquat müssen etwa die kompetenzorientierten
Fragestellungen der Reifeprüfung sein, Kenntnisse, die nicht
zur Lösung eines Problems beitragen, gelten als
unangemessen und verzichtbar. Dass solch eine Entwertung
des Wissens in einem Zusammenhang steht mit dem seit
einiger Zeit gerne beklagten postfaktischen Zeitalter, fällt
denjenigen, die bislang alles für eine soziale Konstruktion
hielten und nun die empirische Wahrheit neu für sich
entdecken, gar nicht mehr auf.
Aber auch kulturelle und ästhetische Traditionen dürfen
nicht mehr gelehrt werden; jeder Kanon steht im Verdacht,
die postulierte Gleichwertigkeit aller kulturellen Erzeugnisse
in Frage zu stellen, die Lust an alten Sprachen und an der
Schönheit der Mathematik wird durch Praxisorientierung
gehörig sabotiert, und die Lektüre von Texten, die nicht dem
Erwerb problemlösungsorientierter Kompetenzen
untergeordnet werden können, ist verpönt.
Literarische Bildung, die einst im Zentrum der Curricula
der höheren Schulen stand, ist - nicht nur dort - zu einem
Fremdwort geworden. Dass aber nahezu jede Form vor
allem ästhetischer, literarischer oder sprachlich-historischer
Kenntnisse gerne als bildungsbürgerlich denunziert wird,
gilt nicht nur der Kritik an einem sozialen Habitus, sondern
auch einer bestimmten Idee von Bildung. Sofern sich diese -
wenn auch nicht ausschließlich, so doch zentral - an
kanonischen literarischen Texten orientierte, gilt sie als
obsolet. Die schöne Literatur, wie avanciert auch immer,
führt nur noch ein Schattendasein in den Curricula, in den
Bildungsdiskursen, in denen es von Kompetenzen nur so
wimmelt, spielt sie keine Rolle mehr.
Die Fraglichkeit literarischer Bildung im klassischen Sinn
hatte allerdings schon die Debatten im Zuge der
Lehrplanreformen der sechziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts bestimmt. Die Eliminierung der alten Sprachen
aus den Curricula der Gymnasien wurde etwa damit
begründet, dass diese zwar eine Quelle individueller
Bereicherung sein können, dass daraus aber keine
allgemeine bildungspolitische Funktion mehr abgeleitet
werden kann: »Wer wollte bestreiten, daß das Studium der
geistigen Quellen der Antike ebenso wie das ihrer
sprachlichen Grundstrukturen lohnend und beglückend sein
kann? Dies gilt nicht nur für den Gelehrten, sondern für
einen jeden, der hier Inspiration zu suchen vermag. Eine
zentrale Position im Curriculum der allgemeinbildenden
Schule ist für diese Welt damit nicht nachgewiesen.«2 Was
der Lehrplanreformer Saul B. Robinsohn hier in Hinblick auf
Altgriechisch und Latein behauptet hatte, lässt sich
mittlerweile für den Umgang mit Literatur überhaupt sagen.
Fast niemand bestreitet, dass diese für denjenigen, der in ihr
eine Inspiration zu sehen vermag, eine beglückende
Erfahrung sein kann. Aber eine allgemeine und verbindliche
Bedeutung wagt daraus schon lange kein Bildungsexperte
mehr zu folgern. Und das hat weniger damit zu tun, dass der
einstige Kanon längst mehrfach demontiert und fragwürdig
geworden ist, sondern mit der neuen kompetenzorientierten
Lernkultur, die prinzipiell die Auseinandersetzung mit
Werken der Kunst und Literatur als ausreichende
Zielvorstellung nicht mehr kennen darf.
Kompetenz zielt immer auf ein Können, eine Anwendung,
die Lösung eines Problems. Was immer dazu auch eingesetzt
wird, an welchen Inhalten dieses Können erworben wird -
alles wird in Bezug auf dieses Können notwendigerweise als
Mittel zu interpretieren sein, das durch andere, ähnlich
funktionale Mittel auch substituiert werden kann. Die
literaturbezogenen Kompetenzen des Deutschunterrichts
etwa wie Textverständnis, Analysefähigkeiten, historischsystematische
Kontextualisierungen, Vergleich
unterschiedlicher Schreibstrategien erscheinen als Ziele und
Praktiken, die im Umgang mit mehr oder weniger beliebigen
Texten erreicht und geübt werden können, und nicht als
methodisches Rüstzeug, um jene Texte, die wir für
unverzichtbar halten, zu lesen und zu verstehen. Die Frage,
welche Bedeutung unter diesen Bedingungen eine
literarische Bildung überhaupt noch spielen kann, stellt sich
damit in verschärfter Weise.
Literarische Bildung war immer schon umstritten. Die
Reduktion auf eine Literaturgeschichte, die sich damit
begnügte, Epochen zu konstruieren und ihnen Autoren und
Werke beizuordnen, vermochte ebenso wenig zu befriedigen
wie das Lernen der Inhaltsangaben, wie sie sich in diversen
Literaturlexika fanden. Andererseits war der literarisch
versierte Mensch nicht nur einer, der in einem bestimmten
Segment kultureller Produktion exzellente Kenntnisse
aufwies, sondern er galt auch in einem exemplarischen Sinn
als gebildet. Belesenheit war einmal nahezu ein Synonym für
einen avancierten Bildungsanspruch, und dieser wiederum
forderte geradezu ein Nahverhältnis zu ganz bestimmten
Büchern und Texten. Belesenheit erschöpfte sich gerade
nicht in einer wie immer ausgereiften und artikulierten
Texterschließungskompetenz, sondern verblüffte immer
wieder damit, was alles gelesen worden war.
Belesenheit war und ist deshalb eine Provokation. Sie
verweist auf ein Privileg: dass es Menschen gibt, die die Zeit
haben, sich intensiv mit literarischen Texten zu
beschäftigen, ohne dass sie dadurch im Alltag oder in ihrem
beruflichen Umfeld wesentlich gewönnen. Den Fall des
Literaturwissenschaftlers, der Lesen zu seiner Profession
gemacht hat, wollen wir dabei einmal ausklammern. Jenseits
der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Literatur aber
besteht die Herausforderung der Belesenheit auch im
Anspruch einer bestimmten Quantität. Nach der Lektüre von
fünf Romanen und drei Kurzgeschichten ist noch niemand
belesen. Natürlich wäre es müßig, darüber zu streiten, ab
welcher Anzahl gelesener Bücher jemand als belesen gelten
könnte, aber dass es nicht nur einige sind, steht ebenso fest
wie die stillschweigende Annahme, dass es nicht beliebige,
sondern bestimmte Texte sein müssen. Auch wer alle
Romane von Karl May oder Joanne K. Rowling gelesen hat,
wird nicht als belesen gelten, auch wenn Belesenheit die
Lektüre dieser Autoren nicht ausschließt. Wer es versteht,
Winnetou mit Hegel zu verbinden oder Harry Potter mit
Martin Heidegger in eine kritische Beziehung zu setzen,
kommt der Idee von Belesenheit vielleicht schon näher.
Diese selbst aber zehrt von dem Gedanken, dass es Bücher
gibt, ohne die die Welt und damit die auf ihr lebenden
Menschen in jeder Hinsicht ärmer wären.
Eine Überlegung des Berliner Philosophen Peter Bieri, der
unter dem Pseudonym Pascal Mercier auch einige
erfolgreiche Romane wie »Nachtzug nach Lissabon«
geschrieben hat, mag dies verdeutlichen. »Der Gebildete ist
ein Leser. Doch es reicht nicht, ein Bücherwurm und
Vielwisser zu sein. Es gibt - so paradox es klingt - den
ungebildeten Gelehrten. Der Unterschied: Der Gebildete
weiß Bücher so zu lesen, dass sie ihn verändern.«3 Lesen
vermag deshalb zu einer konstitutiven und nicht nur
möglichen Voraussetzung von Bildung zu werden, da die
persönlichkeitsformende Kraft von Texten hier unterstellt
wird. Und es geht dabei nicht nur um das Machen jener
berühmten Erfahrungen, von denen auch manch
kompetenzorientierter Lehrplan spricht; es geht darum, die
Erfahrung zu machen, wie man Erfahrungen macht. Noch
einmal Bieri: »Der Leser von Literatur lernt noch etwas
anderes: Wie man über das Denken, Wollen und Fühlen von
Menschen sprechen kann. Er lernt die Sprache der Seele. Er
lernt, dass man derselben Sache gegenüber anders
empfinden kann, als er es gewohnt ist. Andere Liebe,
anderer Hass. Er lernt neue Wörter und neue Metaphern für
seelisches Geschehen. Er kann, weil sein Wortschatz, sein
begriffliches Repertoire, größer geworden ist, nun
nuancierter über sein Erleben reden, und das wiederum
ermöglicht ihm, differenzierter zu empfinden.«4 Das Wissen
der Literatur enthält, so könnte man sagen, den Umschlag in
bestimmte Kompetenzen schon in sich bereit. Fraglich aber,
ob dieses Einfühlen in eine fremde Welt als
operationalisierbarer Vorgang gefasst und exakt definiert
werden kann. Die Aufforderung mancher Lehrpläne, dass
Schüler angesichts der Texte, die sie lesen, ihre Gefühle
zeigen sollen, ist vielleicht gut gemeint, verkennt aber, dass
ästhetische Bildung überhaupt von Unwägbarkeiten lebt.
In dem Maße, in dem es nicht mehr darum geht, sich
durch Literatur zu verändern, sondern Literatur nur als
Vorwand zu benutzen, um Kompetenzen zu schulen, ist der
literarisch gebildete Mensch ein Ärgernis. Er verweist uns
immer darauf, was wir nicht gelesen haben, und er lässt uns,
ohne dass er dies wollte, spüren, dass wir mit unseren
Kompetenzen nicht weit kommen. Wer über menschliche
Gefühle, über Liebe, Hass und Eifersucht differenzierter und
nuancierter sprechen kann, weil er Fontane, Flaubert und
Proust gelesen hat, widerlegt das Mantra der
Kompetenzorientierung in actu. Man kann, hat man diese
Bücher nicht gelesen, sich davon nicht dispensieren, dass
man darauf verweist, problemorientiert Gebrauchstexte zum
Thema Eifersucht - etwa von der Ratgeberseite einer
Boulevardzeitung - analysiert und situationsspezifisch
angewandt zu haben. Das, was an literarischer Bildung
provoziert, ist die Tatsache, dass es dabei nicht darum geht,
irgendwelche Kompetenzen an relativ beliebigen Texten
geschult, sondern genau dieses Buch und kein anderes
gelesen zu haben.
Einen Aspekt von Belesenheit unterschlägt Bieri
allerdings: dass der literarisch Gebildete nicht nur genauer
über Gefühle und Erfahrungen, sondern vor allem auch über
das, was er gelesen hat, sprechen kann. Man untergräbt den
Sinn von Literatur, wenn man nicht auch deren Eigensinn
bedenkt. Man kann Bücher lesen wollen, weil man sie
gelesen haben will. Ob und welche Wirkung diese Lektüren
haben, ob und inwieweit man sich dabei verändert, muss
letztlich dahingestellt bleiben. Jeder Kanon verwies auch
implizit auf diesen Eigenwert eines literarischen Textes.
Allein seine Gestalt, seine Besonderheit, seine ästhetische
Qualität rechtfertigt seine Lektüre - dazu bedarf es weder
der Aktualisierung noch bestimmter Einordnungs- und
Verwertungsstrategien, noch der Perspektive, dass man
nach dessen Lektüre sich und die Welt besser verstehen
werde.
Das Werk - und dies gilt für ästhetische Objekte von Rang
schlechthin - stellt durch seine pure Existenz den Grund für
seine Rezeption dar. Dass man Goethes »Faust«, Musils
»Mann ohne Eigenschaften« oder Thomas Manns
»Zauberberg« gelesen haben muss, bedarf keiner weiteren
Begründung mehr in Hinblick auf deren Funktionalität und
Brauchbarkeit. Der verächtliche Hinweis, dass man sich
solche Lektüren ersparen kann, handelt es sich dabei doch
um leeres und totes Bildungsgut, verrät mehr über die Idee
von Bildung, als deren Verächtern lieb sein kann. Wohl
erschöpft sich diese nicht in der Hingabe an eine Sache um
deren selbst willen, aber ohne eine solche Hingabe und der
Fähigkeit dazu gäbe es keine Bildung. Keine Schule kann
solch eine Hingabe erzwingen. Aber eine Schule, die deren
Möglichkeit bestreitet und rigide blockiert, indem sie jedes
Stück Literatur, das in ihr noch vorkommt, auf seine
kompetenzstrategische Verwertbarkeit befragt, ist
barbarisch.
Literarische Bildung lebt von der Fiktion, dass es Bücher
gibt, deren Lektüre uns verändern kann, und dass dies nicht
nur an uns, unserer Disposition und unserer Situation liegt,
sondern auch an genau diesen Büchern. Nur solch ein
Denken legitimiert einen Kanon, und nur ein Kanon, wie
umstritten und veränderbar er auch immer sein mag, gibt
eine Orientierung für das, was wir literarische Bildung
nennen können. Allerdings gehört auch zu dieser Bildung: Je
mehr ich gelesen habe, desto klarer wird das Wissen und
Bewusstsein davon, was ich alles nicht gelesen habe und was
ich vielleicht nie lesen werde. Der Habitus des Belesenen
widerspricht so prinzipiell der Arroganz des vermeintlichen
Bildungsbürgers, der mit aus den Zusammenhängen
gerissenen Zitaten hausieren ging, ebenso wie dem
auftrumpfenden Gebaren digitaler Omnipotenzphantasien,
die suggerieren, alles im Griff zu haben und überall Bescheid
zu wissen, weil ein Smartphone in der Nähe ist.
Die Provokation literarischer Bildung besteht nicht zuletzt
in der persönlichkeitsverändernden Kraft der Literatur, die
unmerklich vonstattengeht, keinen Zielvorstellungen folgt,
nicht operationalisierbar und deshalb auch nicht
kontrollierbar und prüfbar ist. Dass es eine Form der
Bildung gibt, die sich dem Zugriff der qualitätssichernden
Behörden entzieht, weil sie sich aus einer informellen
Beziehung zwischen Schüler und Lehrer entspinnen mag,
kratzt an all jenen Quantifizierungs- und
Messbarkeitschimären, ohne die die gegenwärtige
Bildungsforschung ebenso wenig auszukommen glaubt wie
die Bildungsorganisation.
Der Anspruch literarischer Bildung ist auch aus einem
anderen Grund eine Provokation: Er widerspricht einem
Prinzip von Chancengerechtigkeit, das auf Erfolgsgleichheit
abzielt. Literarische Erfahrungen können, wie jede
authentische Form von Bildung, von Bildungseinrichtungen
zwar ermöglicht und erleichtert, aber nicht erzwungen und
auch nicht überprüft werden. Lesen ist ein einsames
Geschäft, und welche formenden Auswirkungen eine Lektüre
auf den Entwicklungs- und Bildungsprozess eines Menschen
hat, welches Interesse dadurch angestachelt, welches
vielleicht sabotiert werden kann, lässt sich weder planen
noch prognostizieren. Literarische Bildung widerspricht
auch deshalb dem pädagogischen Zeitgeist, weil der
Anspruch, sie in Unterrichtsprozessen zu gestalten, stets
klarmacht: Dieser Unterricht kann letztlich nur für Einzelne
stattfinden. Man kann die Auseinandersetzung mit und die
Aneignung von Literatur nicht erzwingen, man kann nur den
Boden dafür bereiten. Allein die Verkaufszahlen von Büchern
zeigen, dass Lesen, in all seinen Varianten, das geblieben ist,
was es immer war: ein Minderheitenprogramm. Wie jede
Minderheit verdiente aber auch die der Lesenden einen
besonderen Schutz. Die Zeiten und die Milieus, in denen
man durch das Aufzählen von Autorennamen und Buchtiteln
einen sozialen Distinktionsgewinn verbuchen konnte, sind
längst vorbei.
Tatsächlich aber vollzieht sich in der aktuellen
Bildungsreform jene Tendenz, die Heinz-Joachim Heydorn
schon vor Jahrzehnten einem reformorientierten
Bildungsbegriff, der auf die Beseitigung sozialer
Bildungsprivilegien abzielte, zum Vorwurf gemacht hatte:
»So setzt sich diese Bildung auch von der Literatur ab, der
Tradition folgend, daß die literarische Bildung bei den
Massen nichts zu suchen hat; jetzt sind nur noch Massen
übrig. War diese Bildung früher den herrschenden Klassen
allein überlassen, so wird sie nunmehr zurückgewiesen, weil
es sich bei ihr um die Bildung der früheren Oberklasse
handelt, weil sie eine ›schichtenspezifisch beschränkte
Auswahl der Inhalte‹ bietet. Ein demokratischer Vorgang;
was früher nur die oberen Zehntausend lesen durften, darf
jetzt niemand mehr lesen. Ungleichheit für alle.«5 Im
Gegensatz zu einem Glaubenssatz aktueller Bildungspolitik,
dass Bildung soziale Differenzen ausgleichen und damit
verbundene Nachteile kompensieren sollte, verweist das
Konzept der literarischen Bildung darauf, dass dies, wenn
überhaupt, nicht als soziales Projekt, sondern nur als
individueller Akt möglich ist. Dem zu entgehen, indem man
die Literatur aus den Lehrplänen streicht, zeugt nicht nur
von Unbildung, sondern zeigt auch, dass diese unmittelbar
eine Konsequenz von Gerechtigkeitsvorstellungen sein kann,
die bei aller verbalen Glorifizierung der Individualisierung
des Unterrichts das Individuum und seinen Eigensinn am
liebsten durchstreichen möchten.
Literatur aber hat eine Gestalt. Sie erscheint in der Form
des Buches. Lesen als avancierte kulturelle Praxis ist ohne
das Buch nicht denkbar. Die aktuell forciert betriebene
Digitalisierung von Schulen und Universitäten, die sich alles
Heil von Geräten und nicht von Ideen erwartet, verhindert in
großem Maßstab die Entwicklung jedes Interesses für die
Literatur. Denn um dieses zu wecken, bedarf es keiner
digitalen Endgeräte, keiner Apps und schon gar keiner
Programmierkenntnisse. Die Auseinandersetzung mit einem
Buch lässt sich auch nicht durch eine rasche Internet-
Recherche substituieren. Belesenheit ist auch deshalb eine
Provokation, weil sie, letztlich als Summe vielfältiger
Lektüreerfahrungen, die ihre Spuren im Leben eines
Menschen hinterlassen haben, quer steht zur Ideologie der
raschen Verfügbarkeit aller Informationen. Das Interesse für
Literatur wird geweckt, wenn man im richtigen Moment das
richtige Buch in die Hand gedrückt bekommt und sich
dadurch die Chance eröffnet, zu einem Leser zu werden.
Solche Momente und solche Bücher böten durchaus
Chancen für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft. Ein
»Zurück zur Literatur« kann sich nicht in Nostalgie,
Kulturpessimismus und Verlustanzeigen erschöpfen.6 Es gibt
Bücher, die es sich zu lesen lohnt, weil sie, aus welcher Zeit
sie auch stammen, wesentlich mit unserem Leben und
unseren aktuellen politischen Fragen zu tun haben.
So könnte man die These riskieren, dass eine fundierte
literarische Bildung mehr zu einem europäischen
Bewusstsein und zu einer europäischen Perspektive
beitragen könnte als der Bologna-Prozess und seine
überbordende Bürokratie. Europa war der Kontinent der
großen Erzählungen, und nach dem Ende dieser
Erzählungen ist Europa selbst zum letzten dieser Narrative
geworden. Was spräche dagegen, einen Kanon der
europäischen Literatur zu skizzieren und dessen Lektüre
allen höheren Schulen in Europa zu empfehlen?
Wie könnte solch ein Kanon aussehen? Beginnen könnte man
dabei mit dem Mythos selbst, mit der phönizischen
Königstochter, die den Namen Europa trug und von Zeus in
Gestalt eines Stieres verführt, entführt und auf Kreta
vergewaltigt wird. Ein für alle Mal ist damit die These der
nichteuropäischen Herkunft Europas gesetzt, die den Orient
als Ursprung und Quelle des Okzidents festhält. Fortsetzen
könnte man mit Homers »Ilias«, die ebenso paradigmatisch
das Europäische in der schicksalhaften Auseinandersetzung
mit dem Anderen sieht, eine Auseinandersetzung allerdings,
die nicht aus einer Differenz, sondern aus einem ähnlichen
Begehren geboren wurde: dem Verlangen nach Schönheit.
Weiterführen könnte man diesen Reigen mit Vergils
»Aeneis«, jenem Epos, das in einem wahrlich fundamentalen
Sinn Europa als den Kontinent der Immigranten beschreibt.
Und schließen könnte man diese Ur- und Vorgeschichten mit
dem »Nibelungenlied«, das nicht nur Unschuld und
Heldenmut, Treue und Verrat besingt, sondern Europas
Schicksal an die kaum zu definierende kontinentale Grenze
zum asiatischen Raum knüpft.
Motive, die sich durchziehen, Stoffe, die nicht vergessen
werden können, Konstellationen, die immer wieder
durchbrechen. Aber Europa ist weit darüber hinaus der
Kontinent der Literaturen, der unzähligen Geschichten, der
sich beeinflussenden, ergänzenden, widersprechenden,
einander überbietenden Formen des Erzählens, Berichtens
und Darstellens. Keine europäische Sprache, keine
europäische Region, die nicht ihren Beitrag zu diesem
Kontinent der Poesie geleistet hätte. Europa, seine Vielfalt
und seine Einfalt, seine Menschen und seine Konflikte, seine
Nöte und seine Freuden könnten im Wortsinn erlesen
werden. Die Erfahrung des Europäischen als Leseerfahrung,
der Lesende als Manifestation des Europäischen - was
spräche dagegen? Denn wo wäre mehr Europa als in Dante
und Shakespeare, Cervantes und Goethe, Flaubert und
Ibsen, Dostojewski und Kazantzakis? Und wäre dies nicht
eine reizvolle Vorstellung: junge Menschen, die sich, über
welche Austauschprogramme auch immer vermittelt,
irgendwo in Europa begegnen und ihre literarischen
Erfahrungen teilen können, da sich diese auf jene Werke
beziehen, die in all ihrer Ambivalenz und
Widersprüchlichkeit einen entscheidenden Anteil an der
Herausbildung eines europäischen Bewusstseins hatten und
haben?
Doch Vorsicht. Noch die wohlmeinendste politische
Indienstnahme von Literatur verkennt deren Sinn und
Möglichkeiten. Literatur ist nie auf ein Ende, einen Zweck zu
reduzieren. Literarische Bildung bedeutet, einen geistigen
Kontinent zu betreten, der voll ist von Überraschungen,
Unwägbarkeiten, Enttäuschungen, Begegnungen und
Erfahrungen, auch voll von Mühen und Plagen, und der
gerade deshalb immer wieder aufs Neue lockt und verlockt,
aber auch verstört und abstößt. Auf diesem Kontinent gibt es
weder Erfolgs- noch Glücksgarantien. Und niemand soll
gewaltsam gezwungen werden, diesen Kontinent zu
betreten. Durch eine kompetenzversessene und
technikgläubige Bildungspolitik jungen Menschen aber
systematisch den Zugang zum Kontinent Literatur zu
verbauen, kann nur als ein Akt der Barbarei gewertet
werden.
©Zsolnay
Kulturtechniken beherrschen sollen. Aber keine dieser
Beschreibungen erfasst das, was man einmal mit Bildung
gemeint hatte. Gesetzt den Fall, dass uns der in einem
klassischen Sinne Gebildete tatsächlich noch einmal
begegnete, wären wir wahrscheinlich ziemlich irritiert. Der
Gebildete verkörperte all das, was der aktuelle
Bildungsdiskurs gerade nicht mehr unter Bildung verstehen
will. Dazu gehörten ein fundiertes Wissen, das es erlaubt,
auch ohne Zensurbehörde die Fakten von den Fiktionen zu
trennen, ästhetische und literarische Kenntnisse und
Erfahrungen, ein differenziertes historisches und
sprachliches Bewusstsein, ein kritisches Verhältnis zu sich
selbst, eine auf all dem gründende abwägende Urteilskraft
und eine gesteigerte Sensibilität gegenüber den Lügen,
Übertreibungen, Hypes, Phrasen, Moralisierungen und
Plattitüden der Gegenwart. Allerdings ließe sich nichts von
dem vorschnell der Forderung nach Nützlichkeit,
Anwendbarkeit und schneller Verwertbarkeit unterordnen.
Der Gebildete wäre heute eine eigentümliche Erscheinung
- wie aus der Zeit gefallen. Weltfremd wäre der Gebildete
aber nicht. Bildung stellte auch eine Form der Welthaltigkeit
dar, die sich jedoch nicht nur aus den Blasen der sozialen
Netzwerke, sondern auch aus anderen Quellen speist, zu
denen nicht zuletzt jene Bücher gehören, deren Lektüre wir
niemandem mehr zumuten wollen. Begegnete man solch
einem Menschen, wir wären wahrscheinlich unangenehm
berührt, vielleicht von Neid erfüllt, unter Umständen sogar
ein wenig beschämt, weil er unser aktuelles Bildungsweltbild
in Frage stellte.
Bildung, ernst gemeint, wäre heute eine Provokation. Ob
die grassierende Kompetenzorientierungskompetenz
wirklich die zeitgemäße Antwort auf diese Provokation
darstellt, darf allerdings bezweifelt werden. Bildung, das
macht ihren Stachel aus, lässt sich nicht auf formale
Fähigkeiten und Anwendungsorientierungen reduzieren.
Bildung hat immer auch mit konkreten Inhalten und -
horribile dictu - abstraktem Wissen zu tun, damit auch mit
Einsichten und Haltungen, die ihren Wert vorab in sich
tragen und es den Menschen erlauben, zu sich und der Welt
in einer Weise Stellung zu beziehen, die nicht nur dem
Diktat der Zeit und ihrer Moden gehorcht.
Bei aller Kritik an den bildungsfeindlichen
Bildungsreformen unserer Tage gibt es keinen Grund zu
verzweifeln. Gerade die Schnelllebigkeit und Beliebigkeit
der aktuellen Medienkultur lässt die Sehnsucht nach
fundiertem Wissen, kritischer Reflexion, nach Begegnungen
mit der eigenen Tradition und mit fremden Kulturen und
nach einer geschärften Urteilskraft wachsen. Bildung hat
auch mit dem Einüben einer Gelassenheit zu tun, die sich
von überbordender Affirmation des Zeitgeistes ebenso frei
halten möchte wie von einer wohlfeilen Empörung über
medial hochgespielte Nichtigkeiten.
Bildung ist untrennbar mit der Einsicht in die eigene
Unzulänglichkeit verbunden, mit dem Wissen des
Nichtwissens. Diese Bescheidenheit macht sie erst zu jener
Aufgabe und Haltung, die sich offen dem Anderen und
seinen vielfältigen Erscheinungsformen zuwenden kann:
ohne falsche und überzogene Ansprüche, aber auch ohne
den Gestus einer moralischen oder intellektuellen
Überlegenheit und ohne den Dünkel eines selbstgefälligen
Elitenbewusstseins, das mittlerweile selbst zu einem Signum
der Unbildung geworden ist.
Wien, im Mai 2017
Konrad Paul Liessmann
ZUR SACHE DER BILDUNG
BELESENHEIT
Literarische Bildung als Provokation
Anfang des Jahres 2015 sorgte die Twitter-Nachricht einer
Gymnasiastin in Deutschland bundesweit für Aufregung,
sogar die Bundesbildungsministerin Johanna Wanka sah sich
zu einer zustimmenden Stellungnahme genötigt. Was hatte
die junge Frau unter dem Decknamen Naina geschrieben:
»Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete
oder Versicherungen. Aber ich kann 'ne Gedichtsanalyse
schreiben. In 4 Sprachen.«1 Die Debatten über die
Sinnhaftigkeit klassischer und humanistischer Bildung
angesichts der Notwendigkeiten des Lebens in einer
modernen Gesellschaft flackern seitdem immer wieder auf.
Dass an Schulen nicht das gelernt wird, was man zum Leben
so braucht, ist allerdings ein Vorwurf, der pädagogische
Einrichtungen seit der Antike begleitet. Nur lernen, was man
auch sofort anwenden kann? Nur lernen, was nützt? Nur
lernen, was der eigenen Situation und Bedürfnislage
entspricht? Ist es das, was wir unter Bildung verstehen
wollen? Und liegt das Problem nicht darin, dass Bildung
ohnehin seit langem eher an den Erfordernissen der Märkte
und den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen als an
vermeintlich antiquierten Inhalten und angeblich
unbrauchbaren Kenntnissen gemessen wird? Trug Naina mit
ihrem Tweet nicht Eulen nach Athen? (Hoffentlich kennt sie
diese Wendung und ihre Geschichte noch.)
Nutzloses Wissen. Ja, dieses kennzeichnet den Gebildeten,
und dieses ist von Übel. Dass Schüler Gedichte
interpretieren können, aber beim Ausfüllen der
Steuererklärung versagen - das ist offenbar der Albtraum
jeder modernen Bildungsministerin. In der Schule darf es
deshalb keine kontextfreien Wissensfragen mehr geben,
»Faktenwissen« ist zu einem - übrigens verräterischen -
Unwort geworden, so, als sollten lieber Meinungen und
Ideologien vermittelt werden. Situations- und
intentionsadäquat müssen etwa die kompetenzorientierten
Fragestellungen der Reifeprüfung sein, Kenntnisse, die nicht
zur Lösung eines Problems beitragen, gelten als
unangemessen und verzichtbar. Dass solch eine Entwertung
des Wissens in einem Zusammenhang steht mit dem seit
einiger Zeit gerne beklagten postfaktischen Zeitalter, fällt
denjenigen, die bislang alles für eine soziale Konstruktion
hielten und nun die empirische Wahrheit neu für sich
entdecken, gar nicht mehr auf.
Aber auch kulturelle und ästhetische Traditionen dürfen
nicht mehr gelehrt werden; jeder Kanon steht im Verdacht,
die postulierte Gleichwertigkeit aller kulturellen Erzeugnisse
in Frage zu stellen, die Lust an alten Sprachen und an der
Schönheit der Mathematik wird durch Praxisorientierung
gehörig sabotiert, und die Lektüre von Texten, die nicht dem
Erwerb problemlösungsorientierter Kompetenzen
untergeordnet werden können, ist verpönt.
Literarische Bildung, die einst im Zentrum der Curricula
der höheren Schulen stand, ist - nicht nur dort - zu einem
Fremdwort geworden. Dass aber nahezu jede Form vor
allem ästhetischer, literarischer oder sprachlich-historischer
Kenntnisse gerne als bildungsbürgerlich denunziert wird,
gilt nicht nur der Kritik an einem sozialen Habitus, sondern
auch einer bestimmten Idee von Bildung. Sofern sich diese -
wenn auch nicht ausschließlich, so doch zentral - an
kanonischen literarischen Texten orientierte, gilt sie als
obsolet. Die schöne Literatur, wie avanciert auch immer,
führt nur noch ein Schattendasein in den Curricula, in den
Bildungsdiskursen, in denen es von Kompetenzen nur so
wimmelt, spielt sie keine Rolle mehr.
Die Fraglichkeit literarischer Bildung im klassischen Sinn
hatte allerdings schon die Debatten im Zuge der
Lehrplanreformen der sechziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts bestimmt. Die Eliminierung der alten Sprachen
aus den Curricula der Gymnasien wurde etwa damit
begründet, dass diese zwar eine Quelle individueller
Bereicherung sein können, dass daraus aber keine
allgemeine bildungspolitische Funktion mehr abgeleitet
werden kann: »Wer wollte bestreiten, daß das Studium der
geistigen Quellen der Antike ebenso wie das ihrer
sprachlichen Grundstrukturen lohnend und beglückend sein
kann? Dies gilt nicht nur für den Gelehrten, sondern für
einen jeden, der hier Inspiration zu suchen vermag. Eine
zentrale Position im Curriculum der allgemeinbildenden
Schule ist für diese Welt damit nicht nachgewiesen.«2 Was
der Lehrplanreformer Saul B. Robinsohn hier in Hinblick auf
Altgriechisch und Latein behauptet hatte, lässt sich
mittlerweile für den Umgang mit Literatur überhaupt sagen.
Fast niemand bestreitet, dass diese für denjenigen, der in ihr
eine Inspiration zu sehen vermag, eine beglückende
Erfahrung sein kann. Aber eine allgemeine und verbindliche
Bedeutung wagt daraus schon lange kein Bildungsexperte
mehr zu folgern. Und das hat weniger damit zu tun, dass der
einstige Kanon längst mehrfach demontiert und fragwürdig
geworden ist, sondern mit der neuen kompetenzorientierten
Lernkultur, die prinzipiell die Auseinandersetzung mit
Werken der Kunst und Literatur als ausreichende
Zielvorstellung nicht mehr kennen darf.
Kompetenz zielt immer auf ein Können, eine Anwendung,
die Lösung eines Problems. Was immer dazu auch eingesetzt
wird, an welchen Inhalten dieses Können erworben wird -
alles wird in Bezug auf dieses Können notwendigerweise als
Mittel zu interpretieren sein, das durch andere, ähnlich
funktionale Mittel auch substituiert werden kann. Die
literaturbezogenen Kompetenzen des Deutschunterrichts
etwa wie Textverständnis, Analysefähigkeiten, historischsystematische
Kontextualisierungen, Vergleich
unterschiedlicher Schreibstrategien erscheinen als Ziele und
Praktiken, die im Umgang mit mehr oder weniger beliebigen
Texten erreicht und geübt werden können, und nicht als
methodisches Rüstzeug, um jene Texte, die wir für
unverzichtbar halten, zu lesen und zu verstehen. Die Frage,
welche Bedeutung unter diesen Bedingungen eine
literarische Bildung überhaupt noch spielen kann, stellt sich
damit in verschärfter Weise.
Literarische Bildung war immer schon umstritten. Die
Reduktion auf eine Literaturgeschichte, die sich damit
begnügte, Epochen zu konstruieren und ihnen Autoren und
Werke beizuordnen, vermochte ebenso wenig zu befriedigen
wie das Lernen der Inhaltsangaben, wie sie sich in diversen
Literaturlexika fanden. Andererseits war der literarisch
versierte Mensch nicht nur einer, der in einem bestimmten
Segment kultureller Produktion exzellente Kenntnisse
aufwies, sondern er galt auch in einem exemplarischen Sinn
als gebildet. Belesenheit war einmal nahezu ein Synonym für
einen avancierten Bildungsanspruch, und dieser wiederum
forderte geradezu ein Nahverhältnis zu ganz bestimmten
Büchern und Texten. Belesenheit erschöpfte sich gerade
nicht in einer wie immer ausgereiften und artikulierten
Texterschließungskompetenz, sondern verblüffte immer
wieder damit, was alles gelesen worden war.
Belesenheit war und ist deshalb eine Provokation. Sie
verweist auf ein Privileg: dass es Menschen gibt, die die Zeit
haben, sich intensiv mit literarischen Texten zu
beschäftigen, ohne dass sie dadurch im Alltag oder in ihrem
beruflichen Umfeld wesentlich gewönnen. Den Fall des
Literaturwissenschaftlers, der Lesen zu seiner Profession
gemacht hat, wollen wir dabei einmal ausklammern. Jenseits
der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Literatur aber
besteht die Herausforderung der Belesenheit auch im
Anspruch einer bestimmten Quantität. Nach der Lektüre von
fünf Romanen und drei Kurzgeschichten ist noch niemand
belesen. Natürlich wäre es müßig, darüber zu streiten, ab
welcher Anzahl gelesener Bücher jemand als belesen gelten
könnte, aber dass es nicht nur einige sind, steht ebenso fest
wie die stillschweigende Annahme, dass es nicht beliebige,
sondern bestimmte Texte sein müssen. Auch wer alle
Romane von Karl May oder Joanne K. Rowling gelesen hat,
wird nicht als belesen gelten, auch wenn Belesenheit die
Lektüre dieser Autoren nicht ausschließt. Wer es versteht,
Winnetou mit Hegel zu verbinden oder Harry Potter mit
Martin Heidegger in eine kritische Beziehung zu setzen,
kommt der Idee von Belesenheit vielleicht schon näher.
Diese selbst aber zehrt von dem Gedanken, dass es Bücher
gibt, ohne die die Welt und damit die auf ihr lebenden
Menschen in jeder Hinsicht ärmer wären.
Eine Überlegung des Berliner Philosophen Peter Bieri, der
unter dem Pseudonym Pascal Mercier auch einige
erfolgreiche Romane wie »Nachtzug nach Lissabon«
geschrieben hat, mag dies verdeutlichen. »Der Gebildete ist
ein Leser. Doch es reicht nicht, ein Bücherwurm und
Vielwisser zu sein. Es gibt - so paradox es klingt - den
ungebildeten Gelehrten. Der Unterschied: Der Gebildete
weiß Bücher so zu lesen, dass sie ihn verändern.«3 Lesen
vermag deshalb zu einer konstitutiven und nicht nur
möglichen Voraussetzung von Bildung zu werden, da die
persönlichkeitsformende Kraft von Texten hier unterstellt
wird. Und es geht dabei nicht nur um das Machen jener
berühmten Erfahrungen, von denen auch manch
kompetenzorientierter Lehrplan spricht; es geht darum, die
Erfahrung zu machen, wie man Erfahrungen macht. Noch
einmal Bieri: »Der Leser von Literatur lernt noch etwas
anderes: Wie man über das Denken, Wollen und Fühlen von
Menschen sprechen kann. Er lernt die Sprache der Seele. Er
lernt, dass man derselben Sache gegenüber anders
empfinden kann, als er es gewohnt ist. Andere Liebe,
anderer Hass. Er lernt neue Wörter und neue Metaphern für
seelisches Geschehen. Er kann, weil sein Wortschatz, sein
begriffliches Repertoire, größer geworden ist, nun
nuancierter über sein Erleben reden, und das wiederum
ermöglicht ihm, differenzierter zu empfinden.«4 Das Wissen
der Literatur enthält, so könnte man sagen, den Umschlag in
bestimmte Kompetenzen schon in sich bereit. Fraglich aber,
ob dieses Einfühlen in eine fremde Welt als
operationalisierbarer Vorgang gefasst und exakt definiert
werden kann. Die Aufforderung mancher Lehrpläne, dass
Schüler angesichts der Texte, die sie lesen, ihre Gefühle
zeigen sollen, ist vielleicht gut gemeint, verkennt aber, dass
ästhetische Bildung überhaupt von Unwägbarkeiten lebt.
In dem Maße, in dem es nicht mehr darum geht, sich
durch Literatur zu verändern, sondern Literatur nur als
Vorwand zu benutzen, um Kompetenzen zu schulen, ist der
literarisch gebildete Mensch ein Ärgernis. Er verweist uns
immer darauf, was wir nicht gelesen haben, und er lässt uns,
ohne dass er dies wollte, spüren, dass wir mit unseren
Kompetenzen nicht weit kommen. Wer über menschliche
Gefühle, über Liebe, Hass und Eifersucht differenzierter und
nuancierter sprechen kann, weil er Fontane, Flaubert und
Proust gelesen hat, widerlegt das Mantra der
Kompetenzorientierung in actu. Man kann, hat man diese
Bücher nicht gelesen, sich davon nicht dispensieren, dass
man darauf verweist, problemorientiert Gebrauchstexte zum
Thema Eifersucht - etwa von der Ratgeberseite einer
Boulevardzeitung - analysiert und situationsspezifisch
angewandt zu haben. Das, was an literarischer Bildung
provoziert, ist die Tatsache, dass es dabei nicht darum geht,
irgendwelche Kompetenzen an relativ beliebigen Texten
geschult, sondern genau dieses Buch und kein anderes
gelesen zu haben.
Einen Aspekt von Belesenheit unterschlägt Bieri
allerdings: dass der literarisch Gebildete nicht nur genauer
über Gefühle und Erfahrungen, sondern vor allem auch über
das, was er gelesen hat, sprechen kann. Man untergräbt den
Sinn von Literatur, wenn man nicht auch deren Eigensinn
bedenkt. Man kann Bücher lesen wollen, weil man sie
gelesen haben will. Ob und welche Wirkung diese Lektüren
haben, ob und inwieweit man sich dabei verändert, muss
letztlich dahingestellt bleiben. Jeder Kanon verwies auch
implizit auf diesen Eigenwert eines literarischen Textes.
Allein seine Gestalt, seine Besonderheit, seine ästhetische
Qualität rechtfertigt seine Lektüre - dazu bedarf es weder
der Aktualisierung noch bestimmter Einordnungs- und
Verwertungsstrategien, noch der Perspektive, dass man
nach dessen Lektüre sich und die Welt besser verstehen
werde.
Das Werk - und dies gilt für ästhetische Objekte von Rang
schlechthin - stellt durch seine pure Existenz den Grund für
seine Rezeption dar. Dass man Goethes »Faust«, Musils
»Mann ohne Eigenschaften« oder Thomas Manns
»Zauberberg« gelesen haben muss, bedarf keiner weiteren
Begründung mehr in Hinblick auf deren Funktionalität und
Brauchbarkeit. Der verächtliche Hinweis, dass man sich
solche Lektüren ersparen kann, handelt es sich dabei doch
um leeres und totes Bildungsgut, verrät mehr über die Idee
von Bildung, als deren Verächtern lieb sein kann. Wohl
erschöpft sich diese nicht in der Hingabe an eine Sache um
deren selbst willen, aber ohne eine solche Hingabe und der
Fähigkeit dazu gäbe es keine Bildung. Keine Schule kann
solch eine Hingabe erzwingen. Aber eine Schule, die deren
Möglichkeit bestreitet und rigide blockiert, indem sie jedes
Stück Literatur, das in ihr noch vorkommt, auf seine
kompetenzstrategische Verwertbarkeit befragt, ist
barbarisch.
Literarische Bildung lebt von der Fiktion, dass es Bücher
gibt, deren Lektüre uns verändern kann, und dass dies nicht
nur an uns, unserer Disposition und unserer Situation liegt,
sondern auch an genau diesen Büchern. Nur solch ein
Denken legitimiert einen Kanon, und nur ein Kanon, wie
umstritten und veränderbar er auch immer sein mag, gibt
eine Orientierung für das, was wir literarische Bildung
nennen können. Allerdings gehört auch zu dieser Bildung: Je
mehr ich gelesen habe, desto klarer wird das Wissen und
Bewusstsein davon, was ich alles nicht gelesen habe und was
ich vielleicht nie lesen werde. Der Habitus des Belesenen
widerspricht so prinzipiell der Arroganz des vermeintlichen
Bildungsbürgers, der mit aus den Zusammenhängen
gerissenen Zitaten hausieren ging, ebenso wie dem
auftrumpfenden Gebaren digitaler Omnipotenzphantasien,
die suggerieren, alles im Griff zu haben und überall Bescheid
zu wissen, weil ein Smartphone in der Nähe ist.
Die Provokation literarischer Bildung besteht nicht zuletzt
in der persönlichkeitsverändernden Kraft der Literatur, die
unmerklich vonstattengeht, keinen Zielvorstellungen folgt,
nicht operationalisierbar und deshalb auch nicht
kontrollierbar und prüfbar ist. Dass es eine Form der
Bildung gibt, die sich dem Zugriff der qualitätssichernden
Behörden entzieht, weil sie sich aus einer informellen
Beziehung zwischen Schüler und Lehrer entspinnen mag,
kratzt an all jenen Quantifizierungs- und
Messbarkeitschimären, ohne die die gegenwärtige
Bildungsforschung ebenso wenig auszukommen glaubt wie
die Bildungsorganisation.
Der Anspruch literarischer Bildung ist auch aus einem
anderen Grund eine Provokation: Er widerspricht einem
Prinzip von Chancengerechtigkeit, das auf Erfolgsgleichheit
abzielt. Literarische Erfahrungen können, wie jede
authentische Form von Bildung, von Bildungseinrichtungen
zwar ermöglicht und erleichtert, aber nicht erzwungen und
auch nicht überprüft werden. Lesen ist ein einsames
Geschäft, und welche formenden Auswirkungen eine Lektüre
auf den Entwicklungs- und Bildungsprozess eines Menschen
hat, welches Interesse dadurch angestachelt, welches
vielleicht sabotiert werden kann, lässt sich weder planen
noch prognostizieren. Literarische Bildung widerspricht
auch deshalb dem pädagogischen Zeitgeist, weil der
Anspruch, sie in Unterrichtsprozessen zu gestalten, stets
klarmacht: Dieser Unterricht kann letztlich nur für Einzelne
stattfinden. Man kann die Auseinandersetzung mit und die
Aneignung von Literatur nicht erzwingen, man kann nur den
Boden dafür bereiten. Allein die Verkaufszahlen von Büchern
zeigen, dass Lesen, in all seinen Varianten, das geblieben ist,
was es immer war: ein Minderheitenprogramm. Wie jede
Minderheit verdiente aber auch die der Lesenden einen
besonderen Schutz. Die Zeiten und die Milieus, in denen
man durch das Aufzählen von Autorennamen und Buchtiteln
einen sozialen Distinktionsgewinn verbuchen konnte, sind
längst vorbei.
Tatsächlich aber vollzieht sich in der aktuellen
Bildungsreform jene Tendenz, die Heinz-Joachim Heydorn
schon vor Jahrzehnten einem reformorientierten
Bildungsbegriff, der auf die Beseitigung sozialer
Bildungsprivilegien abzielte, zum Vorwurf gemacht hatte:
»So setzt sich diese Bildung auch von der Literatur ab, der
Tradition folgend, daß die literarische Bildung bei den
Massen nichts zu suchen hat; jetzt sind nur noch Massen
übrig. War diese Bildung früher den herrschenden Klassen
allein überlassen, so wird sie nunmehr zurückgewiesen, weil
es sich bei ihr um die Bildung der früheren Oberklasse
handelt, weil sie eine ›schichtenspezifisch beschränkte
Auswahl der Inhalte‹ bietet. Ein demokratischer Vorgang;
was früher nur die oberen Zehntausend lesen durften, darf
jetzt niemand mehr lesen. Ungleichheit für alle.«5 Im
Gegensatz zu einem Glaubenssatz aktueller Bildungspolitik,
dass Bildung soziale Differenzen ausgleichen und damit
verbundene Nachteile kompensieren sollte, verweist das
Konzept der literarischen Bildung darauf, dass dies, wenn
überhaupt, nicht als soziales Projekt, sondern nur als
individueller Akt möglich ist. Dem zu entgehen, indem man
die Literatur aus den Lehrplänen streicht, zeugt nicht nur
von Unbildung, sondern zeigt auch, dass diese unmittelbar
eine Konsequenz von Gerechtigkeitsvorstellungen sein kann,
die bei aller verbalen Glorifizierung der Individualisierung
des Unterrichts das Individuum und seinen Eigensinn am
liebsten durchstreichen möchten.
Literatur aber hat eine Gestalt. Sie erscheint in der Form
des Buches. Lesen als avancierte kulturelle Praxis ist ohne
das Buch nicht denkbar. Die aktuell forciert betriebene
Digitalisierung von Schulen und Universitäten, die sich alles
Heil von Geräten und nicht von Ideen erwartet, verhindert in
großem Maßstab die Entwicklung jedes Interesses für die
Literatur. Denn um dieses zu wecken, bedarf es keiner
digitalen Endgeräte, keiner Apps und schon gar keiner
Programmierkenntnisse. Die Auseinandersetzung mit einem
Buch lässt sich auch nicht durch eine rasche Internet-
Recherche substituieren. Belesenheit ist auch deshalb eine
Provokation, weil sie, letztlich als Summe vielfältiger
Lektüreerfahrungen, die ihre Spuren im Leben eines
Menschen hinterlassen haben, quer steht zur Ideologie der
raschen Verfügbarkeit aller Informationen. Das Interesse für
Literatur wird geweckt, wenn man im richtigen Moment das
richtige Buch in die Hand gedrückt bekommt und sich
dadurch die Chance eröffnet, zu einem Leser zu werden.
Solche Momente und solche Bücher böten durchaus
Chancen für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft. Ein
»Zurück zur Literatur« kann sich nicht in Nostalgie,
Kulturpessimismus und Verlustanzeigen erschöpfen.6 Es gibt
Bücher, die es sich zu lesen lohnt, weil sie, aus welcher Zeit
sie auch stammen, wesentlich mit unserem Leben und
unseren aktuellen politischen Fragen zu tun haben.
So könnte man die These riskieren, dass eine fundierte
literarische Bildung mehr zu einem europäischen
Bewusstsein und zu einer europäischen Perspektive
beitragen könnte als der Bologna-Prozess und seine
überbordende Bürokratie. Europa war der Kontinent der
großen Erzählungen, und nach dem Ende dieser
Erzählungen ist Europa selbst zum letzten dieser Narrative
geworden. Was spräche dagegen, einen Kanon der
europäischen Literatur zu skizzieren und dessen Lektüre
allen höheren Schulen in Europa zu empfehlen?
Wie könnte solch ein Kanon aussehen? Beginnen könnte man
dabei mit dem Mythos selbst, mit der phönizischen
Königstochter, die den Namen Europa trug und von Zeus in
Gestalt eines Stieres verführt, entführt und auf Kreta
vergewaltigt wird. Ein für alle Mal ist damit die These der
nichteuropäischen Herkunft Europas gesetzt, die den Orient
als Ursprung und Quelle des Okzidents festhält. Fortsetzen
könnte man mit Homers »Ilias«, die ebenso paradigmatisch
das Europäische in der schicksalhaften Auseinandersetzung
mit dem Anderen sieht, eine Auseinandersetzung allerdings,
die nicht aus einer Differenz, sondern aus einem ähnlichen
Begehren geboren wurde: dem Verlangen nach Schönheit.
Weiterführen könnte man diesen Reigen mit Vergils
»Aeneis«, jenem Epos, das in einem wahrlich fundamentalen
Sinn Europa als den Kontinent der Immigranten beschreibt.
Und schließen könnte man diese Ur- und Vorgeschichten mit
dem »Nibelungenlied«, das nicht nur Unschuld und
Heldenmut, Treue und Verrat besingt, sondern Europas
Schicksal an die kaum zu definierende kontinentale Grenze
zum asiatischen Raum knüpft.
Motive, die sich durchziehen, Stoffe, die nicht vergessen
werden können, Konstellationen, die immer wieder
durchbrechen. Aber Europa ist weit darüber hinaus der
Kontinent der Literaturen, der unzähligen Geschichten, der
sich beeinflussenden, ergänzenden, widersprechenden,
einander überbietenden Formen des Erzählens, Berichtens
und Darstellens. Keine europäische Sprache, keine
europäische Region, die nicht ihren Beitrag zu diesem
Kontinent der Poesie geleistet hätte. Europa, seine Vielfalt
und seine Einfalt, seine Menschen und seine Konflikte, seine
Nöte und seine Freuden könnten im Wortsinn erlesen
werden. Die Erfahrung des Europäischen als Leseerfahrung,
der Lesende als Manifestation des Europäischen - was
spräche dagegen? Denn wo wäre mehr Europa als in Dante
und Shakespeare, Cervantes und Goethe, Flaubert und
Ibsen, Dostojewski und Kazantzakis? Und wäre dies nicht
eine reizvolle Vorstellung: junge Menschen, die sich, über
welche Austauschprogramme auch immer vermittelt,
irgendwo in Europa begegnen und ihre literarischen
Erfahrungen teilen können, da sich diese auf jene Werke
beziehen, die in all ihrer Ambivalenz und
Widersprüchlichkeit einen entscheidenden Anteil an der
Herausbildung eines europäischen Bewusstseins hatten und
haben?
Doch Vorsicht. Noch die wohlmeinendste politische
Indienstnahme von Literatur verkennt deren Sinn und
Möglichkeiten. Literatur ist nie auf ein Ende, einen Zweck zu
reduzieren. Literarische Bildung bedeutet, einen geistigen
Kontinent zu betreten, der voll ist von Überraschungen,
Unwägbarkeiten, Enttäuschungen, Begegnungen und
Erfahrungen, auch voll von Mühen und Plagen, und der
gerade deshalb immer wieder aufs Neue lockt und verlockt,
aber auch verstört und abstößt. Auf diesem Kontinent gibt es
weder Erfolgs- noch Glücksgarantien. Und niemand soll
gewaltsam gezwungen werden, diesen Kontinent zu
betreten. Durch eine kompetenzversessene und
technikgläubige Bildungspolitik jungen Menschen aber
systematisch den Zugang zum Kontinent Literatur zu
verbauen, kann nur als ein Akt der Barbarei gewertet
werden.
©Zsolnay
... weniger
Autoren-Porträt von Konrad Paul Liessmann
Konrad Paul Liessmann, geboren 1953 in Villach, ist Professor i.R. für Philosophie an der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Er erhielt 2004 den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz im Denken und Handeln, 2010 den Donauland-Sachbuchpreis und 2016 den Paul Watzlawick-Ehrenring. Im Zsolnay Verlag gibt er die Reihe Philosophicum Lech heraus. Zuletzt erschienen bei Zsolnay Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift (2014), Bildung als Provokation (2017), Alle Lust will Ewigkeit. Mitternächtliche Versuchungen (2021) und Lauter Lügen (2023), sowie bei Hanser (gemeinsam mit Michael Köhlmeier) Der werfe den ersten Stein (2019).
Bibliographische Angaben
- Autor: Konrad Paul Liessmann
- 2017, 4. Aufl., 240 Seiten, Maße: 13,1 x 20,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Paul Zsolnay Verlag
- ISBN-10: 3552058249
- ISBN-13: 9783552058248
- Erscheinungsdatum: 19.09.2017
Pressezitat
"Eine Brandrede gegen Kompetenzen und für klassische Bildung." Kirstin Breitenfellner, Falter, 11.10.17"Liessmanns kurzweiliges und brillant formuliertes Buch ist ein Plädoyer für sperriges Denken und gegen «rigide Reinheitsgebote»." Marc Tribelhorn, Neue Zürcher Zeitung, 19.10.17
"Liessmann formuliert mit messerscharfer Klarheit." Rolf App, St. Galler Tagblatt, 20.10.17
Kommentar zu "Bildung als Provokation"
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