Sagen und Legenden der Schweiz
Der Stier von Uri, die Teufelsbrücke, das Neunuhrglöcklein von Schaffhausen - gruselig und wunderbar, diese faszinierenden Geschichten von urtümlichen Kräften, Berggeistern und Gebräuchen der Helvetier. Aber wie gingen sie eigentlich noch mal genau? Jetzt...
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Produktinformationen zu „Sagen und Legenden der Schweiz “
Klappentext zu „Sagen und Legenden der Schweiz “
Der Stier von Uri, die Teufelsbrücke, das Neunuhrglöcklein von Schaffhausen - gruselig und wunderbar, diese faszinierenden Geschichten von urtümlichen Kräften, Berggeistern und Gebräuchen der Helvetier. Aber wie gingen sie eigentlich noch mal genau? Jetzt sind die Klassiker endlich wieder zugänglich.
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Sagen und Legenden der Schweiz von Meinrad LienertDie vornehme Mailänderin
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EINST KAM einem einsamen Hirten auf der Törbjeralp, wo sich bei der Grimsel die Schneeberge des Wallis und des Kantons Bern scheiden, ein schönes Rind abhanden. Er suchte es lange vergeblich. Nach und nach geriet er in eine wilde Gegend, in der die zerrissenen Felsenkarren und zerklüfteten Gletscher ihm das Suchen stark erschwerten. Dazu hing ein trüber Regenhimmel tief in die Berge herunter.
Auf einmal erlebte er etwas Sonderbares. Er erblickte eine vornehme Frau, die langsam und mit edler Haltung dem Gletscher zu wandelte. Sogleich eilte er der Dame entgegen, um ihr seine Dienste anzubieten. Sie hatte sich ja wohl bei dem trüben Wetter verirrt und ihre Reisegesellschaft verloren. Wie er ganz nahe bei ihr war, sah er, dass die still Dahinwandelnde eine ganz junge und schöne Frau war, wie er noch nie eine gesehen hatte. Dabei sah er mit Staunen, dass sie trotz des Wetters ohne Kopfbedeckung und barfuß dem Eisfeld zu lief. Ihre Haare, die vom Regen troffen, waren so schwarz, dass sie ei nen blauen Schimmer gaben. Ihren Hals zierte eine reich mit Edelsteinen verzierte Goldkette, und um ihren feinen Leib ging ein kostbarer Gürtel. An den Armen glänzten goldene Armbänder, und ihre kleine Hand leuchtete bei jeder Bewegung auf von lauter Diamanten. Mit einer Hand hielt sie sorglich die seidene Schürze, um besser gehen zu können, in der andern Hand hielt sie einen langen Reisestock. Der Rinderhirte sah wohl, wie sorgsam sie jeden spitzen Stein vermied, um ihre zarten Füße nicht zu verletzen. Das Gesicht war bleich und verweint, und schwere Seufzer kamen aus ihrem roten Mund.
Sprachlos vor Verwunderung schritt ihr der Älpler nach. Endlich fragte er sie, von Mitleid bewegt: »Um Gottes willen, meine schöne, gute Frau, was wollt Ihr denn bei so harter Witterung in dieser wilden Gegend? Ihr habt Euch wohl verirrt? Dass Gott erbarm! Wo sind Eure Bedienten? Habt Ihr keine Führer mitgenommen? Ihr seid doch nicht zu Fuß hierher gekommen? Ihr seid wohl nicht weit von hier vom Pferd gestiegen und habt Euch allein zu weit von der Begleitung entfernt und verirrt?«
»Nein, mein guter Junge«, antwortete jetzt die Frau mit lieblicher Stimme, »ich habe mich nicht verirrt. Ich komme wirklich ohne Begleitung, ohne Diener und Pferde, ohne Hut und Schuhe hierher. Soeben komme ich aus einer großen Stadt und aus einem prächtigen Palast. Mein Leib liegt zu Mailand noch warm auf dem Totenbett, an dem meine lieben Eltern, deren einzige Tochter ich bin, bitterlich weinen. Gott hat mich verurteilt, dass ich in diesem Gletscher abbüßen muss. Ich bin bei Lebzeiten ein verzärteltes Kind gewesen. Fast nie trat ich auf die bloße Erde, immer fuhr ich in der Kutsche. Nie kam ein Tropfen Regen auf mein Haupt, nie ein kaltes Lüftlein an meine Wange, nie ging ich ohne große Begleitschaft aus. Ich versagte mir keine Freude und fürchtete mich vor jeder Anstrengung. Deshalb muss ich jetzt in dieser Wildnis barfuß in Regen und Kälte wandeln und in diesem Gletscher meine Verzärtelung abbüßen.«
Jetzt fuhr ein schwarzer, dichter Nebel daher, in dem die anmutige Gestalt unterging. Als ein paar Augenblicke danach der Nebel sich wieder verzog, war von der schönen Frau keine Spur mehr zu erblicken. Da fiel es ihm ein, Gott habe ihm gewiss die schöne Frau erscheinen lassen, damit er sie erlösen helfe, denn nicht umsonst sei sie so schön gewesen. Hätte er ihr doch seine Hilfe angeboten, statt bloß zu fragen! Und nun rief er, so laut er vermochte: »Schöne Frau, sagt mir doch, womit ich Euch erlösen kann!«
Aber nur ein schwaches Echo kam zurück. Schwermütig rauschte der Bach, und der Gletscher donnerte und krachte, bleiche Nebelgestalten stiegen in den Gletscherspalten auf und nieder, aber von der schönen Mailänderin sah er nichts mehr. Tieftraurig kehrte er heim. Noch oft danach stieg er in die wilde Gletschereinöde hinauf, und allemal rief er laut: »Schöne Frau, kann ich noch etwas tun, um Euch zu erlösen?« Doch immer kam nur seine Frage von den Felsenwänden zurück. Oft hasteten auch schwarze Nebel an ihm vorüber wie
damals, als er die verwunschene Frau gesehen, und wild krachte und
donnerte der Gletscher, und seltsame, unheimliche Nebelgebilde
stiegen aus den Gletscherspalten herauf, aber die anmutige Frau sah er zu seinem Leidwesen niemals wieder.
Die Törbjeralp ist die Alp von Törbel. Törbel liegt im Vispertal (Wallis), die Törbjeralp oder Oberaaralp im Grimselgebiet (Bern), drei Tagesmärsche von Törbel entfernt. Die Oberaaralp wurde 1948 an die Kraftwerke Oberhasli AG verkauft, die 1950-1953 die Staumauer des Oberaarsees baute. Der Gletscher, wohin die vornehme Mailänderin wandelt, ist der Oberaargletscher.
© Nagel und Kimche im Carl Hanser Verlag, München
EINST KAM einem einsamen Hirten auf der Törbjeralp, wo sich bei der Grimsel die Schneeberge des Wallis und des Kantons Bern scheiden, ein schönes Rind abhanden. Er suchte es lange vergeblich. Nach und nach geriet er in eine wilde Gegend, in der die zerrissenen Felsenkarren und zerklüfteten Gletscher ihm das Suchen stark erschwerten. Dazu hing ein trüber Regenhimmel tief in die Berge herunter.
Auf einmal erlebte er etwas Sonderbares. Er erblickte eine vornehme Frau, die langsam und mit edler Haltung dem Gletscher zu wandelte. Sogleich eilte er der Dame entgegen, um ihr seine Dienste anzubieten. Sie hatte sich ja wohl bei dem trüben Wetter verirrt und ihre Reisegesellschaft verloren. Wie er ganz nahe bei ihr war, sah er, dass die still Dahinwandelnde eine ganz junge und schöne Frau war, wie er noch nie eine gesehen hatte. Dabei sah er mit Staunen, dass sie trotz des Wetters ohne Kopfbedeckung und barfuß dem Eisfeld zu lief. Ihre Haare, die vom Regen troffen, waren so schwarz, dass sie ei nen blauen Schimmer gaben. Ihren Hals zierte eine reich mit Edelsteinen verzierte Goldkette, und um ihren feinen Leib ging ein kostbarer Gürtel. An den Armen glänzten goldene Armbänder, und ihre kleine Hand leuchtete bei jeder Bewegung auf von lauter Diamanten. Mit einer Hand hielt sie sorglich die seidene Schürze, um besser gehen zu können, in der andern Hand hielt sie einen langen Reisestock. Der Rinderhirte sah wohl, wie sorgsam sie jeden spitzen Stein vermied, um ihre zarten Füße nicht zu verletzen. Das Gesicht war bleich und verweint, und schwere Seufzer kamen aus ihrem roten Mund.
Sprachlos vor Verwunderung schritt ihr der Älpler nach. Endlich fragte er sie, von Mitleid bewegt: »Um Gottes willen, meine schöne, gute Frau, was wollt Ihr denn bei so harter Witterung in dieser wilden Gegend? Ihr habt Euch wohl verirrt? Dass Gott erbarm! Wo sind Eure Bedienten? Habt Ihr keine Führer mitgenommen? Ihr seid doch nicht zu Fuß hierher gekommen? Ihr seid wohl nicht weit von hier vom Pferd gestiegen und habt Euch allein zu weit von der Begleitung entfernt und verirrt?«
»Nein, mein guter Junge«, antwortete jetzt die Frau mit lieblicher Stimme, »ich habe mich nicht verirrt. Ich komme wirklich ohne Begleitung, ohne Diener und Pferde, ohne Hut und Schuhe hierher. Soeben komme ich aus einer großen Stadt und aus einem prächtigen Palast. Mein Leib liegt zu Mailand noch warm auf dem Totenbett, an dem meine lieben Eltern, deren einzige Tochter ich bin, bitterlich weinen. Gott hat mich verurteilt, dass ich in diesem Gletscher abbüßen muss. Ich bin bei Lebzeiten ein verzärteltes Kind gewesen. Fast nie trat ich auf die bloße Erde, immer fuhr ich in der Kutsche. Nie kam ein Tropfen Regen auf mein Haupt, nie ein kaltes Lüftlein an meine Wange, nie ging ich ohne große Begleitschaft aus. Ich versagte mir keine Freude und fürchtete mich vor jeder Anstrengung. Deshalb muss ich jetzt in dieser Wildnis barfuß in Regen und Kälte wandeln und in diesem Gletscher meine Verzärtelung abbüßen.«
Jetzt fuhr ein schwarzer, dichter Nebel daher, in dem die anmutige Gestalt unterging. Als ein paar Augenblicke danach der Nebel sich wieder verzog, war von der schönen Frau keine Spur mehr zu erblicken. Da fiel es ihm ein, Gott habe ihm gewiss die schöne Frau erscheinen lassen, damit er sie erlösen helfe, denn nicht umsonst sei sie so schön gewesen. Hätte er ihr doch seine Hilfe angeboten, statt bloß zu fragen! Und nun rief er, so laut er vermochte: »Schöne Frau, sagt mir doch, womit ich Euch erlösen kann!«
Aber nur ein schwaches Echo kam zurück. Schwermütig rauschte der Bach, und der Gletscher donnerte und krachte, bleiche Nebelgestalten stiegen in den Gletscherspalten auf und nieder, aber von der schönen Mailänderin sah er nichts mehr. Tieftraurig kehrte er heim. Noch oft danach stieg er in die wilde Gletschereinöde hinauf, und allemal rief er laut: »Schöne Frau, kann ich noch etwas tun, um Euch zu erlösen?« Doch immer kam nur seine Frage von den Felsenwänden zurück. Oft hasteten auch schwarze Nebel an ihm vorüber wie
damals, als er die verwunschene Frau gesehen, und wild krachte und
donnerte der Gletscher, und seltsame, unheimliche Nebelgebilde
stiegen aus den Gletscherspalten herauf, aber die anmutige Frau sah er zu seinem Leidwesen niemals wieder.
Die Törbjeralp ist die Alp von Törbel. Törbel liegt im Vispertal (Wallis), die Törbjeralp oder Oberaaralp im Grimselgebiet (Bern), drei Tagesmärsche von Törbel entfernt. Die Oberaaralp wurde 1948 an die Kraftwerke Oberhasli AG verkauft, die 1950-1953 die Staumauer des Oberaarsees baute. Der Gletscher, wohin die vornehme Mailänderin wandelt, ist der Oberaargletscher.
© Nagel und Kimche im Carl Hanser Verlag, München
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Autoren-Porträt von Meinrad Lienert
Lienert, MeinradMeinrad Lienert, geboren 1865, studierte Jura und arbeitete als Notar und Redakteur. Ab 1900 freier Schriftsteller und einer der Begründer der Schweizer Mundartdichtung. 1914 erschienen seine Schweizer Sagen und Heldengeschichten. Er starb 1933 in Küsnacht am Zürichsee. Binder, Hannes
Hannes Binder, geboren 1947, lebt als Illustrator und Maler in Zürich. Nach dem Studium an der Kunstgewerbeschule Zürich folgten Aufenthalte in Mailand, Genua und Hamburg. Seit 1972 arbeitet er als selbständiger Illustrator unter anderem für NZZ Folio, Der Spiegel, Stern und Die Zeit. Seit 2005 ist er zudem Dozent für Illustrationsgeschichte an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Luzern.
Bibliographische Angaben
- Autor: Meinrad Lienert
- Altersempfehlung: Ab 10 Jahre
- 2011, 1. Auflage, 212 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 16,6 x 24,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Herausgegeben: Stefan Ineichen
- Verlag: Nagel & Kimche
- ISBN-10: 3312009928
- ISBN-13: 9783312009923
- Erscheinungsdatum: 07.03.2011
Rezension zu „Sagen und Legenden der Schweiz “
"Hannes Binders Bilder passen mit ihrer geheimnisvollen Aura hervorragend zum Schauerlich-Unerklärlichen der Sagenwelt. Wie in einem Traumbild verschmilzt die untote Mailänderin mit Stadt und Bergen, und der Blick durch die Wolken auf die Stadt Zürich lässt einen die Position einer höheren Macht einnehmen. Ungewöhnliche Perspektiven machen uns zu heimlichen Beobachtern." Andrea Lüthi, Neue Zürcher Zeitung, 07.03.2007
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