Poetik
Tübinger und Frankfurter Vorlesungen
Im Wintersemester 1995/96 hielt Marlene Streeruwitz als erste Tübinger Poetikdozentin drei Vorlesungen über die Voraussetzungen ihres Schreibens und schuf damit eine Streitschrift zur feministischen Literaturtheorie und Sprachkritik. Kurze Zeit später, im...
Jetzt vorbestellen
versandkostenfrei
Taschenbuch
10.30 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Poetik “
Klappentext zu „Poetik “
Im Wintersemester 1995/96 hielt Marlene Streeruwitz als erste Tübinger Poetikdozentin drei Vorlesungen über die Voraussetzungen ihres Schreibens und schuf damit eine Streitschrift zur feministischen Literaturtheorie und Sprachkritik. Kurze Zeit später, im Wintersemester 1997/98, setzte die Autorin ihre Vorlesungen in Frankfurt fort, wo sie im Rahmen der von Ingeborg Bachmann 1959 eröffneten, traditionsreichen Frankfurter Poetikvorlesungen den Hörsaal betrat. Als Ergänzung zu den theoretischen Auseinandersetzungen der Tübinger Vorlesungen stehen in Frankfurt Ausdifferenzierungen und praktische Umsetzung im Zentrum.Die beiden Vorlesungszyklen werden ergänzt durch ein Gespräch mit Marlene Streeruwitz, das sich mit gegenwärtigen Positionen ihres Schreibens auseinandersetzt.
Lese-Probe zu „Poetik “
Poetik von Marlene SteeruwitzSein. Und Schein. Und Erscheinen.
TOBINGER POETIKVORLESUNGEN
Sein.
In Mittelafrika gibt es einen Stamm, bei dem den jungen Männern zur Initiation der Bauch aufgeschnitten wird. Die Initianten müssen auf ihr und in ihr Inneres in der geöffneten Bauchhohle blicken. Danach wird der Bauch wieder geschlossen. Und der junge Mann ist in die Gesellschaft auf-genommen. Mit allen Rechten des Mannes. Des Mann-Seins.
Ich hörte diese Geschichte im Radio. In einer Sendung über Medizin bei Naturvölkern. Die Berichterstatterin interessierte es, dass von der Prozedur des Bauchaufschneidens nur nadelspitzenfeine Narben zurückblieben. Dass es keine Infektionen gäbe. Und dass die Initianten aus der Ohnmacht, in die sie beim Anblick ihrer Eingeweide fielen, erfrischt und euphorisch aufwachten. Sie wiesen keine Symptome oder Nachwirkungen eines Schockzustandes auf. Krauter und die Kraft der Suggestion wurden als medizinische Hilfsmittel an¬gegeben. Dann führte der Bericht weiter zu Kopfoperationen im alten Ägypten. Und ich schaltete das Radio ab.
... mehr
Ich hatte den Schock, der den Initianten erspart geblieben. Die Vorstellung, die Ältesten meiner Gesellschaft zwangen mich, mir den Bauch aufschneiden zu lassen, den Kopf an¬zuheben und in mein Inneres zu blicken. Diese Vorstellung macht mich immer noch schaudern. Ich müsste ansehen, wäre gezwungen dazu, das anzusehen, was ich zuinnerst bin, was sich mir aber immer verhüllt. Ich weiß nicht, ob mir eine Ohnmacht reichte, diesen Anblick, diese Situation zu bewältigen. Die 2. Überlegung zu diesem Vorgang lies und lasst sofort Wut und Empörung in mir hochsteigen: Ich wäre ja ausgeschlossen von dieser Erfahrung. Alles mit ihr Zusammenhangende wäre ein vor mir ängstlich gehütetes und fern¬zuhaltendes Geheimnis. Ich dürfte mich nicht aufschneiden lassen. Ich dürfte mich auf diese Weise nicht erkennen. Ich bin eine Frau. Und deshalb ausgeschlossen.
Aber. Betrachten wir zuerst einmal den Vorgang dieser Initiation genauer. Nachdem die erste emotionale Abwehr des Bildes abgeklungen ist, lasst sich die ihm innewohnende Poesie zur Kenntnis nehmen. Handelt es sich doch um ein schönes Sinnbild dessen, was wir alle tun müssen. Wir tun es nur in einem anderen Zeitrahmen und in einer anderen Realitätsform. In steter Wiederholung und Neueroberung richten wir diesen Blick auf uns selbst. In uns selbst. Oder versuchen jedenfalls, diesen Blick zu lernen. Und anzuwenden. Auch bei uns sind es die Älteren, die uns unterweisen. Die diesen Blick zulassen. Oder verweigern.
Ich mochte Sie bitten, mir auf einer teilweise umständlich erscheinenden Wanderung zu folgen und mit mir zu untersuchen, wie dieser Blick in unserer Gesellschaft möglich ist. Welche Umstände welche Blicke gestatten oder bedingen.
Die Basis, auf der diese Untersuchung durchgeführt wer¬den wird, ist die Geschichte von der Bauchaufschneiderei. Der Zielkontext, auf den bezogen die Fragen gestellt werden sollen, lautet: Und was bringt mir das beim Frühstück? Ich werde darauf noch genauer eingehen. Fürs Erste schließen Sie richtig, dass diese Frage vermeiden helfen soll, in ein selbst¬zweckisches Abstrahieren zu geraten. Oder der Versuchung zu erliegen, ästhetisierende Behauptungen um ihrer selbst willen aufzustellen.
Und. Eine weitere Frage erhebt sich an dieser Stelle: Was hat das alles mit Poetik zu tun?
Literarisches Schreiben und Lesen sind, wie alle Prozesse von Sprachfindung, mögliche Formen des In-sich-Hineinbli¬ckens. Sind Schnitte in die sichtbare Oberfläche, um tiefere Schichten freizulegen. Sind Forschungsreisen ins Verborgene. Verhüllte. Mitteilungen über die Geheimnisse und das Ver-botene. Sind Sprachen, die das Sprechen der Selbstbefragung möglich machen. Und sie so zur Erscheinung bringen.
Im günstigsten Fall führt literarisches Schreiben und Lesen zu Erkenntnis.
Literarisches Lesen steht dem Vorgang der geschilderten Initiation in nichts nach: Wer hat noch nicht, wie vom Blitz getroffen, in ein Buch gestarrt - oder es in die Ecke geschleudert - und, vom Begreifen überfallen, nach Luft gerungen, weil eine Stelle, ein Satz, ja ein Wort in der ganz bestimmten Konfiguration des Textes etwas in ihr oder ihm getroffen hat. Für einen Augenblick wird so die Einsamkeit beim In-den-Bauch-Starren aufgehoben. Und zumindest die tröstliche Erkenntnis wird möglich, nicht allein zu sein. Dass ein anderer oder eine andere ein Gemeinsames wüssten. Das sind Augenblicke, die ich auf allen Ebenen von Literatur gefunden habe. Wenn auch öfter in ihrer Negativversion.
Diese Augenblicke sind dem Lesen vorbehalten. Der Schreiber oder die Schreiberin können das Gemeinsame nicht wissen und werden es gültig aus dem eigenen Text nie erfahren. Sie bleiben mit ihrem Text immer allein. In dieser Getrenntheit der Erfahrungen liegt für mich der Unterschied zwischen Schreiben und Lesen. Ich denke, dass beim Lesen das geschieht, was ich hinter dem Initiationsritus gerne ver¬muten würde. - Schon deshalb, um mir die Vorstellung davon erträglicher zu machen. - Es wäre ja auch möglich, dass dem Initianten die Operation vorgegaukelt wird. Es gibt einen Schnitt. Aber nur oberflächlich. Es gibt, von der Vor¬bereitungszeit bis zur Zeremonie, sicher unzählige Berichte über den Vorgang. Möglicherweise verbotene. Es gibt Sagen und Mythen. Es gibt die Angst. Aus einer so hochemotionalisierten Situation heraus dürfte es nicht schwierig sein, dem Initianten in einer Geheimzeremonie glauben zu machen, er hatte sein Inneres gesehen. Die festgelegte und kollektiv vor¬handene Vorstellung davon liefert das Bild. Ist dieses Sehen mit einem Tabu belegt, dann darf der Initiant seine Erfahrung nicht verbalisieren. Sie gewinnt keinen Ausdruck. Bleibt so Literarisches Lesen steht dem Vorgang der geschilderten Initiation in nichts nach: Wer hat noch nicht, wie vom Blitz getroffen, in ein Buch gestarrt - oder es in die Ecke geschleu¬dert - und, vom Begreifen überfallen, nach Luft gerungen, weil eine Stelle, ein Satz, ja ein Wort in der ganz bestimmten
immer die Erfahrung selbst. Bleibt in der Unmittelbarkeit. Befreiung durch In-die-Sprache-Heben dieser Erfahrung wird so unmöglich gemacht.
Schreiben und Lesen sind für mich verschiedene Vorgange. Eine Kongruenz dieser beiden Formen ist für mich nicht vor¬handen. Worauf die formalen Literaturtheorien sich berufen, ist der Begriff einer »literacy«. Dieser Begriff bedeutet, dass in unserem Beispiel nur die Medizinmänner füreinander schrei¬ben und voneinander lesen. Nur ihnen stehen alle Sprachen zu Entschlüsselung der Texte zu Verfügung und damit auch die Möglichkeit, im Lesen den Text vollgültig neu zu schöpfen. Weiterzuschreiben.
Dem Initianten treten die eigenen kontextualen Strukturen zu dominant entgegen, als dass ein störungsfreier Empfang gewährleistet werden konnte. Und meist - und meist absichtlich - sind gar nicht alle Sprachebenen bekannt, die zur Entschlüsselung nötig waren. Aber. Ober die Störungen, die im Rahmen des Sendevorgangs »Geschriebenes Lesen« entstehen, wird noch zu sprechen sein.
Dazu muss ich sagen, dass ich selbst formal arbeitete. Ich entwickelte eine strukturale Dramentheorie für meine Dissertation. Auch heute würde ich weiterhin das Operationale einer literaturwissenschaftlichen Arbeit in dieser Richtung suchen. Ich sehe nur, dass die Zeit des Kalten Krieges selbst hier ihre Spuren hinterlassen hat und dass mit dem Ausweg ins rein formal Wissenschaftliche die moralisch-kritische Aussage vollkommen vernachlässigt wurde. Es war doch die Zeit der 60er und 70er Jahre eine Phase, in der man den zu untersuchenden Gegenstand ernst angesehen hat, wohl alles begriffen, aber außer der Beschreibung des Gegenstands dann nichts gemacht hat. Gleichsam um das Gleichgewicht der Bombe zu erhalten, wurde keine wertende Aussage getroffen. Der Rest an zugelassenen Stellungnahmen wurde zwischen akademischer Kritik und Feuilleton aufgeteilt. Für die Erhaltung der jeweiligen Macht war es notwendig, die Sprachen der Älteren, der Medizinmänner der Gesellschaft, nicht in Frage zu stellen. Inhaltliche Kritik war Defätismus.
Hier noch ein Wort zum Literaturbegriff: Ich fasse diesen Begriff so weit wie möglich und beziehe neben der Trivial¬literatur auch Dialogisches wie Fernsehserien mit ein. Also alle Texte, die gelesen oder gehört werden. Vornehmlich im Alltag. Literarische Sonntagsmessen in Hochkultur inter¬essieren mich nicht. Wenn - und hier gebe ich der Dekonstruktion recht - jeder im Lesen neu schöpfen kann, dann kann jeder und jede schreiben. Und sollte es auch tun. Ober die Beschränkungen, die diesem Tun auferlegt sind, wird noch zu sprechen sein.
Befragen wir uns noch einmal zu unserem Ausgangsbeispiel. Was sieht der junge Mann in seinem Bauchinneren? Warum muss ihm das überhaupt gezeigt werden? Der geschundene Leichnam Jesu, an Klassenwänden hängend. Die zerwühlten Leichen aus Massengräbern, gezerrt in die täglichen TV-Nachrichten. Immer soll an die Möglichkeit des Todes gemahnt werden. Aber allgemein so. Der Blick des Initianten ins eigene Lebensinnere ist dagegen die Enthüllung des Körperinneren in aller Verletzlichkeit. Ist der Blick auf die eigene Endlichkeit. Auf den Tod. Auf den eigenen Tod. Ist der Blick auf jenes Ereignis also, dessen Einschätzung über unsere Einstellung zum Leben entscheidet. Und über die Funktion von Zeit und Freiheit in unserem Leben. Wie wir unseren Tod entwerfen, so wird unser Leben aussehen. Ob in Würde gelebt werden kann, bestimmt sich an dieser Entscheidung.
Unsere Tragödie ist natürlich genau diese Grundkonstellation: Dass auf das Leben der Tod folgt. Um wie viel einfacher sähe die Sache aus, könnte man zuerst sterben und dann leben. Eine Vorstellung übrigens, deren Verführungskraft sich die meisten Religionen zunutze machen. Wie viel einfacher wäre es, könnte man wissen und dann lernen. Erst zahlen und dann genießen. Sich erst voneinander trennen und dann zusammen leben.
Aber. So ist es nicht. Es muss gelernt werden. Und dann wird gewusst. Erst gelebt und dann gestorben. Wir müssen uns also auf diesen Endpunkt hin orientieren.
Dem zu initiierenden jungen Mann wird sein Tod vorgeführt. Er stirbt, bevor er erwachsen wird. Für ihn ist durch den Blick in sich das Sterben fürs Erste erledigt. Warum ist es aber nun so ein Unglück, lernen zu müssen, bevor man etwas wissen kann?
Damit sind wir bei den Medizinmännern unserer Gesellschaft und ihren Einflüsterungen. Wir werden geprägt - wie schon gesagt -, bevor wir beurteilen können, was das ist, was uns prägt, und eine Meinung dazu bilden können. Dazu werden wir uns noch ausführlich mit den verschiedenen Mecha-nismen auseinandersetzen, die diese Prägungen in den ver¬schiedenen Lernstadien des Kindes betreffen.
Wir lernen, bevor wir der Sprache mächtig sind. Wir werden demnach geprägt von unausgesprochenen Bildern der Verdammnis und des Glücks. Von tabuisierten, weil sprach¬losen Aufträgen, die in uns eingepflanzt werden, bevor wir in der Lage sind, diese Aufträge zu erkennen oder überhaupt zu begreifen, dass sie uns erteilt werden.
Lassen Sie mich das anhand eines persönlichen Beispiels erläutern. Einer meiner Medizinmänner war meine Großmutter mütterlicherseits. Ich war ein besonders gut sozialisiertes Kleinkind und wurde deshalb sehr früh in den Kindergarten oder in die Obhut dieser Großmutter gegeben. Meine Brüder beanspruchten die Aufmerksamkeit meiner Mutter vollständig. Sie waren nicht so gut sozialisiert, und man konnte sie nicht in eine Betreuung auf3er Haus entlassen.
Meine Großmutter war eine Bäuerin in der Steiermark. Ich wurde auf dem Bauernhof in eine stark mit archaisch-heidnischen Merkmalen vermischte Katholizität eingesponnen. Mit dem Ergebnis, dass ich mit 5 Jahren wusste, dass ich eine Märtyrerin werden würde. Zu oft und zu begeistert hatten mir die Großmutter und ihre Cousinen von den Märtyrerinnen erzählt, deren Leiden bis ins grausamste kleinste Detail ausgemalt. Zu dominant waren die tiefen Stimmen dieser Frauen gewesen, die mir beim Beten die Hände zusammengepresst und mir die Formeln vorgesagt, mit denen ich mir diese Leiden zur Erreichung höchster und ewiger Glückseligkeit herbeiwünschen musste. Flehentlich.
Mich vergnügte das nicht. Ich erinnere mich noch an lange, heckenrosenbegleitete Wege, die ich entlangstapfte und mir dabei wünschte, eine der Spinnen in den Sträuchern zu sein und Spinnennetze machen zu können, statt dem bangen Schicksal als Märtyrerbraut Christi entgegenzugehen.
Die Notwendigkeit, in die Schule gehen zu müssen, entfernte mich aus dieser Welt. Dass sich dann, viel später, die tief verborgene Aufforderung zur Selbstzerstörung in Rilke-Gedichten dahin ausgewirkt hat, dass ich fürchterlich kitschige Gedichte an »Meinen Bruder Tod« schrieb, lässt sich als weitere Folge der damaligen Einflüsterungen sehen. Ja direkt darauf zurückführen. Rilke wurde ja auch schon aus den gleichen Quellen beeinflusst.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Ich hatte den Schock, der den Initianten erspart geblieben. Die Vorstellung, die Ältesten meiner Gesellschaft zwangen mich, mir den Bauch aufschneiden zu lassen, den Kopf an¬zuheben und in mein Inneres zu blicken. Diese Vorstellung macht mich immer noch schaudern. Ich müsste ansehen, wäre gezwungen dazu, das anzusehen, was ich zuinnerst bin, was sich mir aber immer verhüllt. Ich weiß nicht, ob mir eine Ohnmacht reichte, diesen Anblick, diese Situation zu bewältigen. Die 2. Überlegung zu diesem Vorgang lies und lasst sofort Wut und Empörung in mir hochsteigen: Ich wäre ja ausgeschlossen von dieser Erfahrung. Alles mit ihr Zusammenhangende wäre ein vor mir ängstlich gehütetes und fern¬zuhaltendes Geheimnis. Ich dürfte mich nicht aufschneiden lassen. Ich dürfte mich auf diese Weise nicht erkennen. Ich bin eine Frau. Und deshalb ausgeschlossen.
Aber. Betrachten wir zuerst einmal den Vorgang dieser Initiation genauer. Nachdem die erste emotionale Abwehr des Bildes abgeklungen ist, lasst sich die ihm innewohnende Poesie zur Kenntnis nehmen. Handelt es sich doch um ein schönes Sinnbild dessen, was wir alle tun müssen. Wir tun es nur in einem anderen Zeitrahmen und in einer anderen Realitätsform. In steter Wiederholung und Neueroberung richten wir diesen Blick auf uns selbst. In uns selbst. Oder versuchen jedenfalls, diesen Blick zu lernen. Und anzuwenden. Auch bei uns sind es die Älteren, die uns unterweisen. Die diesen Blick zulassen. Oder verweigern.
Ich mochte Sie bitten, mir auf einer teilweise umständlich erscheinenden Wanderung zu folgen und mit mir zu untersuchen, wie dieser Blick in unserer Gesellschaft möglich ist. Welche Umstände welche Blicke gestatten oder bedingen.
Die Basis, auf der diese Untersuchung durchgeführt wer¬den wird, ist die Geschichte von der Bauchaufschneiderei. Der Zielkontext, auf den bezogen die Fragen gestellt werden sollen, lautet: Und was bringt mir das beim Frühstück? Ich werde darauf noch genauer eingehen. Fürs Erste schließen Sie richtig, dass diese Frage vermeiden helfen soll, in ein selbst¬zweckisches Abstrahieren zu geraten. Oder der Versuchung zu erliegen, ästhetisierende Behauptungen um ihrer selbst willen aufzustellen.
Und. Eine weitere Frage erhebt sich an dieser Stelle: Was hat das alles mit Poetik zu tun?
Literarisches Schreiben und Lesen sind, wie alle Prozesse von Sprachfindung, mögliche Formen des In-sich-Hineinbli¬ckens. Sind Schnitte in die sichtbare Oberfläche, um tiefere Schichten freizulegen. Sind Forschungsreisen ins Verborgene. Verhüllte. Mitteilungen über die Geheimnisse und das Ver-botene. Sind Sprachen, die das Sprechen der Selbstbefragung möglich machen. Und sie so zur Erscheinung bringen.
Im günstigsten Fall führt literarisches Schreiben und Lesen zu Erkenntnis.
Literarisches Lesen steht dem Vorgang der geschilderten Initiation in nichts nach: Wer hat noch nicht, wie vom Blitz getroffen, in ein Buch gestarrt - oder es in die Ecke geschleudert - und, vom Begreifen überfallen, nach Luft gerungen, weil eine Stelle, ein Satz, ja ein Wort in der ganz bestimmten Konfiguration des Textes etwas in ihr oder ihm getroffen hat. Für einen Augenblick wird so die Einsamkeit beim In-den-Bauch-Starren aufgehoben. Und zumindest die tröstliche Erkenntnis wird möglich, nicht allein zu sein. Dass ein anderer oder eine andere ein Gemeinsames wüssten. Das sind Augenblicke, die ich auf allen Ebenen von Literatur gefunden habe. Wenn auch öfter in ihrer Negativversion.
Diese Augenblicke sind dem Lesen vorbehalten. Der Schreiber oder die Schreiberin können das Gemeinsame nicht wissen und werden es gültig aus dem eigenen Text nie erfahren. Sie bleiben mit ihrem Text immer allein. In dieser Getrenntheit der Erfahrungen liegt für mich der Unterschied zwischen Schreiben und Lesen. Ich denke, dass beim Lesen das geschieht, was ich hinter dem Initiationsritus gerne ver¬muten würde. - Schon deshalb, um mir die Vorstellung davon erträglicher zu machen. - Es wäre ja auch möglich, dass dem Initianten die Operation vorgegaukelt wird. Es gibt einen Schnitt. Aber nur oberflächlich. Es gibt, von der Vor¬bereitungszeit bis zur Zeremonie, sicher unzählige Berichte über den Vorgang. Möglicherweise verbotene. Es gibt Sagen und Mythen. Es gibt die Angst. Aus einer so hochemotionalisierten Situation heraus dürfte es nicht schwierig sein, dem Initianten in einer Geheimzeremonie glauben zu machen, er hatte sein Inneres gesehen. Die festgelegte und kollektiv vor¬handene Vorstellung davon liefert das Bild. Ist dieses Sehen mit einem Tabu belegt, dann darf der Initiant seine Erfahrung nicht verbalisieren. Sie gewinnt keinen Ausdruck. Bleibt so Literarisches Lesen steht dem Vorgang der geschilderten Initiation in nichts nach: Wer hat noch nicht, wie vom Blitz getroffen, in ein Buch gestarrt - oder es in die Ecke geschleu¬dert - und, vom Begreifen überfallen, nach Luft gerungen, weil eine Stelle, ein Satz, ja ein Wort in der ganz bestimmten
immer die Erfahrung selbst. Bleibt in der Unmittelbarkeit. Befreiung durch In-die-Sprache-Heben dieser Erfahrung wird so unmöglich gemacht.
Schreiben und Lesen sind für mich verschiedene Vorgange. Eine Kongruenz dieser beiden Formen ist für mich nicht vor¬handen. Worauf die formalen Literaturtheorien sich berufen, ist der Begriff einer »literacy«. Dieser Begriff bedeutet, dass in unserem Beispiel nur die Medizinmänner füreinander schrei¬ben und voneinander lesen. Nur ihnen stehen alle Sprachen zu Entschlüsselung der Texte zu Verfügung und damit auch die Möglichkeit, im Lesen den Text vollgültig neu zu schöpfen. Weiterzuschreiben.
Dem Initianten treten die eigenen kontextualen Strukturen zu dominant entgegen, als dass ein störungsfreier Empfang gewährleistet werden konnte. Und meist - und meist absichtlich - sind gar nicht alle Sprachebenen bekannt, die zur Entschlüsselung nötig waren. Aber. Ober die Störungen, die im Rahmen des Sendevorgangs »Geschriebenes Lesen« entstehen, wird noch zu sprechen sein.
Dazu muss ich sagen, dass ich selbst formal arbeitete. Ich entwickelte eine strukturale Dramentheorie für meine Dissertation. Auch heute würde ich weiterhin das Operationale einer literaturwissenschaftlichen Arbeit in dieser Richtung suchen. Ich sehe nur, dass die Zeit des Kalten Krieges selbst hier ihre Spuren hinterlassen hat und dass mit dem Ausweg ins rein formal Wissenschaftliche die moralisch-kritische Aussage vollkommen vernachlässigt wurde. Es war doch die Zeit der 60er und 70er Jahre eine Phase, in der man den zu untersuchenden Gegenstand ernst angesehen hat, wohl alles begriffen, aber außer der Beschreibung des Gegenstands dann nichts gemacht hat. Gleichsam um das Gleichgewicht der Bombe zu erhalten, wurde keine wertende Aussage getroffen. Der Rest an zugelassenen Stellungnahmen wurde zwischen akademischer Kritik und Feuilleton aufgeteilt. Für die Erhaltung der jeweiligen Macht war es notwendig, die Sprachen der Älteren, der Medizinmänner der Gesellschaft, nicht in Frage zu stellen. Inhaltliche Kritik war Defätismus.
Hier noch ein Wort zum Literaturbegriff: Ich fasse diesen Begriff so weit wie möglich und beziehe neben der Trivial¬literatur auch Dialogisches wie Fernsehserien mit ein. Also alle Texte, die gelesen oder gehört werden. Vornehmlich im Alltag. Literarische Sonntagsmessen in Hochkultur inter¬essieren mich nicht. Wenn - und hier gebe ich der Dekonstruktion recht - jeder im Lesen neu schöpfen kann, dann kann jeder und jede schreiben. Und sollte es auch tun. Ober die Beschränkungen, die diesem Tun auferlegt sind, wird noch zu sprechen sein.
Befragen wir uns noch einmal zu unserem Ausgangsbeispiel. Was sieht der junge Mann in seinem Bauchinneren? Warum muss ihm das überhaupt gezeigt werden? Der geschundene Leichnam Jesu, an Klassenwänden hängend. Die zerwühlten Leichen aus Massengräbern, gezerrt in die täglichen TV-Nachrichten. Immer soll an die Möglichkeit des Todes gemahnt werden. Aber allgemein so. Der Blick des Initianten ins eigene Lebensinnere ist dagegen die Enthüllung des Körperinneren in aller Verletzlichkeit. Ist der Blick auf die eigene Endlichkeit. Auf den Tod. Auf den eigenen Tod. Ist der Blick auf jenes Ereignis also, dessen Einschätzung über unsere Einstellung zum Leben entscheidet. Und über die Funktion von Zeit und Freiheit in unserem Leben. Wie wir unseren Tod entwerfen, so wird unser Leben aussehen. Ob in Würde gelebt werden kann, bestimmt sich an dieser Entscheidung.
Unsere Tragödie ist natürlich genau diese Grundkonstellation: Dass auf das Leben der Tod folgt. Um wie viel einfacher sähe die Sache aus, könnte man zuerst sterben und dann leben. Eine Vorstellung übrigens, deren Verführungskraft sich die meisten Religionen zunutze machen. Wie viel einfacher wäre es, könnte man wissen und dann lernen. Erst zahlen und dann genießen. Sich erst voneinander trennen und dann zusammen leben.
Aber. So ist es nicht. Es muss gelernt werden. Und dann wird gewusst. Erst gelebt und dann gestorben. Wir müssen uns also auf diesen Endpunkt hin orientieren.
Dem zu initiierenden jungen Mann wird sein Tod vorgeführt. Er stirbt, bevor er erwachsen wird. Für ihn ist durch den Blick in sich das Sterben fürs Erste erledigt. Warum ist es aber nun so ein Unglück, lernen zu müssen, bevor man etwas wissen kann?
Damit sind wir bei den Medizinmännern unserer Gesellschaft und ihren Einflüsterungen. Wir werden geprägt - wie schon gesagt -, bevor wir beurteilen können, was das ist, was uns prägt, und eine Meinung dazu bilden können. Dazu werden wir uns noch ausführlich mit den verschiedenen Mecha-nismen auseinandersetzen, die diese Prägungen in den ver¬schiedenen Lernstadien des Kindes betreffen.
Wir lernen, bevor wir der Sprache mächtig sind. Wir werden demnach geprägt von unausgesprochenen Bildern der Verdammnis und des Glücks. Von tabuisierten, weil sprach¬losen Aufträgen, die in uns eingepflanzt werden, bevor wir in der Lage sind, diese Aufträge zu erkennen oder überhaupt zu begreifen, dass sie uns erteilt werden.
Lassen Sie mich das anhand eines persönlichen Beispiels erläutern. Einer meiner Medizinmänner war meine Großmutter mütterlicherseits. Ich war ein besonders gut sozialisiertes Kleinkind und wurde deshalb sehr früh in den Kindergarten oder in die Obhut dieser Großmutter gegeben. Meine Brüder beanspruchten die Aufmerksamkeit meiner Mutter vollständig. Sie waren nicht so gut sozialisiert, und man konnte sie nicht in eine Betreuung auf3er Haus entlassen.
Meine Großmutter war eine Bäuerin in der Steiermark. Ich wurde auf dem Bauernhof in eine stark mit archaisch-heidnischen Merkmalen vermischte Katholizität eingesponnen. Mit dem Ergebnis, dass ich mit 5 Jahren wusste, dass ich eine Märtyrerin werden würde. Zu oft und zu begeistert hatten mir die Großmutter und ihre Cousinen von den Märtyrerinnen erzählt, deren Leiden bis ins grausamste kleinste Detail ausgemalt. Zu dominant waren die tiefen Stimmen dieser Frauen gewesen, die mir beim Beten die Hände zusammengepresst und mir die Formeln vorgesagt, mit denen ich mir diese Leiden zur Erreichung höchster und ewiger Glückseligkeit herbeiwünschen musste. Flehentlich.
Mich vergnügte das nicht. Ich erinnere mich noch an lange, heckenrosenbegleitete Wege, die ich entlangstapfte und mir dabei wünschte, eine der Spinnen in den Sträuchern zu sein und Spinnennetze machen zu können, statt dem bangen Schicksal als Märtyrerbraut Christi entgegenzugehen.
Die Notwendigkeit, in die Schule gehen zu müssen, entfernte mich aus dieser Welt. Dass sich dann, viel später, die tief verborgene Aufforderung zur Selbstzerstörung in Rilke-Gedichten dahin ausgewirkt hat, dass ich fürchterlich kitschige Gedichte an »Meinen Bruder Tod« schrieb, lässt sich als weitere Folge der damaligen Einflüsterungen sehen. Ja direkt darauf zurückführen. Rilke wurde ja auch schon aus den gleichen Quellen beeinflusst.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
... weniger
Autoren-Porträt von Marlene Streeruwitz
Marlene Streeruwitz, in Baden bei Wien geboren, studierte Slawistik und Kunstgeschichte und begann als Regisseurin und Autorin von Theaterstücken und Hörspielen. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter zuletzt den Bremer Literaturpreis und den Preis der Literaturhäuser. Ihr Roman »Die Schmerzmacherin.« stand 2011 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschienen der Roman »Flammenwand.« (Longlist Deutscher Buchpreis 2019), die Breitbach-Poetikvorlesung »Geschlecht. Zahl. Fall.« (2021) sowie der Roman »Tage im Mai.« (2023). Literaturpreise (u.a.):Mara-Cassens-Preis 1996Österreichischer Würdigungsstaatspreis für Literatur 1999Hermann-Hesse-Literaturpreis 2001 (für "Nachwelt")Walter-Hasenclever-Literaturpreis 2002Bremer Literaturpreis 2012Franz-Nabl-Preis 2015Preis der Literaturhäuser 2020Wiener Buchpreis 2023
Bibliographische Angaben
- Autor: Marlene Streeruwitz
- 2014, 1. Auflage, 256 Seiten, Maße: 12,3 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596196213
- ISBN-13: 9783596196210
- Erscheinungsdatum: 22.01.2014
Kommentar zu "Poetik"
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Poetik".
Kommentar verfassen