Neumond / Otto Morell Bd.3
Kriminalroman
Im dichten Schneetreiben von St. Gröben sucht Chefinspektor Otto Morell ein Phantom.
Der dritte Fall für Chefinspektor Otto Morell
Dunkel ist es in einer Neumondnacht und gefährlich. Der kleine Patrick ist fest davon überzeugt, dass in dieser Nacht ein...
Der dritte Fall für Chefinspektor Otto Morell
Dunkel ist es in einer Neumondnacht und gefährlich. Der kleine Patrick ist fest davon überzeugt, dass in dieser Nacht ein...
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Produktinformationen zu „Neumond / Otto Morell Bd.3 “
Klappentext zu „Neumond / Otto Morell Bd.3 “
Im dichten Schneetreiben von St. Gröben sucht Chefinspektor Otto Morell ein Phantom.Der dritte Fall für Chefinspektor Otto Morell
Dunkel ist es in einer Neumondnacht und gefährlich. Der kleine Patrick ist fest davon überzeugt, dass in dieser Nacht ein böser Tatzelwurm an seinem Fenster vorbeigeschlichen ist. Doch am nächsten Morgen findet man in der Selbstmörderschlucht keinen Wurm, sondern eine Leiche. Für Chefinspektor Otto Morell eine perfekte Ausrede, um nicht Skifahren zu müssen. Als kurz darauf ein Skelett in einer Höhle gefunden wird, stellen sich jedoch plötzlich ganz andere Fragen. Ein phantastisch spannender Fall für Chefinspektor Otto Morell in einer wahrlich gruseligen Umgebung.
»Ein exzellentes und kurzweiliges Lesevergnügen...« Focus online
Lese-Probe zu „Neumond / Otto Morell Bd.3 “
Neumondnacht von Daniela Larcher6
Die Fahrt in die Polizeiinspektion dauerte knapp zehn Minuten und führte durch ein Meer von Hotels, Restaurants, Skiverleihen und Sportgeschäften. Es war offensichtlich, dass der gesamte Ort St. Gröben hauptsächlich vom Wintertourismus lebte.
»Wie furchtbar«, murmelte Morell, als er eine Gruppe von Skifahrern sah, die dick vermummt mit ihren schweren Schuhen in Richtung eines Bus-Shuttles stapften und dabei von fallenden Schneeflocken angezuckert wurden.
»Ja das ist es«, stimmte Frau Jäger zu. »Sabine war ein so toller Mensch.« Sie seufzte traurig und stellte den Wagen auf einem freien Parkplatz am Straßenrand ab. »Da drüben ist es.« Sie deutete auf ein kleines, weißgetünchtes Haus, an dessen Fassade der rot-blaue Schriftzug der österreichischen Polizei zu sehen war.
Morell stieg aus und zog instinktiv die Schultern hoch, als ein eisiger Windstoß ihn erfasste. »Brrrrr« schüttelte er sich und beschleunigte seine Schritte. Als er die Tür zur Inspektion öffnete, kam ihm ein Schwall warmer Luft entgegen, in dem eindeutig der Duft von Kuchen und frisch aufgebrühtem Kaffee hing. Der Chefinspektor gratulierte sich innerlich zu seinem Entschluss, Frau Jägers Bitte nachzukommen, hielt ihr die Tür auf und wandte sich dann an einen jungen, pickeligen Polizisten, der am Empfang saß. »Wir hätten gerne mit Herrn Inspektor Danzer gesprochen«, sagte er.
»Und wen soll ich melden?«
Morell zog seine Dienstmarke hervor und zeigte sie dem Polizisten. »Mein Name ist Otto Morell - es geht sozusagen um ein Gespräch unter Kollegen.«
... mehr
Der junge Mann starrte den Chefinspektor mit großen Augen an, nickte stumm und griff zum Telefon. Nach einem kurzen Gespräch stand er auf. »Ein echter Chefinspektor, na das ist ja mal was. Darf ich fragen, was Sie zu uns führt? Und werden Sie länger in St. Gröben bleiben? Und wenn ja, haben Sie schon eine Unterkunft? Weil wenn nicht, dann könnte ich Ihnen einige Hotels empfehlen. Und werden Sie zum berühmten Nachtrodeln hier sein? Wenn Sie wollen, dann kann ich ...« Er wurde durch das Läuten des Telefons unterbrochen. »Ja ... Tschuldigung ...«, sagte er kleinlaut und zeigte dann auf eine Tür. »Sie sollen bitte reinkommen.«
»Oliver ist und bleibt eine unverbesserliche Plaudertasche. Ich hoffe, er hat Sie nicht zu sehr in Beschlag genommen.« Inspektor Danzer erhob sich, als die Tür aufging und streckte Morell lächelnd seine Hand entgegen. Als er jedoch sah, dass der massige Chefinspektor Beate Jäger im Schlepptau hatte, verdüsterte sich seine Miene. Er ließ die Hand sinken und setzte sich wieder hin. »Frau Jäger«, sagte er und lehnte sich zurück. »Wir haben das doch alles bereits besprochen.«
»Ja, schon, ich dachte nur vier Augen sehen mehr als zwei und darum ...«
»Und darum schleppen Sie mir einen wildfremden Kollegen an, der in meinem Fall herumschnüffeln und meine Autorität untergraben soll?«, unterbrach Danzer sie harsch.
Morell hob beschwichtigend die Hände in die Höhe und wandte sich an Frau Jäger. »Warum lassen Sie uns nicht kurz allein?«, schlug er vor. »Ich mach das schon«, fügte er leise hinzu, als er ihren irritierten Blick sah. »Am besten, Sie fahren nach Hause, und ich melde mich dann später bei Ihnen.« Sanft schob er sie in den Flur und schloss die Tür.
»Bitte«, sagte er, als er sich wieder zu Danzer umdrehte. »Sie dürfen keinen falschen Eindruck kriegen - ich bin nicht hier, um meine Nase in Sachen zu stecken, die mich nichts angehen und schon gar nicht, um Ihre Kompetenz anzuzweifeln.«
»Sondern?« Danzer deutete auf einen Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand.
Morell setzte sich und ließ seinen Blick durch den Raum wandern. Er mochte, was er sah, denn das Büro war gemütlich eingerichtet und versprühte eine lauschige Atmosphäre: Es gab zwei große, gepflegte Topfpflanzen, bunte Bilder an den Wänden, und auf Danzers Schreibtisch stand eine ganze Reihe von Familienfotos. Zudem war es heimelig warm und roch gut nach Kaffee und Kuchen. »Ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein - der Fall Sabine Weigl interessiert mich absolut nicht. Ich bin froh, wenn ich nichts mit toten Menschen zu tun haben muss.«
Die Freundlichkeit kehrte zurück ins Danzers Gesicht. Er lehnte sich zurück, strich über seinen Schnurrbart und musterte seinen Landauer Kollegen. »Da sind wir dann schon zwei. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee oder einen Tee?«
»Tee wäre fein.«
»Dazu ein Stück Kuchen?«
»Da sage ich nicht Nein.« Morell lächelte zufrieden in sich hinein - hier ließ es sich aushalten.
Danzer nahm das Telefon und drückte auf eine Kurzwahltaste. »Oliver, sei so gut und bring unserem Gast eine Tasse Tee und einen Teller. Ich hätte gerne noch einen Kaffee.« Er legte auf. »Was führt Sie dann zu mir?«
»Um ehrlich zu sein, wollte ich mich einfach nur vor dem Ski- fahren drücken. Meine Freunde sind total begeistert davon und haben mir einen Urlaub hier in St. Gröben spendiert, aber ich kann Wintersport leider absolut nichts abgewinnen - da kam mir Frau Jägers Anliegen natürlich ganz gelegen, und ich konnte nicht widerstehen. «
Danzer brach in schallendes Gelächter aus. »Na, Sie sind mir ja einer.« Er tätschelte seinen Bauch, der sich kugelförmig unter seinem Hemd abzeichnete, und grinste. »Ich persönlich kann mit diesem ganzen Sport- und Fitnesskram auch nichts anfangen. Ich bin eher der gemütliche Typ, den man mit einem guten Essen und einer Flasche Wein glücklich machen kann - a pro pos ...« Er schnappte sich das Telefon und drückte auf eine Kurzwahltaste. »Oliver, wo bleibt denn nur der Kaffee? Mahlst du etwa wieder jede Bohne einzeln?« Er wandte sich an Morell. »Der Junge ist manchmal nicht wirklich der allerschnellste - aber er ist das Patenkind meiner Frau, ich kann ihn also nicht ersetzen.« Er zuckte mit den Schultern.
Kurze Zeit später kam Oliver mit dem Gewünschten herein. Als er wieder draußen war, griff Danzer unter seinen Schreibtisch, zog eine Platte mit Kuchen, hervor und hievte ein Stück davon auf Morells Teller. »Marillen-Streusel-Kuchen.«
Morell griff nach einer Gabel und ließ sich ein Stück des Kuchens auf der Zunge zergehen. »Mmm«, ließ er anerkennend verlauten. »Der ist ja lecker.«
»Den hat meine Frau selbstgemacht. Ich gestehe, ich kann nicht genug davon kriegen.« Er tätschelte seinen Medizinballbauch. »Bald werde ich meine Uniform sprengen.«
Morell deutete auf seinen eigenen Bauch, um Danzer zu zeigen, dass er genau wusste, wovon dieser sprach. »Willkommen im Club.« Er nahm einen Schluck Tee und lehnte sich zurück.
»Oliver hat gemeint, Sie seien Chefinspektor?«
Morell bejahte.
Danzer pfiff durch die Zähne. »Nicht schlecht. Und in welcher Stadt sind Sie tätig?«
Morell verschränkte die Arme vor seinem Körper. »Ich war erst bei der Kripo in Wien und habe mir eingebildet, ich müsse Karriere machen. Irgendwann hatte ich dann aber die ganze Gewalt satt und bin zurück in meinen Heimatort Landau gezogen.« Er schob sich ein weiteres Stück Kuchen in den Mund. »Ich bin ganz happy mit all den gestohlenen Blumentöpfen und entlaufenen Hunden, um die ich mich kümmern muss.«
»Bei mir sind's gestohlene Skier und betrunkene Randalierer - ich sag nur Après-Ski.«
Morell nickte wissend. »Ich weiß, was Sie meinen, gibt's bei uns auch. Warum kennen nur so viele Leute beim Trinken ihre Grenzen nicht? Mir graust es jedes Jahr aufs Neue vor dem Dorffest.«
Danzer nahm einen Schluck Kaffee, öffnete eine Schublade und holte eine Akte heraus. »Hier!« Er legte die Papiere vor Morell auf den Tisch.
»Sabine Weigl?«
»Genau. Sie sollten sich vielleicht einen kurzen Überblick verschaffen, damit Sie nachher Frau Jäger und Ihren Freunden Rede und Antwort stehen können, falls die wissen wollen, was wir zwei so besprochen haben. Ich wette, dass die nämlich nicht gerne hören werden, dass wir bei Kaffee und Kuchen ein feines Pläuschchen gehalten haben. Lernen Sie also wenigstens die Eckdaten auswendig, damit Sie was zu erzählen haben.«
Morell schmunzelte. »Gute Idee.« Er öffnete die Mappe und überflog deren Inhalt: Ein paar Fotos vom Fundort, ein Bericht des Leichenbeschauarztes, der Totenschein, eine Kopie des Abschiedsbriefs und die Aussagen von Familie und Kollegen.
»Und? Schaut das in Ihren Augen etwa nach einem Mord aus?« Danzer gab noch eine Runde Kuchen aus. »Rita kocht nicht besonders gut, aber backen kann sie wie ein Weltmeister.«
»Der Abschiedsbrief ist vielleicht etwas kurz und unpersönlich, und es wundert mich ein bisschen, dass diese Weigl sich in eine Schlucht gestürzt hat - sie hatte als Krankenschwester doch Zugriff auf Medikamente. Warum hat sie denn nicht einfach eine Überdosis genommen? Das wäre doch viel typischer für eine Frau.« Morell machte sich über das neue Kuchenstück her.
»Frau Weigl wird schon ihre Gründe gehabt haben. Dem Arzt ist jedenfalls nichts aufgefallen, das auf Fremdverschulden hinweist. «
Morell wusste, dass unerfahrene Ärzte einen Toten meist nicht sehr genau untersuchten, wenn die Todesursache offensichtlich erschien - zu gut erinnerte er sich an den Fall eines 85jährigen herzkranken Mannes, dessen Hausarzt im Totenschein einen natürlichen Tod durch Herzversagen eingetragen hatte. Der Bestatter, der den Leichnam waschen wollte, war daher ziemlich überrascht, als er im Rücken mehrere Stichwunden fand ... Morell beschloss, nichts darüber zu sagen - Danzer schien ein anständiger Kerl zu sein, der schon wusste, was er tat. Zudem sprach nichts gegen einen Selbstmord. Zugegeben - es gab da ein paar klitzekleine offene Fragen, aber es war nichts da, das laut MORD schrie.
Die beiden Polizisten plauderten noch eine Weile über den Umgang mit Betrunkenen, Kuchen und Zimmerpflanzen, als Danzer plötzlich mitten im Satz innehielt. »Mir ist da gerade etwas eingefallen «, sagte er und fuchtelte mit dem Zeigefinger in der Luft herum. »Ich habe seit ein paar Wochen ein kleines Problem - vielleicht können Sie mir damit weiterhelfen, wenn Sie schon mal hier sind.« Er stand auf, verließ den Raum und kam kurz darauf mit einem Karton wieder zurück.
»Da bin ich ja mal gespannt.« Morell kratzte die letzten Brösel auf seinem Teller zusammen, schob sie sich in den Mund und räumte dann den Teller samt Tasse beiseite.
Danzer stellte die Kiste auf dem Schreibtisch ab und hob den Deckel. Morell beugte sich vor, schaute hinein und schreckte zurück. Aus dem Inneren des Kartons starrte ihn ein augenloser, dreckig-brauner Schädel an, der auf ein paar zerschlissenen, alten Knochen lag.
»Was ist das?!«
»Ein menschliches Skelett«, stellte Danzer so unaufgeregt fest, als wäre es das normalste der Welt, Kisten voller Knochen herumstehen zu haben.
»Das ist schon klar, aber von wem? Und warum liegt es in dieser Bananen-Kiste?«
»Wir hatten gerade nichts anderes zur Hand - die einzige Alternative wäre ein Wurstkarton gewesen. Und von wem? Das ist ja das Problem - ich weiß es nicht. Ein paar Teenager haben unseren Freund hier vor ein paar Tagen in einem alten, vergessenen Bunker im Wald gefunden.« Danzer lachte kurz auf. »Die drei neunmalklugen Typen dachten, sie wären superschlau und hätten das perfekte Versteck zum Kiffen gefunden - ich hätte zu gern ihre Gesichter gesehen, als sie merkten, dass sie nicht ganz allein dort unten sind.«
Morell schob den Karton sachte von sich weg - Tote, egal ob mit oder ohne Fleisch daran, verschafften ihm eine Gänsehaut.
»Die Knochen stammen sicher von irgendeinem Wehrmachtsoldaten, der in dem Bunker gestorben ist.« Danzer, der Morells Unbehagen bemerkt hatte, packte den Deckel zurück auf die Kiste und stellte sie auf den Fußboden. »Ich weiß nicht, wem ich den Fund melden soll. Der Staatsanwaltschaft? Oder der Gerichtsmedizin? Und wie wird das mit einer Bestattung gehandhabt?«
»Sie haben also in den letzten Tagen noch gar nichts unternommen? «
»Ich war total mit gestohlenen Skiern und einem Autounfall beschäftigt und bin darum noch nicht dazu gekommen, mich um Mr Chiquita zu kümmern.« Danzer juckte sich an der Nase. »Und außerdem ist der Typ seit mehr als 60 Jahren tot, da machen ein paar Tage mehr oder weniger auch nichts mehr aus. Wenn da ...« Er beendete den Satz nicht, sondern durchsuchte einen Stapel mit Papieren.
»Wenn da ...?«, fragte Morell.
»Wenn da nicht die Presse wäre.« Danzer reichte Morell die aktuelle Ausgabe des St. Gröbner Kuriers. »Die haben irgendwie Wind von dem Fund bekommen - wahrscheinlich von den Teenagern - und heute einen Artikel darüber gebracht. Jetzt wollen sie unbedingt eine Stellungnahme, und ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll.«
Morell gab ihm die Zeitung wieder zurück. »Mit Skelettfunden aus dem Krieg habe ich leider keine Erfahrung, aber eine liebe Freundin von mir ist Gerichtsmedizinerin in Wien - vielleicht kann sie uns weiterhelfen.« Morell holte sein Handy aus der Jackentasche und wählte Ninas Nummer.
»Hallo Otto«, meldete sie sich. »Ich sitze noch im Auto, bin aber gleich da. Was gibt's denn?«
»Hast du zufällig eine Ahnung, was man mit Knochen aus dem Zweiten Weltkrieg anstellt?«
»Mit Knochen? Aus dem Zweiten Weltkrieg? Was um alles in der Welt tust du gerade? Ich dachte, ihr seid Skifahren.«
»Nicht ganz. Leander und Valerie fahren Ski, aber ich sitze gerade mit einem netten Kollegen und einer Kiste voller Knochen in der St. Gröbner Polizeiinspektion und rätsle, was damit zu tun ist.«
»Also, ich frage jetzt mal lieber nicht weiter nach, warum du nicht auf der Piste bist - die sterblichen Überreste eures Soldaten gehören jedenfalls in die Gerichtsmedizin.«
»Aha. Was will man dort denn noch feststellen? Na, egal, du bist die Expertin. Kannst du mir die Nummer deiner Kollegen in Innsbruck geben?«
»Die habe ich leider nicht im Kopf, aber weißt du was? Ich bin in einer halben Stunde in St. Gröben, dann kümmere ich mich selbst darum. Ich gehe mal davon aus, dass die Polizeiinspektion nicht schwer zu finden sein wird.«
Morell bedankte und verabschiedete sich und wandte sich dann an Danzer. »Sie kommt in ungefähr einer halben Stunde her und wird sich darum kümmern.«
»Wunderbar«, strahlte Danzer. »Dann habe ich ja jetzt eine Sorge weniger.« Er tätschelte die Kiste und griff zum Telefon. »Oliver? Wir hätten gerne noch etwas zu trinken.«
Knapp dreißig Minuten später stand Nina Capelli in der St. Gröbner Polizeiinspektion. »Wo sind denn nun die Knochen?«, fragte sie, nachdem sie die beiden Polizisten begrüßt und ihren dicken Anorak ausgezogen hatte. Sie strubbelte sich ein paar Schneeflocken aus ihrem brünetten Pagenkopf und nahm ihre Hornbrille ab, die sich durch die Wärme in der Inspektion beschlagen hatte. »Da habt ihr aber gut eingeheizt«, stellte sie fest und wischte die Brillengläser mit dem Ärmel ihres Pullovers ab.
»Unser Freund ist gleich hier. Können Sie die Untersuchung jetzt sofort durchführen?« Danzer griff nach der Schachtel und stellte sie wieder auf den Tisch.
»Nein, das leider nicht - die Knochen gehören nach Innsbruck in die Gerichtsmedizin, wo sich dann einer meiner Kollegen darum kümmern wird. Ich bin einfach nur neugierig. Darf ich?« Nina deutete auf den Karton.
»Bitte, tun Sie sich keinen Zwang an.« Danzer hob den Deckel hoch. »Werden sich Ihre Kollegen dann später auch um die Beerdigung oder Lagerung oder was auch immer mit den Knochen zu tun ist kümmern? Oder kommt das Skelett nach der Untersuchung wieder zu mir zurück?«
»Das kommt auf den Befund an.« Nina hob den Schädel behutsam aus der Kiste und begutachtete ihn vorsichtig von allen Seiten. »Komisch«, murmelte sie, legte ihn auf den Schreibtisch und begann, die anderen Knochen nach und nach aus der Kiste zu nehmen und daneben zu legen.
Morell schielte angewidert auf die dreckigbraunen Knochen, die einer nach dem anderen direkt neben seinem Kuchenteller landeten. »Muss das sein?«
Nina nickte abwesend. »Irgendetwas stimmt hier nicht«, murmelte sie. »Wie seid ihr nochmal auf die Idee gekommen, dass es sich bei diesem Skelett um die Überreste eines Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg handelt?«
»Es wurde in einem alten Bunker im Wald entdeckt.« Danzer rettete die beiden Kuchenteller vor Ninas Arbeitseifer und parkte sie, weit weg von Dreck und Knochenstaub, auf dem Fensterbrett.
Nina hatte anscheinend gefunden, wonach sie gesucht hatte, denn sie hörte auf, Knochen auszupacken. Stattdessen hielt sie nun ein herzförmiges Knochenstück gegen das Licht und studierte es mit zusammengekniffenen Augen.
»Was stimmt nicht damit?« Danzer war ganz hibbelig geworden. Er stand auf und starrte auf das Ding in Ninas Hand.
»Tja.« Nina stemmte die Hände in die Hüften und sah die beiden Polizisten tadelnd an. »Es wird euch nicht gefallen, aber euer Freund ist in Wirklichkeit eine Freundin.«
»Eine Frau?« Danzer ließ sich wieder zurück in seinen Sessel fallen und starrte die Gerichtsmedizinerin mit großen Augen an. »Sind Sie sicher?«
Nina nahm zwei schaufelförmige Knochen und hielt sie an das herzförmige Stück. »Ich bin natürlich keine forensische Anthropologin, aber dieses Becken ist definitiv weiblich. Seine Form ist kurz und breit, und der Schambeinwinkel ist weit und U-förmig. Bei einem Mann wäre das Becken hoch und eng, und der Schambeinwinkel wäre schmal und V-förmig.«
Danzer wollte Ninas Ausführungen offenbar nicht wahrhaben. Er schüttelte ungläubig den Kopf und murmelte leise vor sich hin: »Nein, das kann doch nicht sein.«
»Doch, doch es kann«, entgegnete Nina und griff zur Untermauerung ihrer Worte nach dem Schädel. »Hier ist es auch gut zu erkennen. Die Stirn ist steil mit flachen Überaugenwülsten, die Kieferwinkel sind glatt, und die Augenhöhlen sind rund mit scharfen Rändern - das ist typisch weiblich.«
Danzer war offensichtlich nicht sehr angetan von diesen Erkenntnissen. »Mist, und ich dachte schon, ich hätte das Teil vom Tisch«, raunzte er. »Aber wie es aussieht, muss ich jetzt doch Ermittlungen deswegen einleiten.«
»Ganz sicher sogar.« Nina hielt Danzer den Unterkiefer vor die Nase. »Ich glaube nicht, dass die Frau im Krieg gestorben ist, denn sie kann gar nicht 60 Jahre oder länger tot sein. In einem ihrer Zähne befindet sich nämlich eine Kompositfüllung, und die gibt es erst seit den 70er Jahren.«
»Verdammt. Das hätte mir auffallen können.« Danzer war seine Fehleinschätzung sichtlich peinlich.
»Und sehen Sie das?« Nina zeigte auf feine Risslinien am Schädel, die sich wie ein Spinnennetz über den Knochen zogen. »Das ist ein Globusbruch, entstanden durch direkte, stumpfe Gewalteinwirkung. Da die Schmutzablagerungen in den Rissen genauso ausgeprägt sind wie die auf dem Knochen selbst, kann man davon ausgehen, dass die Verletzung prae oder peri mortem entstanden ist. Kurz: Sie wurde wahrscheinlich erschlagen.«
»O nein.« Danzer massierte mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel. »Sie meinen, ich habe hier ein weibliches Mordopfer?« Er vergrub das Gesicht in den Händen. »Was mache ich denn jetzt?«
»Als erstes schauen Sie die Vermisstenmeldungen durch«, half Morell seinem offensichtlich völlig hilflosen Kollegen auf die Sprünge. »Sie müssen die Identität des Opfers kennen, damit Sie wissen, wo Sie mit den Ermittlungen ansetzen können.«
Danzer seufzte. »Und mir nichts, dir nichts habe ich meine erste Mordermittlung am Hals.« Er schaute Morell an. »Sie haben nicht zufällig Lust, mir ein bisschen zur Seite zu stehen? Ich habe wirklich keine Ahnung, wie ich das angehen soll.«
Morell lächelte - was hatte er gestern früh zu Bender gesagt? Lieber würde er an einem Mordfall arbeiten als Wintersport zu betreiben - es schien fast so, als wären seine Gebete erhört worden. Bei Danzer war es warm, gemütlich, und seine Frau backte tollen Kuchen. »Aber natürlich«, sagte er wohlwollend. »Ich werde Ihnen gerne ein wenig zur Hand gehen, solange ich in St. Gröben bin.«
Nina starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. »Aber was ist mit dem Skifahren? Hast du dich denn nicht auch so sehr darauf gefreut? «
Morell kratzte sich am Kopf. »Natürlich, aber ich kann einen Kollegen doch nicht einfach so hängen lassen.«
Die Gerichtsmedizinerin überlegte kurz und seufzte dann. »Und ich werde dich nicht hängenlassen. Für heute lohnt es sich für mich eh nicht mehr einen Skipass zu kaufen - ich werde euch bei der Identifizierung unterstützen. Gemeinsam können wir vielleicht heute so viel schaffen, dass Herr Danzer ab morgen alleine weitermachen kann. Dann kannst du deinen Skiurlaub doch noch genießen.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und warf Danzer einen missbilligenden Blick zu.
Morell setzte ein gequältes Lächeln auf. »Schaun wir mal.«
»Dann gehen wir's doch gleich an.« Nina klatschte in die Hände.
Danzer, der die beiden mit großen Augen beobachtet hatte, grinste von einem Ohr zum anderen. Dieser Morell war ein Geschenk des Himmels! Wenn jeder unangenehme Fall gleich einen kostenlosen, kompetenten Ermittler mit sich bringen würde, wäre sein Arbeitsleben perfekt. »Frau Capelli, ich werde Ihnen im Archiv etwas Platz machen, damit Sie sich dort in Ruhe mit den Knochen beschäftigen können. Und Sie, Herr Morell, können sich von Oliver draußen alle wichtigen Unterlagen bezüglich des Skelettfundes kopieren lassen. Ich werde mich in der Zwischenzeit um ein bisschen Papierkram kümmern.« Er schielte auf seine Zeitung und grinste wieder.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Der junge Mann starrte den Chefinspektor mit großen Augen an, nickte stumm und griff zum Telefon. Nach einem kurzen Gespräch stand er auf. »Ein echter Chefinspektor, na das ist ja mal was. Darf ich fragen, was Sie zu uns führt? Und werden Sie länger in St. Gröben bleiben? Und wenn ja, haben Sie schon eine Unterkunft? Weil wenn nicht, dann könnte ich Ihnen einige Hotels empfehlen. Und werden Sie zum berühmten Nachtrodeln hier sein? Wenn Sie wollen, dann kann ich ...« Er wurde durch das Läuten des Telefons unterbrochen. »Ja ... Tschuldigung ...«, sagte er kleinlaut und zeigte dann auf eine Tür. »Sie sollen bitte reinkommen.«
»Oliver ist und bleibt eine unverbesserliche Plaudertasche. Ich hoffe, er hat Sie nicht zu sehr in Beschlag genommen.« Inspektor Danzer erhob sich, als die Tür aufging und streckte Morell lächelnd seine Hand entgegen. Als er jedoch sah, dass der massige Chefinspektor Beate Jäger im Schlepptau hatte, verdüsterte sich seine Miene. Er ließ die Hand sinken und setzte sich wieder hin. »Frau Jäger«, sagte er und lehnte sich zurück. »Wir haben das doch alles bereits besprochen.«
»Ja, schon, ich dachte nur vier Augen sehen mehr als zwei und darum ...«
»Und darum schleppen Sie mir einen wildfremden Kollegen an, der in meinem Fall herumschnüffeln und meine Autorität untergraben soll?«, unterbrach Danzer sie harsch.
Morell hob beschwichtigend die Hände in die Höhe und wandte sich an Frau Jäger. »Warum lassen Sie uns nicht kurz allein?«, schlug er vor. »Ich mach das schon«, fügte er leise hinzu, als er ihren irritierten Blick sah. »Am besten, Sie fahren nach Hause, und ich melde mich dann später bei Ihnen.« Sanft schob er sie in den Flur und schloss die Tür.
»Bitte«, sagte er, als er sich wieder zu Danzer umdrehte. »Sie dürfen keinen falschen Eindruck kriegen - ich bin nicht hier, um meine Nase in Sachen zu stecken, die mich nichts angehen und schon gar nicht, um Ihre Kompetenz anzuzweifeln.«
»Sondern?« Danzer deutete auf einen Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand.
Morell setzte sich und ließ seinen Blick durch den Raum wandern. Er mochte, was er sah, denn das Büro war gemütlich eingerichtet und versprühte eine lauschige Atmosphäre: Es gab zwei große, gepflegte Topfpflanzen, bunte Bilder an den Wänden, und auf Danzers Schreibtisch stand eine ganze Reihe von Familienfotos. Zudem war es heimelig warm und roch gut nach Kaffee und Kuchen. »Ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein - der Fall Sabine Weigl interessiert mich absolut nicht. Ich bin froh, wenn ich nichts mit toten Menschen zu tun haben muss.«
Die Freundlichkeit kehrte zurück ins Danzers Gesicht. Er lehnte sich zurück, strich über seinen Schnurrbart und musterte seinen Landauer Kollegen. »Da sind wir dann schon zwei. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee oder einen Tee?«
»Tee wäre fein.«
»Dazu ein Stück Kuchen?«
»Da sage ich nicht Nein.« Morell lächelte zufrieden in sich hinein - hier ließ es sich aushalten.
Danzer nahm das Telefon und drückte auf eine Kurzwahltaste. »Oliver, sei so gut und bring unserem Gast eine Tasse Tee und einen Teller. Ich hätte gerne noch einen Kaffee.« Er legte auf. »Was führt Sie dann zu mir?«
»Um ehrlich zu sein, wollte ich mich einfach nur vor dem Ski- fahren drücken. Meine Freunde sind total begeistert davon und haben mir einen Urlaub hier in St. Gröben spendiert, aber ich kann Wintersport leider absolut nichts abgewinnen - da kam mir Frau Jägers Anliegen natürlich ganz gelegen, und ich konnte nicht widerstehen. «
Danzer brach in schallendes Gelächter aus. »Na, Sie sind mir ja einer.« Er tätschelte seinen Bauch, der sich kugelförmig unter seinem Hemd abzeichnete, und grinste. »Ich persönlich kann mit diesem ganzen Sport- und Fitnesskram auch nichts anfangen. Ich bin eher der gemütliche Typ, den man mit einem guten Essen und einer Flasche Wein glücklich machen kann - a pro pos ...« Er schnappte sich das Telefon und drückte auf eine Kurzwahltaste. »Oliver, wo bleibt denn nur der Kaffee? Mahlst du etwa wieder jede Bohne einzeln?« Er wandte sich an Morell. »Der Junge ist manchmal nicht wirklich der allerschnellste - aber er ist das Patenkind meiner Frau, ich kann ihn also nicht ersetzen.« Er zuckte mit den Schultern.
Kurze Zeit später kam Oliver mit dem Gewünschten herein. Als er wieder draußen war, griff Danzer unter seinen Schreibtisch, zog eine Platte mit Kuchen, hervor und hievte ein Stück davon auf Morells Teller. »Marillen-Streusel-Kuchen.«
Morell griff nach einer Gabel und ließ sich ein Stück des Kuchens auf der Zunge zergehen. »Mmm«, ließ er anerkennend verlauten. »Der ist ja lecker.«
»Den hat meine Frau selbstgemacht. Ich gestehe, ich kann nicht genug davon kriegen.« Er tätschelte seinen Medizinballbauch. »Bald werde ich meine Uniform sprengen.«
Morell deutete auf seinen eigenen Bauch, um Danzer zu zeigen, dass er genau wusste, wovon dieser sprach. »Willkommen im Club.« Er nahm einen Schluck Tee und lehnte sich zurück.
»Oliver hat gemeint, Sie seien Chefinspektor?«
Morell bejahte.
Danzer pfiff durch die Zähne. »Nicht schlecht. Und in welcher Stadt sind Sie tätig?«
Morell verschränkte die Arme vor seinem Körper. »Ich war erst bei der Kripo in Wien und habe mir eingebildet, ich müsse Karriere machen. Irgendwann hatte ich dann aber die ganze Gewalt satt und bin zurück in meinen Heimatort Landau gezogen.« Er schob sich ein weiteres Stück Kuchen in den Mund. »Ich bin ganz happy mit all den gestohlenen Blumentöpfen und entlaufenen Hunden, um die ich mich kümmern muss.«
»Bei mir sind's gestohlene Skier und betrunkene Randalierer - ich sag nur Après-Ski.«
Morell nickte wissend. »Ich weiß, was Sie meinen, gibt's bei uns auch. Warum kennen nur so viele Leute beim Trinken ihre Grenzen nicht? Mir graust es jedes Jahr aufs Neue vor dem Dorffest.«
Danzer nahm einen Schluck Kaffee, öffnete eine Schublade und holte eine Akte heraus. »Hier!« Er legte die Papiere vor Morell auf den Tisch.
»Sabine Weigl?«
»Genau. Sie sollten sich vielleicht einen kurzen Überblick verschaffen, damit Sie nachher Frau Jäger und Ihren Freunden Rede und Antwort stehen können, falls die wissen wollen, was wir zwei so besprochen haben. Ich wette, dass die nämlich nicht gerne hören werden, dass wir bei Kaffee und Kuchen ein feines Pläuschchen gehalten haben. Lernen Sie also wenigstens die Eckdaten auswendig, damit Sie was zu erzählen haben.«
Morell schmunzelte. »Gute Idee.« Er öffnete die Mappe und überflog deren Inhalt: Ein paar Fotos vom Fundort, ein Bericht des Leichenbeschauarztes, der Totenschein, eine Kopie des Abschiedsbriefs und die Aussagen von Familie und Kollegen.
»Und? Schaut das in Ihren Augen etwa nach einem Mord aus?« Danzer gab noch eine Runde Kuchen aus. »Rita kocht nicht besonders gut, aber backen kann sie wie ein Weltmeister.«
»Der Abschiedsbrief ist vielleicht etwas kurz und unpersönlich, und es wundert mich ein bisschen, dass diese Weigl sich in eine Schlucht gestürzt hat - sie hatte als Krankenschwester doch Zugriff auf Medikamente. Warum hat sie denn nicht einfach eine Überdosis genommen? Das wäre doch viel typischer für eine Frau.« Morell machte sich über das neue Kuchenstück her.
»Frau Weigl wird schon ihre Gründe gehabt haben. Dem Arzt ist jedenfalls nichts aufgefallen, das auf Fremdverschulden hinweist. «
Morell wusste, dass unerfahrene Ärzte einen Toten meist nicht sehr genau untersuchten, wenn die Todesursache offensichtlich erschien - zu gut erinnerte er sich an den Fall eines 85jährigen herzkranken Mannes, dessen Hausarzt im Totenschein einen natürlichen Tod durch Herzversagen eingetragen hatte. Der Bestatter, der den Leichnam waschen wollte, war daher ziemlich überrascht, als er im Rücken mehrere Stichwunden fand ... Morell beschloss, nichts darüber zu sagen - Danzer schien ein anständiger Kerl zu sein, der schon wusste, was er tat. Zudem sprach nichts gegen einen Selbstmord. Zugegeben - es gab da ein paar klitzekleine offene Fragen, aber es war nichts da, das laut MORD schrie.
Die beiden Polizisten plauderten noch eine Weile über den Umgang mit Betrunkenen, Kuchen und Zimmerpflanzen, als Danzer plötzlich mitten im Satz innehielt. »Mir ist da gerade etwas eingefallen «, sagte er und fuchtelte mit dem Zeigefinger in der Luft herum. »Ich habe seit ein paar Wochen ein kleines Problem - vielleicht können Sie mir damit weiterhelfen, wenn Sie schon mal hier sind.« Er stand auf, verließ den Raum und kam kurz darauf mit einem Karton wieder zurück.
»Da bin ich ja mal gespannt.« Morell kratzte die letzten Brösel auf seinem Teller zusammen, schob sie sich in den Mund und räumte dann den Teller samt Tasse beiseite.
Danzer stellte die Kiste auf dem Schreibtisch ab und hob den Deckel. Morell beugte sich vor, schaute hinein und schreckte zurück. Aus dem Inneren des Kartons starrte ihn ein augenloser, dreckig-brauner Schädel an, der auf ein paar zerschlissenen, alten Knochen lag.
»Was ist das?!«
»Ein menschliches Skelett«, stellte Danzer so unaufgeregt fest, als wäre es das normalste der Welt, Kisten voller Knochen herumstehen zu haben.
»Das ist schon klar, aber von wem? Und warum liegt es in dieser Bananen-Kiste?«
»Wir hatten gerade nichts anderes zur Hand - die einzige Alternative wäre ein Wurstkarton gewesen. Und von wem? Das ist ja das Problem - ich weiß es nicht. Ein paar Teenager haben unseren Freund hier vor ein paar Tagen in einem alten, vergessenen Bunker im Wald gefunden.« Danzer lachte kurz auf. »Die drei neunmalklugen Typen dachten, sie wären superschlau und hätten das perfekte Versteck zum Kiffen gefunden - ich hätte zu gern ihre Gesichter gesehen, als sie merkten, dass sie nicht ganz allein dort unten sind.«
Morell schob den Karton sachte von sich weg - Tote, egal ob mit oder ohne Fleisch daran, verschafften ihm eine Gänsehaut.
»Die Knochen stammen sicher von irgendeinem Wehrmachtsoldaten, der in dem Bunker gestorben ist.« Danzer, der Morells Unbehagen bemerkt hatte, packte den Deckel zurück auf die Kiste und stellte sie auf den Fußboden. »Ich weiß nicht, wem ich den Fund melden soll. Der Staatsanwaltschaft? Oder der Gerichtsmedizin? Und wie wird das mit einer Bestattung gehandhabt?«
»Sie haben also in den letzten Tagen noch gar nichts unternommen? «
»Ich war total mit gestohlenen Skiern und einem Autounfall beschäftigt und bin darum noch nicht dazu gekommen, mich um Mr Chiquita zu kümmern.« Danzer juckte sich an der Nase. »Und außerdem ist der Typ seit mehr als 60 Jahren tot, da machen ein paar Tage mehr oder weniger auch nichts mehr aus. Wenn da ...« Er beendete den Satz nicht, sondern durchsuchte einen Stapel mit Papieren.
»Wenn da ...?«, fragte Morell.
»Wenn da nicht die Presse wäre.« Danzer reichte Morell die aktuelle Ausgabe des St. Gröbner Kuriers. »Die haben irgendwie Wind von dem Fund bekommen - wahrscheinlich von den Teenagern - und heute einen Artikel darüber gebracht. Jetzt wollen sie unbedingt eine Stellungnahme, und ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll.«
Morell gab ihm die Zeitung wieder zurück. »Mit Skelettfunden aus dem Krieg habe ich leider keine Erfahrung, aber eine liebe Freundin von mir ist Gerichtsmedizinerin in Wien - vielleicht kann sie uns weiterhelfen.« Morell holte sein Handy aus der Jackentasche und wählte Ninas Nummer.
»Hallo Otto«, meldete sie sich. »Ich sitze noch im Auto, bin aber gleich da. Was gibt's denn?«
»Hast du zufällig eine Ahnung, was man mit Knochen aus dem Zweiten Weltkrieg anstellt?«
»Mit Knochen? Aus dem Zweiten Weltkrieg? Was um alles in der Welt tust du gerade? Ich dachte, ihr seid Skifahren.«
»Nicht ganz. Leander und Valerie fahren Ski, aber ich sitze gerade mit einem netten Kollegen und einer Kiste voller Knochen in der St. Gröbner Polizeiinspektion und rätsle, was damit zu tun ist.«
»Also, ich frage jetzt mal lieber nicht weiter nach, warum du nicht auf der Piste bist - die sterblichen Überreste eures Soldaten gehören jedenfalls in die Gerichtsmedizin.«
»Aha. Was will man dort denn noch feststellen? Na, egal, du bist die Expertin. Kannst du mir die Nummer deiner Kollegen in Innsbruck geben?«
»Die habe ich leider nicht im Kopf, aber weißt du was? Ich bin in einer halben Stunde in St. Gröben, dann kümmere ich mich selbst darum. Ich gehe mal davon aus, dass die Polizeiinspektion nicht schwer zu finden sein wird.«
Morell bedankte und verabschiedete sich und wandte sich dann an Danzer. »Sie kommt in ungefähr einer halben Stunde her und wird sich darum kümmern.«
»Wunderbar«, strahlte Danzer. »Dann habe ich ja jetzt eine Sorge weniger.« Er tätschelte die Kiste und griff zum Telefon. »Oliver? Wir hätten gerne noch etwas zu trinken.«
Knapp dreißig Minuten später stand Nina Capelli in der St. Gröbner Polizeiinspektion. »Wo sind denn nun die Knochen?«, fragte sie, nachdem sie die beiden Polizisten begrüßt und ihren dicken Anorak ausgezogen hatte. Sie strubbelte sich ein paar Schneeflocken aus ihrem brünetten Pagenkopf und nahm ihre Hornbrille ab, die sich durch die Wärme in der Inspektion beschlagen hatte. »Da habt ihr aber gut eingeheizt«, stellte sie fest und wischte die Brillengläser mit dem Ärmel ihres Pullovers ab.
»Unser Freund ist gleich hier. Können Sie die Untersuchung jetzt sofort durchführen?« Danzer griff nach der Schachtel und stellte sie wieder auf den Tisch.
»Nein, das leider nicht - die Knochen gehören nach Innsbruck in die Gerichtsmedizin, wo sich dann einer meiner Kollegen darum kümmern wird. Ich bin einfach nur neugierig. Darf ich?« Nina deutete auf den Karton.
»Bitte, tun Sie sich keinen Zwang an.« Danzer hob den Deckel hoch. »Werden sich Ihre Kollegen dann später auch um die Beerdigung oder Lagerung oder was auch immer mit den Knochen zu tun ist kümmern? Oder kommt das Skelett nach der Untersuchung wieder zu mir zurück?«
»Das kommt auf den Befund an.« Nina hob den Schädel behutsam aus der Kiste und begutachtete ihn vorsichtig von allen Seiten. »Komisch«, murmelte sie, legte ihn auf den Schreibtisch und begann, die anderen Knochen nach und nach aus der Kiste zu nehmen und daneben zu legen.
Morell schielte angewidert auf die dreckigbraunen Knochen, die einer nach dem anderen direkt neben seinem Kuchenteller landeten. »Muss das sein?«
Nina nickte abwesend. »Irgendetwas stimmt hier nicht«, murmelte sie. »Wie seid ihr nochmal auf die Idee gekommen, dass es sich bei diesem Skelett um die Überreste eines Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg handelt?«
»Es wurde in einem alten Bunker im Wald entdeckt.« Danzer rettete die beiden Kuchenteller vor Ninas Arbeitseifer und parkte sie, weit weg von Dreck und Knochenstaub, auf dem Fensterbrett.
Nina hatte anscheinend gefunden, wonach sie gesucht hatte, denn sie hörte auf, Knochen auszupacken. Stattdessen hielt sie nun ein herzförmiges Knochenstück gegen das Licht und studierte es mit zusammengekniffenen Augen.
»Was stimmt nicht damit?« Danzer war ganz hibbelig geworden. Er stand auf und starrte auf das Ding in Ninas Hand.
»Tja.« Nina stemmte die Hände in die Hüften und sah die beiden Polizisten tadelnd an. »Es wird euch nicht gefallen, aber euer Freund ist in Wirklichkeit eine Freundin.«
»Eine Frau?« Danzer ließ sich wieder zurück in seinen Sessel fallen und starrte die Gerichtsmedizinerin mit großen Augen an. »Sind Sie sicher?«
Nina nahm zwei schaufelförmige Knochen und hielt sie an das herzförmige Stück. »Ich bin natürlich keine forensische Anthropologin, aber dieses Becken ist definitiv weiblich. Seine Form ist kurz und breit, und der Schambeinwinkel ist weit und U-förmig. Bei einem Mann wäre das Becken hoch und eng, und der Schambeinwinkel wäre schmal und V-förmig.«
Danzer wollte Ninas Ausführungen offenbar nicht wahrhaben. Er schüttelte ungläubig den Kopf und murmelte leise vor sich hin: »Nein, das kann doch nicht sein.«
»Doch, doch es kann«, entgegnete Nina und griff zur Untermauerung ihrer Worte nach dem Schädel. »Hier ist es auch gut zu erkennen. Die Stirn ist steil mit flachen Überaugenwülsten, die Kieferwinkel sind glatt, und die Augenhöhlen sind rund mit scharfen Rändern - das ist typisch weiblich.«
Danzer war offensichtlich nicht sehr angetan von diesen Erkenntnissen. »Mist, und ich dachte schon, ich hätte das Teil vom Tisch«, raunzte er. »Aber wie es aussieht, muss ich jetzt doch Ermittlungen deswegen einleiten.«
»Ganz sicher sogar.« Nina hielt Danzer den Unterkiefer vor die Nase. »Ich glaube nicht, dass die Frau im Krieg gestorben ist, denn sie kann gar nicht 60 Jahre oder länger tot sein. In einem ihrer Zähne befindet sich nämlich eine Kompositfüllung, und die gibt es erst seit den 70er Jahren.«
»Verdammt. Das hätte mir auffallen können.« Danzer war seine Fehleinschätzung sichtlich peinlich.
»Und sehen Sie das?« Nina zeigte auf feine Risslinien am Schädel, die sich wie ein Spinnennetz über den Knochen zogen. »Das ist ein Globusbruch, entstanden durch direkte, stumpfe Gewalteinwirkung. Da die Schmutzablagerungen in den Rissen genauso ausgeprägt sind wie die auf dem Knochen selbst, kann man davon ausgehen, dass die Verletzung prae oder peri mortem entstanden ist. Kurz: Sie wurde wahrscheinlich erschlagen.«
»O nein.« Danzer massierte mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel. »Sie meinen, ich habe hier ein weibliches Mordopfer?« Er vergrub das Gesicht in den Händen. »Was mache ich denn jetzt?«
»Als erstes schauen Sie die Vermisstenmeldungen durch«, half Morell seinem offensichtlich völlig hilflosen Kollegen auf die Sprünge. »Sie müssen die Identität des Opfers kennen, damit Sie wissen, wo Sie mit den Ermittlungen ansetzen können.«
Danzer seufzte. »Und mir nichts, dir nichts habe ich meine erste Mordermittlung am Hals.« Er schaute Morell an. »Sie haben nicht zufällig Lust, mir ein bisschen zur Seite zu stehen? Ich habe wirklich keine Ahnung, wie ich das angehen soll.«
Morell lächelte - was hatte er gestern früh zu Bender gesagt? Lieber würde er an einem Mordfall arbeiten als Wintersport zu betreiben - es schien fast so, als wären seine Gebete erhört worden. Bei Danzer war es warm, gemütlich, und seine Frau backte tollen Kuchen. »Aber natürlich«, sagte er wohlwollend. »Ich werde Ihnen gerne ein wenig zur Hand gehen, solange ich in St. Gröben bin.«
Nina starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. »Aber was ist mit dem Skifahren? Hast du dich denn nicht auch so sehr darauf gefreut? «
Morell kratzte sich am Kopf. »Natürlich, aber ich kann einen Kollegen doch nicht einfach so hängen lassen.«
Die Gerichtsmedizinerin überlegte kurz und seufzte dann. »Und ich werde dich nicht hängenlassen. Für heute lohnt es sich für mich eh nicht mehr einen Skipass zu kaufen - ich werde euch bei der Identifizierung unterstützen. Gemeinsam können wir vielleicht heute so viel schaffen, dass Herr Danzer ab morgen alleine weitermachen kann. Dann kannst du deinen Skiurlaub doch noch genießen.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und warf Danzer einen missbilligenden Blick zu.
Morell setzte ein gequältes Lächeln auf. »Schaun wir mal.«
»Dann gehen wir's doch gleich an.« Nina klatschte in die Hände.
Danzer, der die beiden mit großen Augen beobachtet hatte, grinste von einem Ohr zum anderen. Dieser Morell war ein Geschenk des Himmels! Wenn jeder unangenehme Fall gleich einen kostenlosen, kompetenten Ermittler mit sich bringen würde, wäre sein Arbeitsleben perfekt. »Frau Capelli, ich werde Ihnen im Archiv etwas Platz machen, damit Sie sich dort in Ruhe mit den Knochen beschäftigen können. Und Sie, Herr Morell, können sich von Oliver draußen alle wichtigen Unterlagen bezüglich des Skelettfundes kopieren lassen. Ich werde mich in der Zwischenzeit um ein bisschen Papierkram kümmern.« Er schielte auf seine Zeitung und grinste wieder.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
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Autoren-Porträt von Daniela Larcher
Daniela Larcher wurde in Bregenz geboren. Sie studierte Prozess- und Projektmanagement an der FH Vorarlberg und später dann Archäologie an der Universität Wien. Parallel dazu arbeitete sie in der Werbebranche. Nach einem längeren Aufenthalt in New York lebt sie jetzt wieder in Wien. Im Fischer Taschenbuch Verlag sind bisher dreii Kriminalromane mit Chefinspektor Otto Morell (»Die Zahl«,»Zu Grabe« und »Neumond«) erschienen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Daniela Larcher
- 2013, 1. Auflage, 368 Seiten, Maße: 12,3 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596192226
- ISBN-13: 9783596192229
- Erscheinungsdatum: 11.12.2013
Rezension zu „Neumond / Otto Morell Bd.3 “
Ein Regionalkrimi zum Schmunzeln Kriminetz 20140217
Pressezitat
Ein Regionalkrimi zum Schmunzeln Kriminetz 20140217
Kommentar zu "Neumond / Otto Morell Bd.3"
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