Mein schönes Leben
''Alles aus der Zeit habe ich mir gemerkt, und was ich mir nicht genau gemerkt habe, das habe ich mir ungenau gemerkt.''
Aus seiner Kinderperspektive schildert der kleine Manfred die großen und kleinen Katastrophen des (Nach-)Kriegsalltags. Damals gilt...
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''Alles aus der Zeit habe ich mir gemerkt, und was ich mir nicht genau gemerkt habe, das habe ich mir ungenau gemerkt.''
Aus seiner Kinderperspektive schildert der kleine Manfred die großen und kleinen Katastrophen des (Nach-)Kriegsalltags. Damals gilt auch für ihn, ''dass man die guten Sachen im Leben immer nur träumt, die schlechten sind wirklich passiert''.
Mein schönes Leben von Manfred Krug
LESEPROBE
JungePummel
Berlin-Niederschöneweide, ein Sommertag 1954. Ein paar Dutzend junge Damen undHerren versammeln sich auf dem von Bäumen überschatteten Grundstück, das amUfer der Spree liegt. Es gibt sogar eine hölzerne Schiffsanlegestelle. An derStraße steht das ehemalige Bootshaus, das zur Schauspielschule umgebaut ist,daneben eine aus Trümmersteinen gemauerte Baracke. Dies ist der heilige Ort,hier ist die Probebühne, da will ich hin. Wenn sie mich nicht nehmen, haben sieeinen Fehler gemacht. Dann taugt die Schule nichts. Dann gehe ich in die Welthinaus, denn in ein paar Monaten bin ich volljährig. Wer weiß, was sie sichdamit aufs Gewissen laden.
Manmunkelt, fünfhundert Bewerbungen habe es für diesen Jahrgang gegeben. Dasheißt, die Konkurrenz ist groß; denn die Schule will für das nächste Jahr nichtmehr als dreißig Neulinge aufnehmen.
DieMitbewerber flößen mir keine Furcht ein, sie sehen teils spillrig,teils langweilig aus. In sich selbst vertieft, lungern sie auf dem Hof herum,wandern zwischen Spreeufer und Eingangstor auf und ab, wiederholen ihre Texte,wischen sich die schweißnassen Gesichter. Ich sehe sie mit den Armen rudern undwunderliche Posen einüben.
Was wollendie gegen mich machen? Ich bin groß, aber nicht zu groß; muskulös, aber nichtathletisch; markant, ohne ein Typ zu sein, den man bloß als Mörder oder Komikereinsetzen würde. Die meisten Aspiranten haben schon in Laiengruppen gespieltoder ihr Vater ist
Beleuchterim Theater oder die Mutter Tänzerin.
Und erstdie Frauen. Junge Pummel mit fleischigen Armen sind in der Überzahl. Es istklar, daß in den neuen sozialistischen Filmen vorallem Bäuerinnen und Kranführerinnen vorkommen, eben die Töchter derherrschenden Klasse. Aber wo sind die Frauen, in die man sich verlieben kann?Es muß doch, wenigstens für die klassischenTheaterstücke, auch aufreizende Frauen mit formschönen Brüsten geben,überzüchtete Damen, die zum Beispiel von einem Fürsten begehrt werden oder mitdenen er Lust hätte, schöne Kinder zu zeugen.
Die einzigeFrau, in die ich mich verlieben könnte, spreche ich sofort an. Sie trägt einSommerkleid aus dem Westen. Ich sehe ihre Brüste, ihre Beine, ihre rotenLippen. Sie scheint überdreht zu sein, naiv und rein. Ja, so eine Frau kannSchauspielerin werden.
"Woherkommst du, mein Lieber?" sagt sie.
MeinLieber. Das habe ich vielleicht mal von meiner Oma gehört.
"MeineLiebe", sage ich, "direkt aus der Produktion. Ich bin Stahlwerker."
"Für mich",sagt sie, "bedeutet es die Welt, daß ich hieraufgenommen werde. Ich muß hierher, anders werde ichnicht glücklich. Und du?"
"Jedenfallswill ich nicht dorthin zurück, wo ich bis jetzt war. Wenn sie mich nichtnehmen, dann haue ich ab. Vielleicht in den Westen. Wer dort Verbrecher wird,kriegt nicht so harte Strafen. Man sitzt nicht zu lange für einen Bankeinbruch,das erbeutete Geld ist qualitativ besser, und, was das Wichtigste ist: dieganze Welt steht einem zur Flucht offen."
Sie kucktmich staunend an. Ich sehe, daß sie an meinemVerstand zweifelt. Deshalb sage ich was Beruhigendes: "Aber das Schönste wäre,wenn wir beide hier aufgenommen würden. Findest du nicht? Dann könnten wir unsanfreunden. Ich könnte von dir lernen. Ich weiß nämlich nichts."
"Gern.Wunderbar!" sagt sie. "Dann wirst du beim Aufbau des Sozialismus fehlen, aberglaub mir: Am Theater würdest du noch mehr fehlen. Das sehe ich mit einemBlick. Ich muß gehen, meine Aufregung zu genießen." Sielacht mich an, haut mir einen Klaps auf die Brust und verschwindet.
Auch dieMänner sind aufgeregt. Jeder fragt den anderen, was er vorsprechen werde.Keiner von ihnen hat "Alle meine Söhne" im Programm, und keiner glaubt, daß ich ohne einen einzigen Klassiker eine Chance habe.
Allmählichdünnt sich das Treiben aus. Alle, die vom Vorsprechen in der Baracke kommen,werden gefragt: "Na? Wie wars?" Und jeder schneidet bedenkliche Mienen: "Ichweiß es nicht. Man wird uns schriftlich Bescheid geben."
Nur dieSchöne in dem Sommerkleid ist fröhlich. Sie kommt aus der Baracke und sagt:"Bis bald, Stahlwerker."
Ich rufeihr hinterher: "Dem Künstler, der es ist und der es werden will, gebührtAchtung!"
Mitviertausend Mann
Endlichwerde ich aufgerufen: "Krug, Manfred Rudolf!"
Ich kommeaus der Sonne in den abgedunkelten Raum. Rechts die kleine Bühne.
EineFrauenstimme sagt: "Bitte gehen Sie gleich hinauf, damit wir Sie sehen können.Was haben Sie uns mitgebracht?"
Meine Augengewöhnen sich an die Dunkelheit. Etwa zwanzig Stühle sind zu erkennen, vondenen einige besetzt sind. Da sitzen die Männer und Frauen, die mein Schicksalbestimmen werden. Die mit dem Parteiabzeichen, die größte und älteste unter denDamen, ist die Wortführerin.
"Ich habewas aus dem Stück Alle meine Söhne von Miller mitgebracht. Entschuldigen Sie,daß ich die Anforderung nicht ganz erfülle. Die Zeitwar knapp und bei uns zu Hause gibt es momentan keine Klassiker."
Unten beugtman sich einander zu, aus Angst, dass ich von vornherein abgelehnt werde, sageich: "Aber bitte erlauben Sie mir, das Wenige vorzutragen, denn damit habe ichmir Mühe gegeben. Ich arbeite nämlich im Dreischichtbetrieb."
"Allein?"fragt die große Frau.
"Nein",sage ich. "Zusammen mit viertausend Mann."
"Ob Sie dasStück allein einstudiert haben", sagt sie gütig lächelnd.
"Ja,allein."
Es wirdgetuschelt. Das kann nicht schaden, denke ich, wahrscheinlich ist esungewöhnlich, daß jemand seinen Text ohne Hilfeeinübt.
"Ich bindie Leiterin dieser Schule, hier sitzen die Genossen Kollegen und Dozenten, nunwollen wir sehen, was Sie uns vortragen."
Ich stelleeinen Stuhl auf die Bühne und setze mich zu Füßen des Stuhls auf den Boden.
"Ich binder Chris in dem Stück", sage ich, "der liebt ein Mädchen namens Ann. BeideAmerikaner. Sie sitzt hier vor ihm auf dem Stuhl und hört zu. DieRegieanweisungen von Arthur Miller spreche ich zum besseren Verständnis mit.Wenn Sie das wünschen, kann ich sie weglassen."
Es kommtkein Einwand, also fange ich an.
© UllsteinBuchverlage
- Autor: Manfred Krug
- 2005, 5. Aufl., 464 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, Maße: 11,6 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548367569
- ISBN-13: 9783548367569
- Erscheinungsdatum: 09.06.2005
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