Kleine Philosophie des Reisens
Schon immer zog es Menschen in die Ferne - um Abenteuer zu erleben, neue Erfahrungen zu machen oder um einfach fort von daheim zu sein. Doch was ist das Besondere am Reisen? Die kleine Philosophie des Reisens versammelt die schönsten Texte, die Antwort...
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Produktinformationen zu „Kleine Philosophie des Reisens “
Klappentext zu „Kleine Philosophie des Reisens “
Schon immer zog es Menschen in die Ferne - um Abenteuer zu erleben, neue Erfahrungen zu machen oder um einfach fort von daheim zu sein. Doch was ist das Besondere am Reisen? Die kleine Philosophie des Reisens versammelt die schönsten Texte, die Antwort geben auf das Geheimnis des Unterwegsseins von der Antike bis heute. Ein vergnüglicher und anregender Streifzug von Platon über Rousseau, Georg Forster, Hermann Graf Keyserling bis zu Alain de Botton auf der Suche nach dem, was das Wesen des Reisens ausmacht.
Lese-Probe zu „Kleine Philosophie des Reisens “
Kleine Philosophie des Reisens von Karen GenschowI. Reisen an sich
Béla Balázs
Reisen
Es scheint, daß nur Menschen reisen. Tiere jedoch ziehen und wandern auch und legen ungeheuere Strecken zurück. Aber nicht zu ihrem Vergnügen.
Schwalben, Störche, Wildgänse und dergleichen modern ausgerüstete Touristen haben es dabei verhältnismäßig leicht. Aber da gibt es im Raxgebiet eine Schneckenart, die aus dem Kaukasus eingewandert ist! Das sind ganz kleine Schnecken, die aus dem Kaukasus direkt nach Reichenau kamen. Jahrtausendelang müssen sie gewandert sein. Generation nach Generation ist unterwegs gestorben. Aber weiter, weiter! hieß es, mit den dunklen Legenden einer Urheimat und den Träumen der gelobten Rax im Herzen.
Tiere wandern unter dem Zwang des Naturgesetzes dem Licht, der Wärme und der Nahrung nach, wie Schlingpflanzen an unsichtbaren Stauden. Und auch Menschen, die in Geschäften reisen, und sei es rund um die Erde, sind nur solche Schlingpflanzen.
Aber in Freiheit reisen, aus bloßer Neugierde reisen und sei es nur eine Meile weit, bedeutet etwas Ungeheueres: Rebellion gegen die Natur, autonom gewordenes Menschentum außerhalb des Gesetzes. Es wird einem schwindlig, wenn man es bedenkt. (Ein Glück, daß Hochtouristen dies selten tun.) Denn jetzt erst hat man seine Wurzel aus dem Boden gerissen, sich locker gemacht, losgelöst, gegenübergestellt. Man könnte fast Angst bekommen, daß der rollende Erdball einen abwirft, wie das Wagenrad den Straßenkot.
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Wenn einer in Geschäften reist, kommt er nicht weit. Er kommt überhaupt nicht in die Fremde, denn er bleibt eingeschlossen in seinen organischen Lebensprozeß. Seine Reisen bleiben externe Funktionen seiner Ernährung, wobei zwischen der Verdauungsarbeit seiner Gedärme und seiner Ozeanfahrt kein prinzipieller Unterschied ist.
Reist man aber frei, reist man aus sich heraus, dann wird schon der Bahnhof, was er für uns in unserer Kindheit war: mystischer Hafen der Abenteuer und des Schicksals. Wir spüren den süßen Kohlenduft der Ferne, und mit roten Lampen winkt uns das Unbekannte. Wir schauen den Kondukteur mit bangem Vertrauen wie einst den alten Pfarrer an. Er ist nicht nur Staatsangestellter, sondern auch Wärter unseres Schicksals. Vielleicht ein Wissender. Reisegefährten werden zu Schicksalsgefährten, und man spricht mit ihnen.
Dabei kommt es gar nicht darauf an, ob man wirklich weit weg in unbekannte Fremde fährt. Dieser Zustand des Reisens ist ein innerer Zustand. Man verhält sich anders zur Außenwelt. Man hat die Scheuklappen der vorgesteckten Ziele abgeworfen und die Gesetzesbande der Notwendigkeit. Man hat sich entblößt vor Zufall und Möglichkeit, in verliebter Sehnsucht. Denn Reisen heißt sich darbieten. Nicht, indem man die Welt an sich herankommen läßt. Man müßte dabei gar nicht aus dem Zimmer gehen.
Es gibt Glückliche, die ihr ganzes Leben auf Reisen verbringen, ohne die Stadt zu verlassen. Man nennt sie Dichter. Von Cervantes bis Fritz Reuter wissen wir von manchen, die, lange Jahre in eine Zelle gesperrt, alle Tage eine Fülle von Abenteuern erlebten. Vielleicht müßte man gar nicht aus dem Zimmer gehen?
Menschen, die nicht die Vitalität aufbringen, über jede Stunde wie über ein neues Wunder zu staunen, brauchen den äußeren Reiz, die Injektionen der Reiseeindrücke, um nicht einzuschlafen. Der stumpfste, phantasieloseste unter allen Menschen muß der Globetrotter sein.
Doch eines ist da, scheint mir, was man nicht erleben kann, ohne wegzufahren, und ist doch das tiefste und süßeste aller Erlebnisse: das Heimweh. Denn wo ist man zu Hause? Nicht unbedingt dort, wo man wohnt. Und kein Wohlbehagen zeigt es uns an. Nur dieses Weh. Wer es nicht kennt, hat keine Heimat. Vielleicht fährt man manchmal nur fort, um im Heimweh eine Heimat zu erleben?
Und wem dies nicht gelingt, der denkt sich: Bist du ein Fremdling, so tust du gut daran, weiter zu wandern, um Distanz zu behalten. Denn das Gemüt ist klebrig, und leicht entsteht die Lüge einer Scheinheimat.
Wandere weiter und bleibe fremd.
Stefan Zweig
Reisen oder Gereist-Werden
Häfen und Bahnhöfe, sie sind meine Leidenschaft. Stundenlang kann ich vor ihnen stehen und warten, bis eine neue brausende Welle mit Menschen und Waren die schon zerflutete überrollt, ich liebe die Zeichen, die geheimnisvollen von Stunde und Fahrt, die Schreie und Geräusche, bunt und dumpf, die deutsam ineinanderklingen. Jeder Bahnhof ist anders, jeder reißt eine andere Ferne in sich hinein, jeder Hafen, jedes Schiff bringt andere Fracht. Sie sind die Welt in unseren Städten, die Vielfalt in unserem täglichen Tag.
Aber nun habe ich eine neue Art Bahnhöfe gesehen, in Paris zum erstenmal; die stehen mitten in der Straße ohne Halle und Dach, sie haben kein Wahrzeichen und sind doch ständige Ebbe und Flut. Das sind die Standorte der großen Gesellschaftsautomobile, die vielleicht einmal den Waggon ganz ersetzen werden: mit ihnen beginnt ein anderes Reisen, das Reisen in Masse, das Reisen auf Kontrakt, das Gereist-Werden. Neun Uhr: der erste Trupp kommt vom Boulevard, vierzig, fünfzig Passagiere, Amerikaner und Engländer zumeist, ein Dolmetsch mit bunter Kappe lädt sie auf, sie werden nach Versailles geführt, an die Schlösser der Loire, an den Mont [St.] Michel, bis in die Provence hinab. Mathematische Organisation hat ihnen allen diese Reise schon vorgedacht, vorbereitet, sie brauchen nicht zu suchen, zu rechnen mehr; der Motor kurbelt an, sie fahren in fremde Stadt, das Mittagessen (im Preise inbegriffen) steht wartend da und abends das Bett, die Museen, die Sehenswürdigkeiten stehen sperrbreit bei der Ankunft geöffnet, man braucht keinen Pförtner zu holen, kein Trinkgeld zu geben. Die Zeit ist vorgerechnet für jeden Blick, die Straße gewählt nach bester Erfahrung: wie bequem dies alles! Man hat nicht not, an Geld zu denken, sich vorzubereiten, Bücher zu lesen, Quartier zu erfragen - hinter den Gereisten (ich sage nicht: Reisenden) steht farbig bekappt der Reisewärter (denn eine Art Wärter und Wächter ist er ja) und erklärt ihnen mechanisch jede Sonderheit. Man hat nichts zu tun, als einmal in ein Reisebureau zu gehen, sich die Reise auszuwählen, den Betrag zu bezahlen - sich selbst auf vierzehn Tage in eine Art Reiserente einzukaufen, und schon rollt das Gepäck einem voraus, Heinzelmännchen stellen Essen und Bett geschäftig in niegesehene Landschaft - und so, ohne den Finger zu rühren, reisen jetzt Hunderttausende aus England, aus Amerika herüber. Oder vielmehr, sie werden gereist.
Ich habe mich bemüht, einmal in einen solchen Menschenschub mich hineinzudenken; die Bequemlichkeit läßt sich nicht leugnen. Man hat alle seine Sinne frei für Schauen und Genießen: man ist nicht abgelenkt durch die liliputanischen, aber doch unablässigen Sorgen um einen Schlafplatz und Mittagstisch, braucht keine Züge nachschlagen, nicht durch falsche Gassen stolpern, sich nicht narren und betrügen lassen, nicht mühsam eine fremde Sprache stammeln - alle Sinne bleiben einzig der Aufnahme des Neuen bereit. Und dies Neue wiederum hat schon jahrzehntelange Erfahrung auf das Sehenswürdige hin ausgesiebt: man sieht wirklich und wahrhaftig nur das Wichtigste auf solcher gemeinsamen Reisetour, an Gesellschaft fehlt es nicht für solche, denen Genuß erst wahrhaft wird, wenn sie ihn mitteilsam mit anderen genießen. Außerdem ist es billig, praktisch und vor allem bequem, sicherlich darum die Methode der Zukunft. Man wird nicht reisen mehr, sondern gereist werden.
Aber doch: geht nicht gerade das Geheimnisvollste des Reisens durch so zufällige Gemeinschaft verloren? Noch von uralten Zeiten her umwittert das Wort Reise ein leises Aroma von Abenteuer und Gefahr, ein Atem von wetterwendischem Zufall und lockender Unsicherheit. Wenn wir reisen, tun wir's doch nicht nur um der Ferne allein willen, sondern auch um des Fortseins vom Eigenen, von der täglich geordneten ausgezählten Hauswelt, um der Lust willen des Nicht-zu-Hause-Seins und deshalb Nicht-sich-selbst-Seins. - Wir wollen das bloße Dahinleben durch Erleben unterbrechen. Jene aber, die so gereist werden, fahren nur an vielem Neuen vorbei und nicht ins Neue hinein, alles Sonderbare und Persönliche eines Landes muß ihnen notwendig entgehen, solange sie geführt werden und nicht der wahre Gott der Wanderer, der Zufall, ihre Schritte lenkt. Diese Amerikaner und Engländer bleiben auf dem Massenautomobil eigentlich immer in England und Amerika, sie hören die fremde Sprache nicht, fühlen (weil jede Reibung fehlt) nicht Eigenart und Sitte des Volks. Sie sehen das Sehenswürdige, gewiß, aber alle zwanzig Wagenladungen im Tag, alle dasselbe Sehenswürdige, jeder erlebt das gleiche und noch mehr dadurch, daß es der gleiche Mann ihnen erklärt. Und keiner erlebt es in der Tiefe, weil er in Gesellschaft, im Geschwätz und Gerede den erlesensten Werten und Welten nahekommt, nie allein schauend, nie allein das Wunderbare fromm an sich ziehend: was er heimbringt, ist nichts als der Sachliche Stolz, diese Kirche, jenes Bild tatsächlich vor Augen gehabt zu haben - ein Rekord mehr sportlicher Art als Gefühl innerer Bildung und kultureller Bereicherung.
Darum lieber das Unbequeme, das Lästige, das Ärgerliche dazu: es gehört zu jeder richtigen Reise, denn immer liegt ein Widersinn zwischen dem Komfortablen, dem mühelos Erreichten und dem wirklichen Erleben. Alles Wesentliche im Leben, alles, was wir Gewinn nennen, wächst aus Mühe und Widerstand, aller wirkliche Zuwachs an Weltgefühl muß irgendwie an ein Persönliches unseres Wesens gebunden sein. Deshalb will mir die immer mehr verbesserte Mechanik des Reisens mehr Gefahr als Gewinn für jeden scheinen, der nicht nur von außen an das Fremde heran will, sondern sich wirklich lebendiges und betontes Bild von neuer Landschaft in die Seele ziehen. Wo wir nicht entdecken oder wenigstens zu entdecken vermeinen, wo nicht eine verborgene Energie und Sympathie uns zu neuen Dingen führt, fehlt eine geheimnisvolle Spannung im Genießen, eine Verbindung zwischen dem Niegesehenen und unserem überraschten Blick, und je weniger wir die Erlebnisse an uns bequem herbringen lassen, je mehr wir ihnen abenteuernd entgegendringen, um so inniger bleiben sie uns verbunden. Bergbahnen sind herrlich: in einer Stunde heben sie uns empor in die großartigste Gebirgswelt, unermüdet und bequem genießt man den Rundblick in die niedergebückte Welt. Aber doch, es fehlt irgendein seelischer Reiz bei diesem mechanischen Hinaufgebrachtsein, ein merkwürdig prickelnder Stolz, das Gefühl der Eroberung. Und dies sonderbare, aber zum wahrhaften Erleben gehörige Gefühl entbehren alle, die so gereist werden statt zu reisen, die irgendwo an einem Schalter zwar den Preis für die Rundreise aus der Brieftasche bezahlen, aber nicht den andern Preis, den höheren, den wertvolleren, aus dem innern Willen, der gespannten Energie. Und sonderbar: gerade dieser Aufwand erstattet sich später am verschwenderischsten zurück. Denn nur da, wo wir mit Ärger, Unannehmlichkeiten, Irrtum uns einen Eindruck erkauften, bleibt die Erinnerung besonders leuchtkräftig und stark, an nichts denkt man lieber als an die kleinen Mühseligkeiten, die Verlegenheiten, die Irrungen und Wirrungen einer Reise, so wie man ja auch in späteren Jahren die dümmsten Dummheiten seiner eigenen Jugend am freudigsten liebt. Daß unser eigenes tägliches Leben immer mechanischer, ordnungshafter auf den glatten Schienen eines technischen Jahrhunderts verläuft, wir können es nicht mehr hindern, ja wir wollen es vielleicht gar nicht, weil wir unsere Kräfte damit sparen. Aber Reise soll Verschwendung sein, Hingabe der Ordnung an den Zufall, des Täglichen an das Außerordentliche, sie muß allerpersönlichste, ureigenste Gestaltung unserer Neigung sein - wir wollen sie darum verteidigen gegen die neue bureaukratische, maschinelle Form des Massenwanderns, des Reisebetriebs.
Retten wir uns dies kleine Geviert Abenteuer in unserer allzu geordneten Welt, lassen wir uns nicht reisen als Frachtgut praktischer Agenturen, sondern reisen wir weiter nach Altväterart aus eigenem Willen eigenem Ziele entgegen: denn nur so wird jede Reise zur Entdeckung nicht nur der äußern, sondern auch unserer eigenen innern Welt.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Wenn einer in Geschäften reist, kommt er nicht weit. Er kommt überhaupt nicht in die Fremde, denn er bleibt eingeschlossen in seinen organischen Lebensprozeß. Seine Reisen bleiben externe Funktionen seiner Ernährung, wobei zwischen der Verdauungsarbeit seiner Gedärme und seiner Ozeanfahrt kein prinzipieller Unterschied ist.
Reist man aber frei, reist man aus sich heraus, dann wird schon der Bahnhof, was er für uns in unserer Kindheit war: mystischer Hafen der Abenteuer und des Schicksals. Wir spüren den süßen Kohlenduft der Ferne, und mit roten Lampen winkt uns das Unbekannte. Wir schauen den Kondukteur mit bangem Vertrauen wie einst den alten Pfarrer an. Er ist nicht nur Staatsangestellter, sondern auch Wärter unseres Schicksals. Vielleicht ein Wissender. Reisegefährten werden zu Schicksalsgefährten, und man spricht mit ihnen.
Dabei kommt es gar nicht darauf an, ob man wirklich weit weg in unbekannte Fremde fährt. Dieser Zustand des Reisens ist ein innerer Zustand. Man verhält sich anders zur Außenwelt. Man hat die Scheuklappen der vorgesteckten Ziele abgeworfen und die Gesetzesbande der Notwendigkeit. Man hat sich entblößt vor Zufall und Möglichkeit, in verliebter Sehnsucht. Denn Reisen heißt sich darbieten. Nicht, indem man die Welt an sich herankommen läßt. Man müßte dabei gar nicht aus dem Zimmer gehen.
Es gibt Glückliche, die ihr ganzes Leben auf Reisen verbringen, ohne die Stadt zu verlassen. Man nennt sie Dichter. Von Cervantes bis Fritz Reuter wissen wir von manchen, die, lange Jahre in eine Zelle gesperrt, alle Tage eine Fülle von Abenteuern erlebten. Vielleicht müßte man gar nicht aus dem Zimmer gehen?
Menschen, die nicht die Vitalität aufbringen, über jede Stunde wie über ein neues Wunder zu staunen, brauchen den äußeren Reiz, die Injektionen der Reiseeindrücke, um nicht einzuschlafen. Der stumpfste, phantasieloseste unter allen Menschen muß der Globetrotter sein.
Doch eines ist da, scheint mir, was man nicht erleben kann, ohne wegzufahren, und ist doch das tiefste und süßeste aller Erlebnisse: das Heimweh. Denn wo ist man zu Hause? Nicht unbedingt dort, wo man wohnt. Und kein Wohlbehagen zeigt es uns an. Nur dieses Weh. Wer es nicht kennt, hat keine Heimat. Vielleicht fährt man manchmal nur fort, um im Heimweh eine Heimat zu erleben?
Und wem dies nicht gelingt, der denkt sich: Bist du ein Fremdling, so tust du gut daran, weiter zu wandern, um Distanz zu behalten. Denn das Gemüt ist klebrig, und leicht entsteht die Lüge einer Scheinheimat.
Wandere weiter und bleibe fremd.
Stefan Zweig
Reisen oder Gereist-Werden
Häfen und Bahnhöfe, sie sind meine Leidenschaft. Stundenlang kann ich vor ihnen stehen und warten, bis eine neue brausende Welle mit Menschen und Waren die schon zerflutete überrollt, ich liebe die Zeichen, die geheimnisvollen von Stunde und Fahrt, die Schreie und Geräusche, bunt und dumpf, die deutsam ineinanderklingen. Jeder Bahnhof ist anders, jeder reißt eine andere Ferne in sich hinein, jeder Hafen, jedes Schiff bringt andere Fracht. Sie sind die Welt in unseren Städten, die Vielfalt in unserem täglichen Tag.
Aber nun habe ich eine neue Art Bahnhöfe gesehen, in Paris zum erstenmal; die stehen mitten in der Straße ohne Halle und Dach, sie haben kein Wahrzeichen und sind doch ständige Ebbe und Flut. Das sind die Standorte der großen Gesellschaftsautomobile, die vielleicht einmal den Waggon ganz ersetzen werden: mit ihnen beginnt ein anderes Reisen, das Reisen in Masse, das Reisen auf Kontrakt, das Gereist-Werden. Neun Uhr: der erste Trupp kommt vom Boulevard, vierzig, fünfzig Passagiere, Amerikaner und Engländer zumeist, ein Dolmetsch mit bunter Kappe lädt sie auf, sie werden nach Versailles geführt, an die Schlösser der Loire, an den Mont [St.] Michel, bis in die Provence hinab. Mathematische Organisation hat ihnen allen diese Reise schon vorgedacht, vorbereitet, sie brauchen nicht zu suchen, zu rechnen mehr; der Motor kurbelt an, sie fahren in fremde Stadt, das Mittagessen (im Preise inbegriffen) steht wartend da und abends das Bett, die Museen, die Sehenswürdigkeiten stehen sperrbreit bei der Ankunft geöffnet, man braucht keinen Pförtner zu holen, kein Trinkgeld zu geben. Die Zeit ist vorgerechnet für jeden Blick, die Straße gewählt nach bester Erfahrung: wie bequem dies alles! Man hat nicht not, an Geld zu denken, sich vorzubereiten, Bücher zu lesen, Quartier zu erfragen - hinter den Gereisten (ich sage nicht: Reisenden) steht farbig bekappt der Reisewärter (denn eine Art Wärter und Wächter ist er ja) und erklärt ihnen mechanisch jede Sonderheit. Man hat nichts zu tun, als einmal in ein Reisebureau zu gehen, sich die Reise auszuwählen, den Betrag zu bezahlen - sich selbst auf vierzehn Tage in eine Art Reiserente einzukaufen, und schon rollt das Gepäck einem voraus, Heinzelmännchen stellen Essen und Bett geschäftig in niegesehene Landschaft - und so, ohne den Finger zu rühren, reisen jetzt Hunderttausende aus England, aus Amerika herüber. Oder vielmehr, sie werden gereist.
Ich habe mich bemüht, einmal in einen solchen Menschenschub mich hineinzudenken; die Bequemlichkeit läßt sich nicht leugnen. Man hat alle seine Sinne frei für Schauen und Genießen: man ist nicht abgelenkt durch die liliputanischen, aber doch unablässigen Sorgen um einen Schlafplatz und Mittagstisch, braucht keine Züge nachschlagen, nicht durch falsche Gassen stolpern, sich nicht narren und betrügen lassen, nicht mühsam eine fremde Sprache stammeln - alle Sinne bleiben einzig der Aufnahme des Neuen bereit. Und dies Neue wiederum hat schon jahrzehntelange Erfahrung auf das Sehenswürdige hin ausgesiebt: man sieht wirklich und wahrhaftig nur das Wichtigste auf solcher gemeinsamen Reisetour, an Gesellschaft fehlt es nicht für solche, denen Genuß erst wahrhaft wird, wenn sie ihn mitteilsam mit anderen genießen. Außerdem ist es billig, praktisch und vor allem bequem, sicherlich darum die Methode der Zukunft. Man wird nicht reisen mehr, sondern gereist werden.
Aber doch: geht nicht gerade das Geheimnisvollste des Reisens durch so zufällige Gemeinschaft verloren? Noch von uralten Zeiten her umwittert das Wort Reise ein leises Aroma von Abenteuer und Gefahr, ein Atem von wetterwendischem Zufall und lockender Unsicherheit. Wenn wir reisen, tun wir's doch nicht nur um der Ferne allein willen, sondern auch um des Fortseins vom Eigenen, von der täglich geordneten ausgezählten Hauswelt, um der Lust willen des Nicht-zu-Hause-Seins und deshalb Nicht-sich-selbst-Seins. - Wir wollen das bloße Dahinleben durch Erleben unterbrechen. Jene aber, die so gereist werden, fahren nur an vielem Neuen vorbei und nicht ins Neue hinein, alles Sonderbare und Persönliche eines Landes muß ihnen notwendig entgehen, solange sie geführt werden und nicht der wahre Gott der Wanderer, der Zufall, ihre Schritte lenkt. Diese Amerikaner und Engländer bleiben auf dem Massenautomobil eigentlich immer in England und Amerika, sie hören die fremde Sprache nicht, fühlen (weil jede Reibung fehlt) nicht Eigenart und Sitte des Volks. Sie sehen das Sehenswürdige, gewiß, aber alle zwanzig Wagenladungen im Tag, alle dasselbe Sehenswürdige, jeder erlebt das gleiche und noch mehr dadurch, daß es der gleiche Mann ihnen erklärt. Und keiner erlebt es in der Tiefe, weil er in Gesellschaft, im Geschwätz und Gerede den erlesensten Werten und Welten nahekommt, nie allein schauend, nie allein das Wunderbare fromm an sich ziehend: was er heimbringt, ist nichts als der Sachliche Stolz, diese Kirche, jenes Bild tatsächlich vor Augen gehabt zu haben - ein Rekord mehr sportlicher Art als Gefühl innerer Bildung und kultureller Bereicherung.
Darum lieber das Unbequeme, das Lästige, das Ärgerliche dazu: es gehört zu jeder richtigen Reise, denn immer liegt ein Widersinn zwischen dem Komfortablen, dem mühelos Erreichten und dem wirklichen Erleben. Alles Wesentliche im Leben, alles, was wir Gewinn nennen, wächst aus Mühe und Widerstand, aller wirkliche Zuwachs an Weltgefühl muß irgendwie an ein Persönliches unseres Wesens gebunden sein. Deshalb will mir die immer mehr verbesserte Mechanik des Reisens mehr Gefahr als Gewinn für jeden scheinen, der nicht nur von außen an das Fremde heran will, sondern sich wirklich lebendiges und betontes Bild von neuer Landschaft in die Seele ziehen. Wo wir nicht entdecken oder wenigstens zu entdecken vermeinen, wo nicht eine verborgene Energie und Sympathie uns zu neuen Dingen führt, fehlt eine geheimnisvolle Spannung im Genießen, eine Verbindung zwischen dem Niegesehenen und unserem überraschten Blick, und je weniger wir die Erlebnisse an uns bequem herbringen lassen, je mehr wir ihnen abenteuernd entgegendringen, um so inniger bleiben sie uns verbunden. Bergbahnen sind herrlich: in einer Stunde heben sie uns empor in die großartigste Gebirgswelt, unermüdet und bequem genießt man den Rundblick in die niedergebückte Welt. Aber doch, es fehlt irgendein seelischer Reiz bei diesem mechanischen Hinaufgebrachtsein, ein merkwürdig prickelnder Stolz, das Gefühl der Eroberung. Und dies sonderbare, aber zum wahrhaften Erleben gehörige Gefühl entbehren alle, die so gereist werden statt zu reisen, die irgendwo an einem Schalter zwar den Preis für die Rundreise aus der Brieftasche bezahlen, aber nicht den andern Preis, den höheren, den wertvolleren, aus dem innern Willen, der gespannten Energie. Und sonderbar: gerade dieser Aufwand erstattet sich später am verschwenderischsten zurück. Denn nur da, wo wir mit Ärger, Unannehmlichkeiten, Irrtum uns einen Eindruck erkauften, bleibt die Erinnerung besonders leuchtkräftig und stark, an nichts denkt man lieber als an die kleinen Mühseligkeiten, die Verlegenheiten, die Irrungen und Wirrungen einer Reise, so wie man ja auch in späteren Jahren die dümmsten Dummheiten seiner eigenen Jugend am freudigsten liebt. Daß unser eigenes tägliches Leben immer mechanischer, ordnungshafter auf den glatten Schienen eines technischen Jahrhunderts verläuft, wir können es nicht mehr hindern, ja wir wollen es vielleicht gar nicht, weil wir unsere Kräfte damit sparen. Aber Reise soll Verschwendung sein, Hingabe der Ordnung an den Zufall, des Täglichen an das Außerordentliche, sie muß allerpersönlichste, ureigenste Gestaltung unserer Neigung sein - wir wollen sie darum verteidigen gegen die neue bureaukratische, maschinelle Form des Massenwanderns, des Reisebetriebs.
Retten wir uns dies kleine Geviert Abenteuer in unserer allzu geordneten Welt, lassen wir uns nicht reisen als Frachtgut praktischer Agenturen, sondern reisen wir weiter nach Altväterart aus eigenem Willen eigenem Ziele entgegen: denn nur so wird jede Reise zur Entdeckung nicht nur der äußern, sondern auch unserer eigenen innern Welt.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt
Genschow, KarenKaren Genschow arbeitet als Dozentin für romanistische Literaturwissenschaft und Didaktik an der Goethe-Universität Frankfurt sowie als freie Autorin und Übersetzerin.
Bibliographische Angaben
- 2012, 2. Auflage, 256 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Herausgegeben: Karen Genschow
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596904544
- ISBN-13: 9783596904549
- Erscheinungsdatum: 13.12.2012
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