»Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können«
Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945
Die düstere Kehrseite der deutschen Wiederaufbaujahre für jüdische Intellektuelle.
Dieses Buch versammelt 13 Porträts jüdischer Geisteswissenschaftler und Künstler, die nach 1945 nach Deutschland zurückkehrten oder dort wieder publizistisch wirkten. Zu...
Dieses Buch versammelt 13 Porträts jüdischer Geisteswissenschaftler und Künstler, die nach 1945 nach Deutschland zurückkehrten oder dort wieder publizistisch wirkten. Zu...
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Produktinformationen zu „»Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können« “
Klappentext zu „»Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können« “
Die düstere Kehrseite der deutschen Wiederaufbaujahre für jüdische Intellektuelle.Dieses Buch versammelt 13 Porträts jüdischer Geisteswissenschaftler und Künstler, die nach 1945 nach Deutschland zurückkehrten oder dort wieder publizistisch wirkten. Zu ihnen gehören die Schriftsteller Jean Améry, Arnold Zweig, Paul Celan und der Literaturwissenschaftler Peter Szondi, die Religionshistoriker Hans-Joachim Schoeps und Jacob Taubes, der Staatsrechtler Hans Kelsen, die Politologen Ernst Fraenkel und Hannah Arendt sowie die Philosophen/Soziologen Karl Löwith, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Ernst Bloch.
Sie waren verjagt, sie hatten fliehen können - und kamen jetzt in ein Land, das sie nur selten willkommen hieß. Und das sich dennoch mit ihnen schmücken wollte, das sie brauchte bei der geistigen Erneuerung. Dieser Band schreibt ein spannendes Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte im Spannungsfeld von Schuldverdrängung und -leugnung, Wiedergutmachung, Aufarbeitung und gesellschaftlicher Verunsicherung.
Lese-Probe zu „»Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können« “
»Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können« von Monika Boll und Raphael Gross Einleitung
»Ich staune, daß Sie in dieser Luft atmen können«, schrieb der jüdische Religionswissenschaftler Gershom Scholem 1949 an seinen konservativen jüdischen Kollegen Hans-Joachim Schoeps. Dieses »Staunen« war mehr als nur Verwunderung. Es war ein erstauntes Unverständnis über eine eigentlich als Skandal empfundene Tatsache: Wie können Sie überhaupt in Deutschland leben? Und obwohl dieses Unverständnis von Juden fast einhellig geteilt wurde, gab es zugleich immer Juden, die nach dem Holocaust in Deutschland lebten. Entweder als Displaced Persons in den Lagern, die auf eine Einreise nach Palästina oder Amerika hofften, oder als Durchreisende mit besonderen Aufgaben, betraut etwa mit der Restitution jüdischen Eigentums oder dem Einklagen von Rentenzahlungen für Überlebende des Holocausts. Das auf Deutschland wie ein Bann lastende Verbot war zwar weithin akzeptiert, aber gleichzeitig nie ganz verwirklicht.
Von den Displaced Persons blieben am Ende jene hier, die zu erschöpft oder zu alt für einen nochmaligen Neuanfang waren. Sie lebten meist in Distanz zur deutschen Gesellschaft, beschränkt auf ihr privates Umfeld und das der kleinen jüdischen Gemeinden. Wie aber wirkte sich der Bann auf jüdische Intellektuelle aus, die in der Öffentlichkeit eine sichtbare Rolle spielten? Wie gingen sie damit um, da sie doch zum einen meist wenig »jüdische« Juden waren, also oft gar keiner Gemeinde mehr angehörten, und zudem oft als universalistisch denkende Menschen jegliche parteiische Behandlung, selbst gegenüber dem ehemals nationalsozialistischen Deutschland, als problematisch empfanden?
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Der vorliegende Band versammelt dreizehn Porträts jüdischer Intellektueller, die nach 1945 in Deutschland lebten und arbeiteten oder aber hier publizistisch wirkten. Zu ihnen gehören der Dichter Paul Celan, der Schriftsteller Arnold Zweig, der Essayist Jean Améry und der Literaturwissenschaftler Peter Szondi, die Religionshistoriker Hans-Joachim Schoeps und Jacob Taubes, der Staatsrechtler Hans Kelsen, die Politikwissenschaftler Hannah Arendt und Ernst Fraenkel sowie die Philosophen und Soziologen Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Max Horkheimer und Karl Löwith. Sie alle zählen zu jener ersten Generation von Juden im Nachkriegsdeutschland, deren Status für sie selbst wie für andere nicht leicht zu definieren war. Standen sie doch für eine deutsch-jüdische Kultur, an der festzuhalten nach dem Holocaust mehr als fragwürdig erschien. Der Band geht den Brüchen in der äußeren wie in der Selbstwahrnehmung der Protagonisten nach. Welche Erwartungen hatten sie an die deutsche Nachkriegsgesellschaft? Hielten sie, wie Hannah Arendt es mit Blick auf das Schicksal der Displaced Persons tat, umfassende Hilfe und eine »politische Willenserklärung« für notwendig, nach der »jeder Jude, gleich wo er geboren ist, jederzeit, wenn er will, und allein auf Grund seiner jüdischen Nationalität gleichberechtigter Bürger dieser Republik werden kann, ohne darum aufzuhören, ein Jude zu sein«? Die Realität war bekanntlich weit davon entfernt, eine solche Einladung hat es, von Äußerungen einzelner Politiker abgesehen, nicht gegeben.
Andererseits hieß man einzelne Juden, die als Deutsche mit Deutschen den demokratischen bzw. sozialistischen Aufbau der Gesellschaft vorantrieben, durchaus willkommen. Viele erhielten hohe Auszeichnungen und Ehrungen. So waren Ernst Bloch und Arnold Zweig Träger des Nationalpreises der DDR, Max Horkheimer wurde Ehrenbürger der Stadt Frankfurt am Main, und Hans-Joachim Schoeps erhielt den Konrad-Adenauer-Preis. Dass sie Juden waren, blieb dabei außerhalb eines engen Kreises in der öffentlichen Wahrnehmung meist ausgeblendet. Scheu und Unbehagen bestimmten noch lange den Umgang mit Juden in der Nachkriegszeit. Jürgen Habermas beschrieb seine eigene Wahrnehmung 1961 anlässlich eines Artikels über deutsch-jüdische Philosophen wie folgt: »Es bestand eine deutliche Sperre auch gegen das leiseste Beginnen, Juden von Nichtjuden, Jüdisches von Nichtjüdischem, und sei es nur dem Namen nach, zu unterscheiden: obwohl ich jahrelang Philosophie studiert habe, war mir, bis ich diese Arbeit begonnen habe, nicht bei der Hälfte der genannten Gelehrten überhaupt ihre Herkunft bewußt.« Sehr viel schärfer noch formulierte Gershom Scholem diese asymmetrische Wahrnehmung: »Nachdem sie als Juden ermordet worden sind, werden sie nun in einem posthumen Triumph zu Deutschen ernannt, deren Judentum zu betonen ein Zugeständnis an die antisemitischen Theorien wäre. Welche Perversion im Namen eines Fortschritts, der den Verhältnissen ins Auge zu schauen nach Möglichkeit vermeidet!«
Die beiden Zitate stimmen mit den Erfahrungen überein, die wir bei der Vorbereitung unserer Ausstellung »Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland« am Jüdischen Museum Frankfurt gemacht haben. In den Gesprächen, die wir dazu mit den meist nichtjüdischen Schülern der Frankfurter Schule führten, war uns aufgefallen, dass vielen die Herkunft ihrer Lehrer aus dem Judentum zur Zeit ihres Studiums gar nicht bewusst war oder aber als eine zu vernachlässigende Größe erschien. War diese asymmetrische Wahrnehmung möglicherweise charakteristisch für die besondere Situation im Nachkriegsdeutschland, für die von Verdrängung, Scham und Abwehr geprägte Haltung Juden gegenüber? Und wie wurde aus jüdischer Sicht darüber reflektiert?
Die Situation der Juden in Deutschland war jedoch noch aus einem anderen Grund problematisch. Nach Ansicht internationaler jüdischer Organisationen sollte es ein Wiederaufleben jüdischer Kultur in Deutschland nicht mehr geben. Und diese Sicht wurde auch von den meisten Juden in und außerhalb Europas geteilt. So erklärte der Jüdische Weltkongress 1948 auf einer Tagung in Montreux, Juden sollten sich »nie wieder auf dem blutgetränkten deutschen Boden ansiedeln«. Übereinstimmend damit sahen Organisationen wie die Jewish Cultural Reconstruction und die Jewish Restitution Successor Organization ihre Aufgabe darin, verbliebene jüdische Kulturgüter in die Vereinigten Staaten und nach Israel zu überführen. Sie galten auch als erste Ansprechpartner für die Bundesregierung. Der 1950 gegründete Zentralrat der Juden in Deutschland musste sich zunächst einmal eine eigenständige politische Position erobern, nachdem er bei Verhandlungen um Wiedergutmachung von der Jewish Claims Conference finanziell übergangen worden war. Dem Legitimationsdruck von außen begegnend, erklärte der Rat seine Anwesenheit in Deutschland als eine im Namen der Opfer notwendige mahnende Erinnerung auf dem Weg in die neue Demokratie. Seine Distanz zur früheren nationalen deutsch-jüdischen Identität drückte er jedoch zugleich in der Selbstbezeichnung als »Zentralrat der Juden in Deutschland« aus. Insofern war der Zentralrat selbst ambivalent, was die Anwesenheit von Juden in Deutschland nach dem Holocaust betraf, die er gleichzeitig repräsentieren sollte.
Nicht nur aus israelischer Sicht galten Juden, die wieder in Deutschland lebten, als Verräter; sie »schwächen und entwerten das Ehrgefühl unseres Volkes«, hieß es dazu etwa in einer Debatte des israelischen Parlaments von 1950. Die ersten israelischen Reisepässe führten einen eingestempelten Vermerk: gültig für »alle Länder - mit Ausnahme Deutschlands«. Rückkehrer, die Mitte der fünfziger Jahre im Zuge der Wiedergutmachungszahlungen nach Deutschland gingen, berichten von israelischen Freunden, die »nie wieder ein Wort mit mir geredet haben, nachdem ich ihnen meine Entscheidung mitgeteilt hatte«.
Leben und Werk der hier porträtierten Intellektuellen blieben vom Legitimationsdruck und den verschiedenen Erwartungshaltungen nicht unberührt. Obgleich in der Öffentlichkeit hochangesehen, haderten viele von ihnen mit der Entscheidung, in Deutschland zu leben. Denn anders als es der äußere Anschein oft nahelegte, war dies für sie nicht selbstverständlich. Als Deutscher und Jude nach 1945 in Deutschland zu leben stellte - das verbindende »und« mitbedacht - oft eine dreifache Herausforderung dar. Viele der hier versammelten Aufsätze präsentieren dazu Einsichten in bislang unveröffentlichte Quellen, etwa in private Korrespondenz und Aufzeichnungen, die von den Ambivalenzen der Nachkriegsjahre zeugen. Der Band möchte einen Beitrag zur Erforschung der Geschichte der Juden in der Nachkriegszeit leisten, einer Epoche, die unter dem Stichwort Remigration meist von einer äußeren Perspektive, selten aber aus der jüdischen Binnenperspektive in den Blick genommen wird.
Die ersten beiden Porträts sind zwei sehr unterschiedlichen Vertretern der Judaistik gewidmet. Kaum einer der Rückkehrer hat sich so eindeutig positiv über Deutschland geäußert wie der Religionshistoriker Hans-Joachim Schoeps. Auf kritische, auch spitze Nachfragen wie das eingangs zitierte Erstaunen von Gershom Scholem bekannte sich Schoeps insistierend zu Deutschland, »das ich nicht aufgeben kann, in dem ich leben und in dem ich begraben liegen will. Auch die Untaten seiner Bewohner können daran nichts ändern [...].« Das ist umso bemerkenswerter, als er eine Profession vertrat, an die wiederanzuknüpfen namhafte Vertreter des Fachs wie Leo Baeck und Martin Buber sich weigerten. Michael Brenners Beitrag beschäftigt sich mit der Lage der Wissenschaft des Judentums in Deutschland nach dem Krieg, den Gründen ihres verzögerten Wiederaufbaus und der Sonderstellung, die Hans-Joachim Schoeps als Monarchist und Anhänger Preußens dabei einnahm.
Während Schoeps eine allgemeine Professur für Religionsund Geistesgeschichte innehatte, die nicht ausschließlich für jüdische Geistesgeschichte ausgeschrieben war, wurde der erste deutsche Lehrstuhl für Judaistik 1963 an der Freien Universität Berlin eingerichtet. Jerry Z. Muller porträtiert den ersten Lehrstuhlinhaber Jacob Taubes. Nicht weniger schillernd als Schoeps, war Taubes eine markante Persönlichkeit innerhalb der bundesrepublikanischen Geisteslandschaft. Hier berührten sich die politischen Extreme: Taubes begab sich in einen Dialog mit Vertretern der Neuen Linken, scheute aber ebenso wenig den Austausch mit Denkern der extremen Rechten wie Armin Mohler oder Carl Schmitt. Sein intellektuelles Interesse, so Muller, galt dem Verhältnis von Eschatologie und Geschichte. Als Jude sah sich Taubes in der Tradition des Apostels Paulus, dessen gesetzeskritische Theologie er nicht als Bruch mit dem Judentum, sondern judenchristlich auslegte.
Der Literaturwissenschaftler Peter Szondi, der wie Taubes an der Freien Universität Berlin lehrte, galt als ausgesprochen zurückhaltend in seinen persönlichen Mitteilungen. Von der Deportation der Familie nach Bergen-Belsen und Szondis Depressionen, vor denen er 1971 in den Selbstmord floh, wussten nur wenige Menschen in seinem Umfeld. Andreas Isenschmid weist der jüdischen Erfahrung im Leben und Werk Peter Szondis eine herausragende Rolle zu, ohne sie jedoch essentialistisch festzuschreiben. Für Peter Szondi, so Isenschmid, bedeutete sein Judentum eher eine Erfahrung der Zerrissenheit als einen Bezugspunkt der Identifikation. Ebenfalls zerrissen war Szondis Verhältnis zu Deutschland, wo er nach eigener Aussage lebte, »weil ich es verlernt habe, zu Hause zu sein«.
Es war der langjährige Freund Paul Celan, mit dem Szondi das Thema der Heimatlosigkeit verband. Joel Golb schließt in seinem Beitrag über Paul Celan an eine Debatte von 2005 an. Ausgelöst wurde sie durch den Fund eines Briefes von Celan an Ernst Jünger aus dem Jahr 1951. Celan bat Jünger darin um Unterstützung für die Publikation einer Gedichtsammlung, zu der auch die »Todesfuge« gehörte. Joel Golb verfolgt den Streit um ideologische Zugehörigkeit von 2005 vor dem Hintergrund der Rezeptionsgeschichte Celans in den fünfziger und sechziger Jahren und fragt nach Brüchen und Kontinuitäten im Umgang mit dem Werk des Dichters von den Nachkriegsjahren bis heute.
Anders als bei Celan bleibt der Holocaust in den Schriften des protestantisch getauften Philosophen Karl Löwith nahezu ausgeblendet. Liliane Weissberg vergleicht Löwiths autobiographischen Bericht Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933 von 1940 mit späteren Selbstzeugnissen und Aussagen zur Stellung des deutschen Judentums, die Löwith nach seiner Rückkehr aus dem Exil traf. Weissberg fragt, inwiefern Löwiths Pathos der subjektiven Distanz und seine Philosophie des Taktes über die theoretische Selbstverortung eines Gelehrten hinaus auch als Schutz vor einer anders schwer aushaltbaren Realität dienten.
Der Schriftsteller Arnold Zweig gehörte zu den wenigen Juden, die nach dem Krieg nicht in den Westen, sondern nach Ostdeutschland gingen. Vierzehn Jahre hatte er zuvor in Palästina gelebt. Adi Gordon zeigt, als wie heikel Zweig selber diese Entscheidung zur Rückkehr empfand, in die er lange nicht einmal seine Frau einweihte. Als enthusiastischer Vertreter deutscher Kultur, der im öffentlichen Leben Palästinas keine Anerkennung gefunden hatte, genoss der Schriftsteller jedoch die staatlichen Ehrungen der DDR. Gordon lotet ebenfalls Zweigs ambivalente Haltung zum offiziellen Antizionismus der SED aus sowie zur lange gepflegten staatlichen Ignoranz gegenüber den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus.
Nicht anders als Arnold Zweig reagierte auch der Philosoph Ernst Bloch auf die Vorstellung, wieder »im Lande des Hakenkreuzes a.D. zu leben«, zunächst mit entschiedener Abwehr.
Den Ruf an die Universität Leipzig nahm er später dennoch an, weil er, wie Henning Tegtmeyer darlegt, anders als in der Bundesrepublik, in der DDR das Versprechen auf eine moralisch bessere Zukunft eingelöst sah. Auch war Bloch der Meinung, die alte jüdische Partikularidentität könne im sozialistischen Menschenbild quasi hegelisch aufgehoben werden. Trotz zahlreicher staatlicher Auszeichnungen geriet er jedoch unter die Observation der Staatssicherheit, als er die demokratische Reformbewegung um Walter Janka und Wolfgang Harich unterstützte. Während des Mauerbaus ging Bloch dann enttäuscht in die Bundesrepublik, zugleich wandte er sich empört von der Israelkritik der Sowjetunion wie auch der ost- und westdeutschen Linken ab. Sein Interesse, ein theologisches Erbe in der Philosophie zu bewahren, verlieh ihm, so Tegtmeyer, jedoch sowohl im Osten wie später im Westen eine besondere Stellung.
Für Hannah Arendt ist die Frage der Rückkehr nach West- oder Ostdeutschland nie relevant gewesen. Sie blieb aus eigenem Willen in Amerika. Ein jüdisches Leben in Deutschland nach der Katastrophe schien sie abzulehnen, und so war auch ihre Arbeit als Geschäftsführerin der Jewish Cultural Reconstruction auf die Ausfuhr jüdischer Kulturgüter aus Deutschland fokussiert. Dennoch war Arendt im Nachkriegsdeutschland keine Unbekannte. Sie kehrte sozusagen schreibend zurück, allerdings unter der Bedingung, dass »ich als Jude über irgendeinen Aspekt der Judenfrage schreiben kann«. Wie Elisabeth Gallas in ihrem Beitrag zeigt, verfolgte Arendt dabei bewusst die Absicht, der deutschen Öffentlichkeit eine Konfrontation mit dem Holocaust nicht zu ersparen. Karl Jaspers' bedächtiger Umgang mit der Schuldfrage ging ihr nicht weit genug. Vor diesem Hintergrund erörtert Gallas Arendts publizistische Tätigkeit für die Nachkriegszeitschriften Die Wandlung und Der Monat, in denen Beiträge wie »Konzentrationsläger« und »Organisierte Schuld« erstmals erschienen.
Der österreichische Essayist Jean Améry lebte nach 1945 in bewusster Distanz zu Österreich und Deutschland in Brüssel. Auf Anfragen von Freunden und Kollegen antwortete er stets abweisend, dass ihn die Bundesrepublik zu wenig interessiere, um ein Urteil zu fällen. Wie unglaubwürdig dies im Grunde war, beschreibt Nicolas Berg. Als ausgezeichneter Kenner der bundesrepublikanischen Entwicklung pflegte Améry zahlreiche Kontakte zu deutschen Zeitschriften, Verlagen und Rundfunkhäusern. Illusionsloser als andere kommentierte er die Selbstrechtfertigung ehemaliger NS-Eliten. So schrieb er etwa an den Literaturkritiker Hans Egon Holthusen: »Und da stelle ich mir, stelle ich aufdringlicherweise Ihnen die häßlich-direkte Frage: Was haben Sie eigentlich gelernt aus dem Irrtum von dazumal?«
Auch der Staatsrechtler Hans Kelsen kehrte nicht nach Deutschland zurück. Dies war jedoch keine freie Entscheidung. Raphael Gross untersucht die Gründe, warum es im Fall Kelsen nie eine Einladung zur Rückkehr gegeben hat. Nachdem Hans Kelsen bis 1933 erst in Österreich, dann in Deutschland zu den führenden demokratischen Rechtstheoretikern gezählt hatte - wenn nicht überhaupt der bekannteste von ihnen allen war -, wurde er seit seiner erzwungenen Emigration nach Genf, Prag, Berkeley praktisch von allen Lagern bekämpft. Die Kritik an seiner stark von Kant beeinflussten Rechtslehre war so heftig, dass er trotz seiner unumstrittenen Bedeutung nie einen Ruf zurück erhielt und paradoxerweise gerade von denjenigen für den Untergang der Weimarer Republik verantwortlich gemacht wurde, die diese einst am entschiedensten bekämpft hatten.
Sosehr sich der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel stets gegen die äußere Zuschreibung »Jude« gewehrt hatte, so vehement bekundete er ein Gefühl der Abwehr und Fremdheit gegenüber Deutschland, als er 1959 an Otto Kahn-Freund schrieb: »Und das Wort ›wir‹ kommt mir nicht über die Lippen.« Michael Wildt beschreibt Ernst Fraenkels Verhältnis zur westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Als Vertreter einer Demokratietheorie, bei der sich repräsentative und plebiszitäre Elemente die Waage halten, geriet Fraenkel in einen heftigen Konflikt mit der antifaschistischen 68er-Generation, deren Volksbegriff er für ein Relikt der NS-Zeit hielt. Wildt fragt nach historischen, theoretischen und biographischen Gründen für den unterschiedlichen Blick des jüdischen Remigranten und der rebellierenden Studenten auf die bundesrepublikanische Demokratie.
Denkt man an den Neubeginn jüdischen Lebens in Deutschland nach 1945, so fällt einem nicht unbedingt der Name des Soziologen und Philosophen Max Horkheimer ein. Der Beitrag von Monika Boll zeichnet Horkheimers Wirken vor dem Hintergrund der oben beschriebenen asymmetrischen Wahrnehmung nach: Der allgemeinen Öffentlichkeit war Horkheimer bekannt als Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, als Universitätsrektor und als einflussreicher politischer Berater in Bonn. Nur innerhalb der kleinen jüdischen Öffentlichkeit wurde er auch als angesehenes Mitglied der jüdischen Gemeinde sowie einer ganzen Reihe weiterer jüdischer Organisationen wahrgenommen; überdies gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Frankfurter Juden.
Mehr noch als Horkheimer repräsentierte Theodor W. Adorno für eine spätere Studentengeneration die - ebenfalls erst später so genannte - Frankfurter Schule. Detlev Claussen betrachtet einige zentrale Motive im Denken Adornos wie »Das Ganze ist das Unwahre« und »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«, um sie vor einer häufig missverstehenden kulturpessimistischen Lektüre in Schutz zu nehmen. Sie alle erschließen sich, so Claussen, überhaupt nur aus einer auf Erfahrung gegründeten Negativität, wie sie Adorno durch Verfolgung und Exil erlitten hat. Von hier aus wird auch Adornos Kritik an allen Echtheits- und Wahrheitspostulaten verständlich, die er nach seiner Rückkehr immer wieder gegen den herrschenden Zeitgeist des »Jargons der Eigentlichkeit« vorgebracht hat.
An dieser Stelle möchten wir allen danken, die zum Gelingen des Buches beigetragen haben. Dies sind zunächst die Autorinnen und Autoren, die ihre Forschungsergebnisse und Einsichten zur Verfügung gestellt haben. Die Goethe-Universität Frankfurt und das Jüdische Museum Frankfurt haben die von Raphael Gross initiierte Ringvorlesung »Deutsch-jüdische Ideengeschichte in der Nachkriegszeit«, aus der dieser Sammelband hervorging, großzügig finanziell unterstützt. Die Vorlesungsreihe fand zudem in enger Kooperation mit dem Verbundprojekt »Kommunikationsräume des Europäischen - Jüdische Wissenskulturen jenseits des Nationalen« statt, an dem das Si- mon-Dubnow-Institut in Leipzig, das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts, das Jüdische Museum Frankfurt und das Zentrum für Lehrerbildung und Schulforschung Leipzig beteiligt waren. Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert, in seinem Rahmen entstand auch unsere Ausstellung »Die Frankfurter Schule und Frankfurt - Eine Rückkehr nach Deutschland«. Wir danken Katharina Rauschenberger vom Fritz Bauer Institut, die bei den Vorbereitungen zu dieser Publikation die Fäden souverän zusammenhielt. Unser Dank gilt ebenso Klaus Binder und Katharina Steiner für ihre umsichtigen Übersetzungen und Sabine Grimm für das wieder einmal exzellente Lektorat.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Der vorliegende Band versammelt dreizehn Porträts jüdischer Intellektueller, die nach 1945 in Deutschland lebten und arbeiteten oder aber hier publizistisch wirkten. Zu ihnen gehören der Dichter Paul Celan, der Schriftsteller Arnold Zweig, der Essayist Jean Améry und der Literaturwissenschaftler Peter Szondi, die Religionshistoriker Hans-Joachim Schoeps und Jacob Taubes, der Staatsrechtler Hans Kelsen, die Politikwissenschaftler Hannah Arendt und Ernst Fraenkel sowie die Philosophen und Soziologen Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Max Horkheimer und Karl Löwith. Sie alle zählen zu jener ersten Generation von Juden im Nachkriegsdeutschland, deren Status für sie selbst wie für andere nicht leicht zu definieren war. Standen sie doch für eine deutsch-jüdische Kultur, an der festzuhalten nach dem Holocaust mehr als fragwürdig erschien. Der Band geht den Brüchen in der äußeren wie in der Selbstwahrnehmung der Protagonisten nach. Welche Erwartungen hatten sie an die deutsche Nachkriegsgesellschaft? Hielten sie, wie Hannah Arendt es mit Blick auf das Schicksal der Displaced Persons tat, umfassende Hilfe und eine »politische Willenserklärung« für notwendig, nach der »jeder Jude, gleich wo er geboren ist, jederzeit, wenn er will, und allein auf Grund seiner jüdischen Nationalität gleichberechtigter Bürger dieser Republik werden kann, ohne darum aufzuhören, ein Jude zu sein«? Die Realität war bekanntlich weit davon entfernt, eine solche Einladung hat es, von Äußerungen einzelner Politiker abgesehen, nicht gegeben.
Andererseits hieß man einzelne Juden, die als Deutsche mit Deutschen den demokratischen bzw. sozialistischen Aufbau der Gesellschaft vorantrieben, durchaus willkommen. Viele erhielten hohe Auszeichnungen und Ehrungen. So waren Ernst Bloch und Arnold Zweig Träger des Nationalpreises der DDR, Max Horkheimer wurde Ehrenbürger der Stadt Frankfurt am Main, und Hans-Joachim Schoeps erhielt den Konrad-Adenauer-Preis. Dass sie Juden waren, blieb dabei außerhalb eines engen Kreises in der öffentlichen Wahrnehmung meist ausgeblendet. Scheu und Unbehagen bestimmten noch lange den Umgang mit Juden in der Nachkriegszeit. Jürgen Habermas beschrieb seine eigene Wahrnehmung 1961 anlässlich eines Artikels über deutsch-jüdische Philosophen wie folgt: »Es bestand eine deutliche Sperre auch gegen das leiseste Beginnen, Juden von Nichtjuden, Jüdisches von Nichtjüdischem, und sei es nur dem Namen nach, zu unterscheiden: obwohl ich jahrelang Philosophie studiert habe, war mir, bis ich diese Arbeit begonnen habe, nicht bei der Hälfte der genannten Gelehrten überhaupt ihre Herkunft bewußt.« Sehr viel schärfer noch formulierte Gershom Scholem diese asymmetrische Wahrnehmung: »Nachdem sie als Juden ermordet worden sind, werden sie nun in einem posthumen Triumph zu Deutschen ernannt, deren Judentum zu betonen ein Zugeständnis an die antisemitischen Theorien wäre. Welche Perversion im Namen eines Fortschritts, der den Verhältnissen ins Auge zu schauen nach Möglichkeit vermeidet!«
Die beiden Zitate stimmen mit den Erfahrungen überein, die wir bei der Vorbereitung unserer Ausstellung »Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland« am Jüdischen Museum Frankfurt gemacht haben. In den Gesprächen, die wir dazu mit den meist nichtjüdischen Schülern der Frankfurter Schule führten, war uns aufgefallen, dass vielen die Herkunft ihrer Lehrer aus dem Judentum zur Zeit ihres Studiums gar nicht bewusst war oder aber als eine zu vernachlässigende Größe erschien. War diese asymmetrische Wahrnehmung möglicherweise charakteristisch für die besondere Situation im Nachkriegsdeutschland, für die von Verdrängung, Scham und Abwehr geprägte Haltung Juden gegenüber? Und wie wurde aus jüdischer Sicht darüber reflektiert?
Die Situation der Juden in Deutschland war jedoch noch aus einem anderen Grund problematisch. Nach Ansicht internationaler jüdischer Organisationen sollte es ein Wiederaufleben jüdischer Kultur in Deutschland nicht mehr geben. Und diese Sicht wurde auch von den meisten Juden in und außerhalb Europas geteilt. So erklärte der Jüdische Weltkongress 1948 auf einer Tagung in Montreux, Juden sollten sich »nie wieder auf dem blutgetränkten deutschen Boden ansiedeln«. Übereinstimmend damit sahen Organisationen wie die Jewish Cultural Reconstruction und die Jewish Restitution Successor Organization ihre Aufgabe darin, verbliebene jüdische Kulturgüter in die Vereinigten Staaten und nach Israel zu überführen. Sie galten auch als erste Ansprechpartner für die Bundesregierung. Der 1950 gegründete Zentralrat der Juden in Deutschland musste sich zunächst einmal eine eigenständige politische Position erobern, nachdem er bei Verhandlungen um Wiedergutmachung von der Jewish Claims Conference finanziell übergangen worden war. Dem Legitimationsdruck von außen begegnend, erklärte der Rat seine Anwesenheit in Deutschland als eine im Namen der Opfer notwendige mahnende Erinnerung auf dem Weg in die neue Demokratie. Seine Distanz zur früheren nationalen deutsch-jüdischen Identität drückte er jedoch zugleich in der Selbstbezeichnung als »Zentralrat der Juden in Deutschland« aus. Insofern war der Zentralrat selbst ambivalent, was die Anwesenheit von Juden in Deutschland nach dem Holocaust betraf, die er gleichzeitig repräsentieren sollte.
Nicht nur aus israelischer Sicht galten Juden, die wieder in Deutschland lebten, als Verräter; sie »schwächen und entwerten das Ehrgefühl unseres Volkes«, hieß es dazu etwa in einer Debatte des israelischen Parlaments von 1950. Die ersten israelischen Reisepässe führten einen eingestempelten Vermerk: gültig für »alle Länder - mit Ausnahme Deutschlands«. Rückkehrer, die Mitte der fünfziger Jahre im Zuge der Wiedergutmachungszahlungen nach Deutschland gingen, berichten von israelischen Freunden, die »nie wieder ein Wort mit mir geredet haben, nachdem ich ihnen meine Entscheidung mitgeteilt hatte«.
Leben und Werk der hier porträtierten Intellektuellen blieben vom Legitimationsdruck und den verschiedenen Erwartungshaltungen nicht unberührt. Obgleich in der Öffentlichkeit hochangesehen, haderten viele von ihnen mit der Entscheidung, in Deutschland zu leben. Denn anders als es der äußere Anschein oft nahelegte, war dies für sie nicht selbstverständlich. Als Deutscher und Jude nach 1945 in Deutschland zu leben stellte - das verbindende »und« mitbedacht - oft eine dreifache Herausforderung dar. Viele der hier versammelten Aufsätze präsentieren dazu Einsichten in bislang unveröffentlichte Quellen, etwa in private Korrespondenz und Aufzeichnungen, die von den Ambivalenzen der Nachkriegsjahre zeugen. Der Band möchte einen Beitrag zur Erforschung der Geschichte der Juden in der Nachkriegszeit leisten, einer Epoche, die unter dem Stichwort Remigration meist von einer äußeren Perspektive, selten aber aus der jüdischen Binnenperspektive in den Blick genommen wird.
Die ersten beiden Porträts sind zwei sehr unterschiedlichen Vertretern der Judaistik gewidmet. Kaum einer der Rückkehrer hat sich so eindeutig positiv über Deutschland geäußert wie der Religionshistoriker Hans-Joachim Schoeps. Auf kritische, auch spitze Nachfragen wie das eingangs zitierte Erstaunen von Gershom Scholem bekannte sich Schoeps insistierend zu Deutschland, »das ich nicht aufgeben kann, in dem ich leben und in dem ich begraben liegen will. Auch die Untaten seiner Bewohner können daran nichts ändern [...].« Das ist umso bemerkenswerter, als er eine Profession vertrat, an die wiederanzuknüpfen namhafte Vertreter des Fachs wie Leo Baeck und Martin Buber sich weigerten. Michael Brenners Beitrag beschäftigt sich mit der Lage der Wissenschaft des Judentums in Deutschland nach dem Krieg, den Gründen ihres verzögerten Wiederaufbaus und der Sonderstellung, die Hans-Joachim Schoeps als Monarchist und Anhänger Preußens dabei einnahm.
Während Schoeps eine allgemeine Professur für Religionsund Geistesgeschichte innehatte, die nicht ausschließlich für jüdische Geistesgeschichte ausgeschrieben war, wurde der erste deutsche Lehrstuhl für Judaistik 1963 an der Freien Universität Berlin eingerichtet. Jerry Z. Muller porträtiert den ersten Lehrstuhlinhaber Jacob Taubes. Nicht weniger schillernd als Schoeps, war Taubes eine markante Persönlichkeit innerhalb der bundesrepublikanischen Geisteslandschaft. Hier berührten sich die politischen Extreme: Taubes begab sich in einen Dialog mit Vertretern der Neuen Linken, scheute aber ebenso wenig den Austausch mit Denkern der extremen Rechten wie Armin Mohler oder Carl Schmitt. Sein intellektuelles Interesse, so Muller, galt dem Verhältnis von Eschatologie und Geschichte. Als Jude sah sich Taubes in der Tradition des Apostels Paulus, dessen gesetzeskritische Theologie er nicht als Bruch mit dem Judentum, sondern judenchristlich auslegte.
Der Literaturwissenschaftler Peter Szondi, der wie Taubes an der Freien Universität Berlin lehrte, galt als ausgesprochen zurückhaltend in seinen persönlichen Mitteilungen. Von der Deportation der Familie nach Bergen-Belsen und Szondis Depressionen, vor denen er 1971 in den Selbstmord floh, wussten nur wenige Menschen in seinem Umfeld. Andreas Isenschmid weist der jüdischen Erfahrung im Leben und Werk Peter Szondis eine herausragende Rolle zu, ohne sie jedoch essentialistisch festzuschreiben. Für Peter Szondi, so Isenschmid, bedeutete sein Judentum eher eine Erfahrung der Zerrissenheit als einen Bezugspunkt der Identifikation. Ebenfalls zerrissen war Szondis Verhältnis zu Deutschland, wo er nach eigener Aussage lebte, »weil ich es verlernt habe, zu Hause zu sein«.
Es war der langjährige Freund Paul Celan, mit dem Szondi das Thema der Heimatlosigkeit verband. Joel Golb schließt in seinem Beitrag über Paul Celan an eine Debatte von 2005 an. Ausgelöst wurde sie durch den Fund eines Briefes von Celan an Ernst Jünger aus dem Jahr 1951. Celan bat Jünger darin um Unterstützung für die Publikation einer Gedichtsammlung, zu der auch die »Todesfuge« gehörte. Joel Golb verfolgt den Streit um ideologische Zugehörigkeit von 2005 vor dem Hintergrund der Rezeptionsgeschichte Celans in den fünfziger und sechziger Jahren und fragt nach Brüchen und Kontinuitäten im Umgang mit dem Werk des Dichters von den Nachkriegsjahren bis heute.
Anders als bei Celan bleibt der Holocaust in den Schriften des protestantisch getauften Philosophen Karl Löwith nahezu ausgeblendet. Liliane Weissberg vergleicht Löwiths autobiographischen Bericht Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933 von 1940 mit späteren Selbstzeugnissen und Aussagen zur Stellung des deutschen Judentums, die Löwith nach seiner Rückkehr aus dem Exil traf. Weissberg fragt, inwiefern Löwiths Pathos der subjektiven Distanz und seine Philosophie des Taktes über die theoretische Selbstverortung eines Gelehrten hinaus auch als Schutz vor einer anders schwer aushaltbaren Realität dienten.
Der Schriftsteller Arnold Zweig gehörte zu den wenigen Juden, die nach dem Krieg nicht in den Westen, sondern nach Ostdeutschland gingen. Vierzehn Jahre hatte er zuvor in Palästina gelebt. Adi Gordon zeigt, als wie heikel Zweig selber diese Entscheidung zur Rückkehr empfand, in die er lange nicht einmal seine Frau einweihte. Als enthusiastischer Vertreter deutscher Kultur, der im öffentlichen Leben Palästinas keine Anerkennung gefunden hatte, genoss der Schriftsteller jedoch die staatlichen Ehrungen der DDR. Gordon lotet ebenfalls Zweigs ambivalente Haltung zum offiziellen Antizionismus der SED aus sowie zur lange gepflegten staatlichen Ignoranz gegenüber den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus.
Nicht anders als Arnold Zweig reagierte auch der Philosoph Ernst Bloch auf die Vorstellung, wieder »im Lande des Hakenkreuzes a.D. zu leben«, zunächst mit entschiedener Abwehr.
Den Ruf an die Universität Leipzig nahm er später dennoch an, weil er, wie Henning Tegtmeyer darlegt, anders als in der Bundesrepublik, in der DDR das Versprechen auf eine moralisch bessere Zukunft eingelöst sah. Auch war Bloch der Meinung, die alte jüdische Partikularidentität könne im sozialistischen Menschenbild quasi hegelisch aufgehoben werden. Trotz zahlreicher staatlicher Auszeichnungen geriet er jedoch unter die Observation der Staatssicherheit, als er die demokratische Reformbewegung um Walter Janka und Wolfgang Harich unterstützte. Während des Mauerbaus ging Bloch dann enttäuscht in die Bundesrepublik, zugleich wandte er sich empört von der Israelkritik der Sowjetunion wie auch der ost- und westdeutschen Linken ab. Sein Interesse, ein theologisches Erbe in der Philosophie zu bewahren, verlieh ihm, so Tegtmeyer, jedoch sowohl im Osten wie später im Westen eine besondere Stellung.
Für Hannah Arendt ist die Frage der Rückkehr nach West- oder Ostdeutschland nie relevant gewesen. Sie blieb aus eigenem Willen in Amerika. Ein jüdisches Leben in Deutschland nach der Katastrophe schien sie abzulehnen, und so war auch ihre Arbeit als Geschäftsführerin der Jewish Cultural Reconstruction auf die Ausfuhr jüdischer Kulturgüter aus Deutschland fokussiert. Dennoch war Arendt im Nachkriegsdeutschland keine Unbekannte. Sie kehrte sozusagen schreibend zurück, allerdings unter der Bedingung, dass »ich als Jude über irgendeinen Aspekt der Judenfrage schreiben kann«. Wie Elisabeth Gallas in ihrem Beitrag zeigt, verfolgte Arendt dabei bewusst die Absicht, der deutschen Öffentlichkeit eine Konfrontation mit dem Holocaust nicht zu ersparen. Karl Jaspers' bedächtiger Umgang mit der Schuldfrage ging ihr nicht weit genug. Vor diesem Hintergrund erörtert Gallas Arendts publizistische Tätigkeit für die Nachkriegszeitschriften Die Wandlung und Der Monat, in denen Beiträge wie »Konzentrationsläger« und »Organisierte Schuld« erstmals erschienen.
Der österreichische Essayist Jean Améry lebte nach 1945 in bewusster Distanz zu Österreich und Deutschland in Brüssel. Auf Anfragen von Freunden und Kollegen antwortete er stets abweisend, dass ihn die Bundesrepublik zu wenig interessiere, um ein Urteil zu fällen. Wie unglaubwürdig dies im Grunde war, beschreibt Nicolas Berg. Als ausgezeichneter Kenner der bundesrepublikanischen Entwicklung pflegte Améry zahlreiche Kontakte zu deutschen Zeitschriften, Verlagen und Rundfunkhäusern. Illusionsloser als andere kommentierte er die Selbstrechtfertigung ehemaliger NS-Eliten. So schrieb er etwa an den Literaturkritiker Hans Egon Holthusen: »Und da stelle ich mir, stelle ich aufdringlicherweise Ihnen die häßlich-direkte Frage: Was haben Sie eigentlich gelernt aus dem Irrtum von dazumal?«
Auch der Staatsrechtler Hans Kelsen kehrte nicht nach Deutschland zurück. Dies war jedoch keine freie Entscheidung. Raphael Gross untersucht die Gründe, warum es im Fall Kelsen nie eine Einladung zur Rückkehr gegeben hat. Nachdem Hans Kelsen bis 1933 erst in Österreich, dann in Deutschland zu den führenden demokratischen Rechtstheoretikern gezählt hatte - wenn nicht überhaupt der bekannteste von ihnen allen war -, wurde er seit seiner erzwungenen Emigration nach Genf, Prag, Berkeley praktisch von allen Lagern bekämpft. Die Kritik an seiner stark von Kant beeinflussten Rechtslehre war so heftig, dass er trotz seiner unumstrittenen Bedeutung nie einen Ruf zurück erhielt und paradoxerweise gerade von denjenigen für den Untergang der Weimarer Republik verantwortlich gemacht wurde, die diese einst am entschiedensten bekämpft hatten.
Sosehr sich der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel stets gegen die äußere Zuschreibung »Jude« gewehrt hatte, so vehement bekundete er ein Gefühl der Abwehr und Fremdheit gegenüber Deutschland, als er 1959 an Otto Kahn-Freund schrieb: »Und das Wort ›wir‹ kommt mir nicht über die Lippen.« Michael Wildt beschreibt Ernst Fraenkels Verhältnis zur westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Als Vertreter einer Demokratietheorie, bei der sich repräsentative und plebiszitäre Elemente die Waage halten, geriet Fraenkel in einen heftigen Konflikt mit der antifaschistischen 68er-Generation, deren Volksbegriff er für ein Relikt der NS-Zeit hielt. Wildt fragt nach historischen, theoretischen und biographischen Gründen für den unterschiedlichen Blick des jüdischen Remigranten und der rebellierenden Studenten auf die bundesrepublikanische Demokratie.
Denkt man an den Neubeginn jüdischen Lebens in Deutschland nach 1945, so fällt einem nicht unbedingt der Name des Soziologen und Philosophen Max Horkheimer ein. Der Beitrag von Monika Boll zeichnet Horkheimers Wirken vor dem Hintergrund der oben beschriebenen asymmetrischen Wahrnehmung nach: Der allgemeinen Öffentlichkeit war Horkheimer bekannt als Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, als Universitätsrektor und als einflussreicher politischer Berater in Bonn. Nur innerhalb der kleinen jüdischen Öffentlichkeit wurde er auch als angesehenes Mitglied der jüdischen Gemeinde sowie einer ganzen Reihe weiterer jüdischer Organisationen wahrgenommen; überdies gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Frankfurter Juden.
Mehr noch als Horkheimer repräsentierte Theodor W. Adorno für eine spätere Studentengeneration die - ebenfalls erst später so genannte - Frankfurter Schule. Detlev Claussen betrachtet einige zentrale Motive im Denken Adornos wie »Das Ganze ist das Unwahre« und »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«, um sie vor einer häufig missverstehenden kulturpessimistischen Lektüre in Schutz zu nehmen. Sie alle erschließen sich, so Claussen, überhaupt nur aus einer auf Erfahrung gegründeten Negativität, wie sie Adorno durch Verfolgung und Exil erlitten hat. Von hier aus wird auch Adornos Kritik an allen Echtheits- und Wahrheitspostulaten verständlich, die er nach seiner Rückkehr immer wieder gegen den herrschenden Zeitgeist des »Jargons der Eigentlichkeit« vorgebracht hat.
An dieser Stelle möchten wir allen danken, die zum Gelingen des Buches beigetragen haben. Dies sind zunächst die Autorinnen und Autoren, die ihre Forschungsergebnisse und Einsichten zur Verfügung gestellt haben. Die Goethe-Universität Frankfurt und das Jüdische Museum Frankfurt haben die von Raphael Gross initiierte Ringvorlesung »Deutsch-jüdische Ideengeschichte in der Nachkriegszeit«, aus der dieser Sammelband hervorging, großzügig finanziell unterstützt. Die Vorlesungsreihe fand zudem in enger Kooperation mit dem Verbundprojekt »Kommunikationsräume des Europäischen - Jüdische Wissenskulturen jenseits des Nationalen« statt, an dem das Si- mon-Dubnow-Institut in Leipzig, das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts, das Jüdische Museum Frankfurt und das Zentrum für Lehrerbildung und Schulforschung Leipzig beteiligt waren. Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert, in seinem Rahmen entstand auch unsere Ausstellung »Die Frankfurter Schule und Frankfurt - Eine Rückkehr nach Deutschland«. Wir danken Katharina Rauschenberger vom Fritz Bauer Institut, die bei den Vorbereitungen zu dieser Publikation die Fäden souverän zusammenhielt. Unser Dank gilt ebenso Klaus Binder und Katharina Steiner für ihre umsichtigen Übersetzungen und Sabine Grimm für das wieder einmal exzellente Lektorat.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt
Boll, MonikaDr. Monika Boll ist Philosophin, Publizistin und Kuratorin. Für das Jüdische Museum Frankfurt kuratierte sie die Ausstellungen »Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland« (2009) und »Für Marcel Reich-Ranicki« (2010). Veröffentlichungen u.a. Nachtprogramm. Intellektuelle Gründungsdebatten in der frühen Bundesrepublik (2004); Zur Kritik des naturalistischen Humanismus. Der Verfall des Politischen bei Hannah Arendt (1997). Gross, RaphaelProf. Dr. Raphael Gross ist seit 2017 Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum in Berlin. Davor leitete er als Direktor das Leo Baeck Institute in London (2001-2015), das Jüdische Museum in Frankfurt am Main (2006-2015), das Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt am Main (2007-2015) sowie das Simon-Dubnow-Institut für jüdische Kultur und Geschichte in Leipzig, wo er gleichzeitig den Lehrstuhl für jüdische Geschichte an der Universität Leipzig innehatte (2015-2017).
Bibliographische Angaben
- 2013, 1. Auflage, 400 Seiten, Maße: 12,6 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Herausgegeben von Boll, Monika; Gross, Raphael
- Herausgegeben: Monika Boll, Raphael Gross
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596189098
- ISBN-13: 9783596189090
- Erscheinungsdatum: 15.01.2013
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