Die Zeit, die uns bleibt
Erzählungen
Die junge Generation Japans: Toshiki Okada ist einer von ihnen. Seine Theaterstücke werden weltweit aufgeführt, immer wieder auch in Deutschland. Okada beschreibt in "Die Zeit, die uns bleibt" den Zustand einer Generation, die von Kriegen umgeben ist, die...
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Produktinformationen zu „Die Zeit, die uns bleibt “
Klappentext zu „Die Zeit, die uns bleibt “
Die junge Generation Japans: Toshiki Okada ist einer von ihnen. Seine Theaterstücke werden weltweit aufgeführt, immer wieder auch in Deutschland. Okada beschreibt in "Die Zeit, die uns bleibt" den Zustand einer Generation, die von Kriegen umgeben ist, die in einem Land lebt, das von Tsunamis und Reaktorunfällen heimgesucht wird, in dem der Wirtschafstboom längst vorbei ist. Eine Generation ohne Zukunft, möchte man glauben, aber auch sie haben eine Zukunft, sie wissen nur noch nicht, wo. Und so lange besaufen sie sich, haben Sex mit Unbekannten in runtergekommen Love Hotels, warten, dass die Kakerlake in ihrer schimmligen Wohnung im Schrank verschwindet. Das ist hart, das ist gut, Okada ist die neue Stimme Japans.
Lese-Probe zu „Die Zeit, die uns bleibt “
Die Zeit, die uns bleibt von Toshiki OkadaFÜNF TAGE IM MÄRZ
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DER ROPPONGI HILLS-KOMPLEX mit seinen zahlreichen Shopping-, Büro- und Freizeiteinrichtungen hatte im März 2003 noch nicht eröffnet, so musste man nur dem Fußweg auf der linken Seite folgen, um vom Bahnhof Roppongi zum Live-Clubhaus SuperDeluxe zu gelangen, das sich an einer leicht abfallenden Straße in Richtung des Tokyoter Stadtviertels Nishi- Azabu befand. Sie liefen zu sechst in einem Pulk. Seit ihrer Fahrt mit der Hibiya-Linie redeten sie unablässig lauthals aufeinander ein, ohne dem anderen auch nur einen Moment der Ruhe zu gönnen. Die stillen Fahrgäste um sie herum mussten wohl oder übel alles mit anhören. Nicht nur, dass es ihnen unangenehm war, sie wussten einfach nicht, wie sie sich verhalten sollten, und in ihrer Ratlosigkeit ließen sie es über sich ergehen und sich ihrer Zeit und ihres kostbaren In-sich-gekehrt-Seins berauben. Die sechs hatten sich im letzten Wagen niedergelassen, und während sich die einen rücklings an die hinterste Wand lehnten, die die Kabine des Zugführers vom Fahrgastraum trennte, rieben die anderen ihre Rücken an dem Geländer, das parallel zum Fußboden an der Wand angebracht war, sie krakeelten lautstark herum oder hörten denen zu, die herumkrakeelten. Auf Außen stehende machten sie durchaus den Eindruck, als wollten sie mit ihrem Geschrei dafür sorgen, dass das Rattern der Bahn, das ohnehin schon so gedämpft war, als würde es einen großen Bogen um die Bahn machen, noch weniger zu vernehmen war. Was allerdings nicht bedeutete, dass sich irgendjemand auch nur ansatzweise derlei Gedanken gemacht hätte. Einige der Fahrgäste, die sich in demselben Abteil befanden und sie nicht nur einfach wahrnahmen, sondern sie auch beobachteten, hatten ihre Aufmerksamkeit zugleich auf das Display ihres Handys oder die Werbeplakate gerichtet. Andere wiederum warfen diffuse Blicke auf die Füße der sechs, dies allerdings mit großer Beharrlichkeit. Alle aber zeigten keine Reaktion. Manche dachten, dass diese Typen ohnehin in Roppongi aussteigen würden und man bis dahin am besten geduldig wartete. Das war ganz richtig vermutet. Denn die sechs waren zwar ziemlich betrunken, doch kaum in Roppongi angekommen, machten sie sich gegenseitig darauf aufmerksam. Ihre Körper schienen sich nun einer natürlichen Strömung zu überlassen oder aber durch die geöffnete Tür nach draußen gesaugt zu werden, denn sie verließen jetzt zügig die Bahn, während sie lauthals immer weiter miteinander redeten. Sie führten nicht etwa zu sechst ein Gespräch, sondern ein jeder sprach mit dem, der sich direkt neben ihm befand, das heißt Minobe mit Suzuki, Higashi mit Yukio und Yasui mit Ishihara. Alle zusammen wirkten sie jedoch wie ein einziger Haufen. Da sie betrunken waren, merkten sie nicht, dass in ihrem Umkreis niemand so laut sprach wie sie, doch im Grunde genommen wollten sie das auch gar nicht bemerken, geschweige denn etwas daran ändern. Ihre Gespräche rissen auch nicht ab, als sie den Bahnsteig verließen und die Treppe zur Bahnsteigsperre hinaufstiegen. Selbst als sie eine Schlange bildeten und, als wäre es ein Ritual, einer nach dem anderen dieselbe Kontrollsperre passierte, hörten sie nicht auf, lautstark Worte zu wechseln. Ishihara am Ende der Schlange stellte, kurz bevor er dran war, auf einmal fest, dass er seine Fahrkarte nicht zur Hand hatte, weshalb er vor der Schranke stehen blieb und eine Weile in seinen Hosentaschen herumkramte. Da er sein Ticket jedoch nicht fand, sprach er Yasui an, der gerade im Begriff war, die Sperre zu passieren, hieß ihn stehen zu bleiben und versuchte dann, seine Hüften an Yasuis Gesäß gepresst, gemeinsam mit ihm durch die Sperre zu gelangen. Der Sensor der Schranke reagierte, so dass sie sich zu schließen drohte. Da aber boten Yasui und Ishihara, soweit es ihnen ihr betrunkener Zustand erlaubte, alle Kräfte auf, die ihre Körper zu mobilisieren vermochten, und durchbrachen entschlossen die Sperre, woraufhin diese schließlich nachgab. Sie hätten sie wohl auch passieren können, wenn sie nicht ganz so rigoros vorgegangen wären. Aber da sie ihre Kräfte völlig unkontrolliert eingesetzt hatten, stolperten und stürzten sie vornüber. Minobe, Suzuki, Higashi und Yukio, die daneben standen, sahen grinsend zu, redeten aber selbst dabei lauthals immer weiter. Auch nach dem Verlassen der U-Bahn blieben alle dicht zusammen. Auf dem Weg zum Clubhaus dröhnten ihre Stimmen nun noch lauter als in der U-Bahn, da sie glaubten, sie wären sonst nicht zu hören. Tatsächlich schrien sie aber längst laut genug, weshalb es nicht im Geringsten nötig gewesen wäre, die Lautstärke zu erhöhen. Als sie das endlich auch selbst merkten, mäßigten sie ihr Gegröle ein wenig, doch es war immer noch ohrenbetäubend. Es übertönte den Straßenlärm und war so gar auf der gegenüberliegenden Seite der Roppongi- Straße noch zu hören. Es herrschte reger Autoverkehr, und neben den Fahr- und Auspuffgeräuschen war eine Fülle mannigfaltiger Laute und Töne zu vernehmen, deren Herkunft man im Einzelnen nicht hätte bestimmen können. Zunächst unter dem Namen Lärm gebündelt, formten sie sich zu einem unsichtbaren Strudel, und während sie - aus welchem Grund auch immer - kreisend in der Gegend herumwirbelten, stiegen sie, erwärmt von der Abendluft, in die Höhe, und als sie hoch genug schwebten, begannen sie sich von dort oben ein Bild von dem Geschehen unten zu machen, doch als die verstreuten Lichter immer schwächer und diffuser wurden, je weiter diese sich von ihren Quellen entfernten, und all diese schemenhaften Wesen schließlich zu einem einzigen Gebilde verschmolzen, erweckte dies gleichsam den Eindruck, als habe sich schwerer Rauch dort unten zusammengeballt und angestaut.
Yasui erinnerte sich daran, wie er im Alter von drei Jahren von der hohen Aussichtsplattform des T okyo Towers hinuntergeblickt hatte und darüber erschrocken gewesen war, dass die echten Autos wie kleine Spielzeugautos ausgesehen hatten. In seiner Erinnerung war es damals helllichter Tag gewesen, doch jetzt übermalte er in seiner Phantasie jene Szene mit nächtlichen Farben und sah sie aus der Vogelperspektive noch einmal vor sich. Sich mit der Hand den Schenkel haltend, der seit dem Durchbrechen der Sperre schmerzte, lief er am hintersten Ende der Sechsergruppe. Er hatte sich am Bein einen blauen Fleck zugezogen, doch wusste er noch nichts davon. Stockend und mit Unterbrechungen unterhielt er sich mit Ishihara, der seit vorhin neben ihm ging. Sie sprachen die ganze Zeit über Frauen. Seit sie die Bahnhofstreppe hinaufgestiegen waren, bildeten sie nebeneinanderher laufend stets den Schluss der sechsköpfigen Gruppe. Da sie beide betrunken waren und daher ihren Verstand nur zur Hälfte nutzten, redeten sie zusammenhanglos aneinander vorbei, und Ishihara stierte verschlafen vor sich hin. Als Yasui ihn fragte: »Sag mal, wo wollen wir denn jetzt eigentlich hin?«, antwortete er nicht, was möglicherweise daran lag, dass er die Frage gar nicht mitbekommen hatte. Yasui lief also zu diesem Zeitpunkt mit den anderen mit, ohne zu wissen, dass sie auf ein Live-Clubhaus zusteuerten. Unklar war, wer von den sechs jungen Männern überhaupt wusste, dass sie zu einem Live-Clubhaus wollten, geschweige denn, dass es das SuperDeluxe war. Zumindest Yasui hatte keinen blassen Schimmer. Ohne auch nur den geringsten Zweifel zu hegen, lief er einfach mit den anderen mit. Er kam auch gar nicht auf den Gedanken, dass er von den Sechs der Einzige sein könnte, der ohne eigene Zielvorstellungen mitging. Ständig grölte mindestens einer von ihnen irgendetwas aus voller Kehle. Gelegentlich veränderten sich die Positionen innerhalb der Gruppe, beispielsweise verringerten Minobe und Suzuki ihr Schritttempo leicht, drehten sich zurück und schauten in dieser Haltung einer gerade vorbeigehenden Frau hinterher, und während sie deren Beine - oder besser gesagt die Rückseite ihrer Knie - taxierten und miteinander redeten, überholten Schulter an Schulter Higashi und Yukio die beiden. Minobe wiederum, der sich bis dahin nur mit Suzuki unterhalten hatte, machte plötzlich zu Higashi und Yukio irgendeine Bemerkung über die Frau, die gerade an ihnen vorbeigegangen war, worauf Yukio ihm irgendetwas antwortete. Yasui, der nur mit halbem Ohr zugehört hatte, war der Inhalt des Gesagten entgangen. Schließlich war er selbst ins Gespräch mit Ishihara vertieft und zudem vor allem ziemlich betrunken, außerdem übertönte die Stimme von Suzuki, der lautstark fast nur mit sich selbst redete, alles andere, was wahrscheinlich außerdem dazu führte, dass Yasui überhaupt nichts mitbekam. Die Worte rauschten Lauten gleich, deren Sinn überhaupt keine Rolle spielte, an ihm vorbei.
Gerade noch rechtzeitig, zum Beginn der Performance um 20 Uhr, drängten sich die sechs in den Veranstaltungssaal des SuperDeluxe. Zuvor waren sie am Eingang vorbeigelaufen, ohne es zu merken, und hatten bereits eine beträchtliche Strecke zurückgelegt, als sie dies etliche Minuten später feststellten und eilig zurückkehrten. Das Schild SuperDeluxe war klein und unauffällig. Zudem hatten die sechs pausenlos miteinander geredet. Nachdem sie am Clubhaus vorbeigegangen waren, waren sie noch eine ganze Weile laut schwatzend und unbekümmert auf dem leicht abschüssigen Weg weitergelaufen. Kurze Zeit später, ungefähr dort, wo die Kreuzung von Nishi- Azabu vor ihnen auftauchte, hatte Higashi darüber nachgedacht, ob sie eventuell schon zu weit gegangen seien. Aber da liefen sie immer noch weiter bergab. Etwas später sprach Higashi diesmal laut vor sich hin: »Sind wir am Ende doch schon vorbeigegangen?« Aber auch da hielten die sechs immer noch nicht in ihrem Schritt inne, sondern setzten ihren Weg fort. Dann aber kam ihm schließlich klarer als zuvor der Gedanke, dass sie doch schon längst an ihrem Ziel vorbei waren, weshalb er stehen blieb und so laut, dass die anderen fünf es hören konnten, erklärte: »Na sowas, vielleicht sind wir ja zu weit gegangen!« Aber auch das klang eher wie ein sonderbares lautes Selbstgespräch. Zumindest kam es Higashi selbst so vor. Warum er es so gesagt hatte, wusste er auch nicht. Trotzdem blickte er sich zunächst erst einmal um und den leicht ansteigenden Weg hinauf. Dann vollzog er mit seinem ganzen Körper eine Kehrtwende, um auf dem Weg, den sie gekommen waren, zurückzukehren. Da liefen auch die anderen fünf, ohne ein Wort von sich zu geben, hinterher und den Hang wieder hinauf. Da alle nun viel aufmerksamer waren als auf dem Hinweg, das heißt auf dem Weg bergab, gelang es ihnen dieses Mal, das Schild SuperDeluxe zu entdecken. Da es ein eher unauffälliges Schild war, regten sich die sechs, kaum dass sie es gefunden hatten, fürchterlich darüber auf. Auch zu diesem Zeitpunkt wirkten sie immer noch wie ein einziger Haufen - zumindest machten sie auf Außenstehende diesen Eindruck -, und noch bevor ihr Lamentieren ein Ende fand, drückten sie - eng aneinanderklebend - die Tür auf, die zum Veranstaltungssaal führte, und drängten hinein.
Als sie nun mit einem Mal den Saal von innen erblickten, wirkte der Raum mit seiner im Verhältnis zu seiner Größe niedrigen Decke zunächst sehr flach. Hier und da standen, beliebig im Raum verstreut, ein paar niedrige Tische, umgeben von Sofas und Stühlen, jedes und jeder verschieden in Material, Farbe und Form. Sie schienen gelb oder violett zu sein - genau waren die Farben nicht zu erkennen, da es im Veranstaltungssaal ziemlich dunkel und das Licht der Beleuchtung zudem farbig war - und waren zum großen Teil mit langhaarigen Kunstfellen bedeckt. Es gab wuchtige abscheuliche Kunststoffhocker mit Krokodilledermuster in einem unglaublichen Pink sowie ziemlich große Sofas - eher Bänke - aus Plastik, zwar mit sanften Kurven, doch in asymmetrische Formen gegossen. Fast alle waren bereits von Gästen belegt, die vor ihnen gekommen waren. Die Fläche am anderen Ende des Raumes, direkt gegenüber vom Eingang, diente als Bühne, dort war der gesamte Fußboden weiß angestrahlt. In der Mitte standen dicht nebeneinander ein Standmikrophon, eine Gitarre, ein Verstärker und ein Metallrohrstuhl, zwischen denen sich diverse Kabel schlängelten. Lediglich ein niedriger Tisch mit Stühlen - gerade ausreichend für sechs Personen - direkt vor der Bühne war noch frei. Yasui hatte ihn entdeckt und steuerte rasch darauf zu. Die anderen fünf folgten ihm. Nachdem sie ihre Taschen abgestellt hatten, begaben sich alle zusammen zurück an die Bar, wo sie sich etwas zu trinken bestellten. Als sie an ihre Plätze zurückkehrten, stellten sie fest, dass sich alle für Bier entschieden hatten.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
DER ROPPONGI HILLS-KOMPLEX mit seinen zahlreichen Shopping-, Büro- und Freizeiteinrichtungen hatte im März 2003 noch nicht eröffnet, so musste man nur dem Fußweg auf der linken Seite folgen, um vom Bahnhof Roppongi zum Live-Clubhaus SuperDeluxe zu gelangen, das sich an einer leicht abfallenden Straße in Richtung des Tokyoter Stadtviertels Nishi- Azabu befand. Sie liefen zu sechst in einem Pulk. Seit ihrer Fahrt mit der Hibiya-Linie redeten sie unablässig lauthals aufeinander ein, ohne dem anderen auch nur einen Moment der Ruhe zu gönnen. Die stillen Fahrgäste um sie herum mussten wohl oder übel alles mit anhören. Nicht nur, dass es ihnen unangenehm war, sie wussten einfach nicht, wie sie sich verhalten sollten, und in ihrer Ratlosigkeit ließen sie es über sich ergehen und sich ihrer Zeit und ihres kostbaren In-sich-gekehrt-Seins berauben. Die sechs hatten sich im letzten Wagen niedergelassen, und während sich die einen rücklings an die hinterste Wand lehnten, die die Kabine des Zugführers vom Fahrgastraum trennte, rieben die anderen ihre Rücken an dem Geländer, das parallel zum Fußboden an der Wand angebracht war, sie krakeelten lautstark herum oder hörten denen zu, die herumkrakeelten. Auf Außen stehende machten sie durchaus den Eindruck, als wollten sie mit ihrem Geschrei dafür sorgen, dass das Rattern der Bahn, das ohnehin schon so gedämpft war, als würde es einen großen Bogen um die Bahn machen, noch weniger zu vernehmen war. Was allerdings nicht bedeutete, dass sich irgendjemand auch nur ansatzweise derlei Gedanken gemacht hätte. Einige der Fahrgäste, die sich in demselben Abteil befanden und sie nicht nur einfach wahrnahmen, sondern sie auch beobachteten, hatten ihre Aufmerksamkeit zugleich auf das Display ihres Handys oder die Werbeplakate gerichtet. Andere wiederum warfen diffuse Blicke auf die Füße der sechs, dies allerdings mit großer Beharrlichkeit. Alle aber zeigten keine Reaktion. Manche dachten, dass diese Typen ohnehin in Roppongi aussteigen würden und man bis dahin am besten geduldig wartete. Das war ganz richtig vermutet. Denn die sechs waren zwar ziemlich betrunken, doch kaum in Roppongi angekommen, machten sie sich gegenseitig darauf aufmerksam. Ihre Körper schienen sich nun einer natürlichen Strömung zu überlassen oder aber durch die geöffnete Tür nach draußen gesaugt zu werden, denn sie verließen jetzt zügig die Bahn, während sie lauthals immer weiter miteinander redeten. Sie führten nicht etwa zu sechst ein Gespräch, sondern ein jeder sprach mit dem, der sich direkt neben ihm befand, das heißt Minobe mit Suzuki, Higashi mit Yukio und Yasui mit Ishihara. Alle zusammen wirkten sie jedoch wie ein einziger Haufen. Da sie betrunken waren, merkten sie nicht, dass in ihrem Umkreis niemand so laut sprach wie sie, doch im Grunde genommen wollten sie das auch gar nicht bemerken, geschweige denn etwas daran ändern. Ihre Gespräche rissen auch nicht ab, als sie den Bahnsteig verließen und die Treppe zur Bahnsteigsperre hinaufstiegen. Selbst als sie eine Schlange bildeten und, als wäre es ein Ritual, einer nach dem anderen dieselbe Kontrollsperre passierte, hörten sie nicht auf, lautstark Worte zu wechseln. Ishihara am Ende der Schlange stellte, kurz bevor er dran war, auf einmal fest, dass er seine Fahrkarte nicht zur Hand hatte, weshalb er vor der Schranke stehen blieb und eine Weile in seinen Hosentaschen herumkramte. Da er sein Ticket jedoch nicht fand, sprach er Yasui an, der gerade im Begriff war, die Sperre zu passieren, hieß ihn stehen zu bleiben und versuchte dann, seine Hüften an Yasuis Gesäß gepresst, gemeinsam mit ihm durch die Sperre zu gelangen. Der Sensor der Schranke reagierte, so dass sie sich zu schließen drohte. Da aber boten Yasui und Ishihara, soweit es ihnen ihr betrunkener Zustand erlaubte, alle Kräfte auf, die ihre Körper zu mobilisieren vermochten, und durchbrachen entschlossen die Sperre, woraufhin diese schließlich nachgab. Sie hätten sie wohl auch passieren können, wenn sie nicht ganz so rigoros vorgegangen wären. Aber da sie ihre Kräfte völlig unkontrolliert eingesetzt hatten, stolperten und stürzten sie vornüber. Minobe, Suzuki, Higashi und Yukio, die daneben standen, sahen grinsend zu, redeten aber selbst dabei lauthals immer weiter. Auch nach dem Verlassen der U-Bahn blieben alle dicht zusammen. Auf dem Weg zum Clubhaus dröhnten ihre Stimmen nun noch lauter als in der U-Bahn, da sie glaubten, sie wären sonst nicht zu hören. Tatsächlich schrien sie aber längst laut genug, weshalb es nicht im Geringsten nötig gewesen wäre, die Lautstärke zu erhöhen. Als sie das endlich auch selbst merkten, mäßigten sie ihr Gegröle ein wenig, doch es war immer noch ohrenbetäubend. Es übertönte den Straßenlärm und war so gar auf der gegenüberliegenden Seite der Roppongi- Straße noch zu hören. Es herrschte reger Autoverkehr, und neben den Fahr- und Auspuffgeräuschen war eine Fülle mannigfaltiger Laute und Töne zu vernehmen, deren Herkunft man im Einzelnen nicht hätte bestimmen können. Zunächst unter dem Namen Lärm gebündelt, formten sie sich zu einem unsichtbaren Strudel, und während sie - aus welchem Grund auch immer - kreisend in der Gegend herumwirbelten, stiegen sie, erwärmt von der Abendluft, in die Höhe, und als sie hoch genug schwebten, begannen sie sich von dort oben ein Bild von dem Geschehen unten zu machen, doch als die verstreuten Lichter immer schwächer und diffuser wurden, je weiter diese sich von ihren Quellen entfernten, und all diese schemenhaften Wesen schließlich zu einem einzigen Gebilde verschmolzen, erweckte dies gleichsam den Eindruck, als habe sich schwerer Rauch dort unten zusammengeballt und angestaut.
Yasui erinnerte sich daran, wie er im Alter von drei Jahren von der hohen Aussichtsplattform des T okyo Towers hinuntergeblickt hatte und darüber erschrocken gewesen war, dass die echten Autos wie kleine Spielzeugautos ausgesehen hatten. In seiner Erinnerung war es damals helllichter Tag gewesen, doch jetzt übermalte er in seiner Phantasie jene Szene mit nächtlichen Farben und sah sie aus der Vogelperspektive noch einmal vor sich. Sich mit der Hand den Schenkel haltend, der seit dem Durchbrechen der Sperre schmerzte, lief er am hintersten Ende der Sechsergruppe. Er hatte sich am Bein einen blauen Fleck zugezogen, doch wusste er noch nichts davon. Stockend und mit Unterbrechungen unterhielt er sich mit Ishihara, der seit vorhin neben ihm ging. Sie sprachen die ganze Zeit über Frauen. Seit sie die Bahnhofstreppe hinaufgestiegen waren, bildeten sie nebeneinanderher laufend stets den Schluss der sechsköpfigen Gruppe. Da sie beide betrunken waren und daher ihren Verstand nur zur Hälfte nutzten, redeten sie zusammenhanglos aneinander vorbei, und Ishihara stierte verschlafen vor sich hin. Als Yasui ihn fragte: »Sag mal, wo wollen wir denn jetzt eigentlich hin?«, antwortete er nicht, was möglicherweise daran lag, dass er die Frage gar nicht mitbekommen hatte. Yasui lief also zu diesem Zeitpunkt mit den anderen mit, ohne zu wissen, dass sie auf ein Live-Clubhaus zusteuerten. Unklar war, wer von den sechs jungen Männern überhaupt wusste, dass sie zu einem Live-Clubhaus wollten, geschweige denn, dass es das SuperDeluxe war. Zumindest Yasui hatte keinen blassen Schimmer. Ohne auch nur den geringsten Zweifel zu hegen, lief er einfach mit den anderen mit. Er kam auch gar nicht auf den Gedanken, dass er von den Sechs der Einzige sein könnte, der ohne eigene Zielvorstellungen mitging. Ständig grölte mindestens einer von ihnen irgendetwas aus voller Kehle. Gelegentlich veränderten sich die Positionen innerhalb der Gruppe, beispielsweise verringerten Minobe und Suzuki ihr Schritttempo leicht, drehten sich zurück und schauten in dieser Haltung einer gerade vorbeigehenden Frau hinterher, und während sie deren Beine - oder besser gesagt die Rückseite ihrer Knie - taxierten und miteinander redeten, überholten Schulter an Schulter Higashi und Yukio die beiden. Minobe wiederum, der sich bis dahin nur mit Suzuki unterhalten hatte, machte plötzlich zu Higashi und Yukio irgendeine Bemerkung über die Frau, die gerade an ihnen vorbeigegangen war, worauf Yukio ihm irgendetwas antwortete. Yasui, der nur mit halbem Ohr zugehört hatte, war der Inhalt des Gesagten entgangen. Schließlich war er selbst ins Gespräch mit Ishihara vertieft und zudem vor allem ziemlich betrunken, außerdem übertönte die Stimme von Suzuki, der lautstark fast nur mit sich selbst redete, alles andere, was wahrscheinlich außerdem dazu führte, dass Yasui überhaupt nichts mitbekam. Die Worte rauschten Lauten gleich, deren Sinn überhaupt keine Rolle spielte, an ihm vorbei.
Gerade noch rechtzeitig, zum Beginn der Performance um 20 Uhr, drängten sich die sechs in den Veranstaltungssaal des SuperDeluxe. Zuvor waren sie am Eingang vorbeigelaufen, ohne es zu merken, und hatten bereits eine beträchtliche Strecke zurückgelegt, als sie dies etliche Minuten später feststellten und eilig zurückkehrten. Das Schild SuperDeluxe war klein und unauffällig. Zudem hatten die sechs pausenlos miteinander geredet. Nachdem sie am Clubhaus vorbeigegangen waren, waren sie noch eine ganze Weile laut schwatzend und unbekümmert auf dem leicht abschüssigen Weg weitergelaufen. Kurze Zeit später, ungefähr dort, wo die Kreuzung von Nishi- Azabu vor ihnen auftauchte, hatte Higashi darüber nachgedacht, ob sie eventuell schon zu weit gegangen seien. Aber da liefen sie immer noch weiter bergab. Etwas später sprach Higashi diesmal laut vor sich hin: »Sind wir am Ende doch schon vorbeigegangen?« Aber auch da hielten die sechs immer noch nicht in ihrem Schritt inne, sondern setzten ihren Weg fort. Dann aber kam ihm schließlich klarer als zuvor der Gedanke, dass sie doch schon längst an ihrem Ziel vorbei waren, weshalb er stehen blieb und so laut, dass die anderen fünf es hören konnten, erklärte: »Na sowas, vielleicht sind wir ja zu weit gegangen!« Aber auch das klang eher wie ein sonderbares lautes Selbstgespräch. Zumindest kam es Higashi selbst so vor. Warum er es so gesagt hatte, wusste er auch nicht. Trotzdem blickte er sich zunächst erst einmal um und den leicht ansteigenden Weg hinauf. Dann vollzog er mit seinem ganzen Körper eine Kehrtwende, um auf dem Weg, den sie gekommen waren, zurückzukehren. Da liefen auch die anderen fünf, ohne ein Wort von sich zu geben, hinterher und den Hang wieder hinauf. Da alle nun viel aufmerksamer waren als auf dem Hinweg, das heißt auf dem Weg bergab, gelang es ihnen dieses Mal, das Schild SuperDeluxe zu entdecken. Da es ein eher unauffälliges Schild war, regten sich die sechs, kaum dass sie es gefunden hatten, fürchterlich darüber auf. Auch zu diesem Zeitpunkt wirkten sie immer noch wie ein einziger Haufen - zumindest machten sie auf Außenstehende diesen Eindruck -, und noch bevor ihr Lamentieren ein Ende fand, drückten sie - eng aneinanderklebend - die Tür auf, die zum Veranstaltungssaal führte, und drängten hinein.
Als sie nun mit einem Mal den Saal von innen erblickten, wirkte der Raum mit seiner im Verhältnis zu seiner Größe niedrigen Decke zunächst sehr flach. Hier und da standen, beliebig im Raum verstreut, ein paar niedrige Tische, umgeben von Sofas und Stühlen, jedes und jeder verschieden in Material, Farbe und Form. Sie schienen gelb oder violett zu sein - genau waren die Farben nicht zu erkennen, da es im Veranstaltungssaal ziemlich dunkel und das Licht der Beleuchtung zudem farbig war - und waren zum großen Teil mit langhaarigen Kunstfellen bedeckt. Es gab wuchtige abscheuliche Kunststoffhocker mit Krokodilledermuster in einem unglaublichen Pink sowie ziemlich große Sofas - eher Bänke - aus Plastik, zwar mit sanften Kurven, doch in asymmetrische Formen gegossen. Fast alle waren bereits von Gästen belegt, die vor ihnen gekommen waren. Die Fläche am anderen Ende des Raumes, direkt gegenüber vom Eingang, diente als Bühne, dort war der gesamte Fußboden weiß angestrahlt. In der Mitte standen dicht nebeneinander ein Standmikrophon, eine Gitarre, ein Verstärker und ein Metallrohrstuhl, zwischen denen sich diverse Kabel schlängelten. Lediglich ein niedriger Tisch mit Stühlen - gerade ausreichend für sechs Personen - direkt vor der Bühne war noch frei. Yasui hatte ihn entdeckt und steuerte rasch darauf zu. Die anderen fünf folgten ihm. Nachdem sie ihre Taschen abgestellt hatten, begaben sich alle zusammen zurück an die Bar, wo sie sich etwas zu trinken bestellten. Als sie an ihre Plätze zurückkehrten, stellten sie fest, dass sich alle für Bier entschieden hatten.
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Autoren-Porträt von Toshiki Okada
Toshiki Okada ist Theaterautor, Regisseur und Schriftsteller und u¨ber Japans Grenzen hinaus bekannt. Besonders in Deutschland hat er eine Fangemeinde. 1997 gru¨ndete er die Theatergruppe Chelfitsch, deren Stu¨cke eine Mischung aus Sprechtheater und Tanz sind. Okada wurde 1973 in Yokohama geboren. 'Die Zeit die uns bleibt' ist sein erster Roman und wurde 2008 mit dem Kenzaburo- Preis ausgezeichnet. Heike Patzschke, geboren 1959, arbeitet seit 1994 als freiberufliche Dolmetscherin und Übersetzerin fu¨r Japanisch. Sie dolmetschte bisher fu¨r den Nobelpreisträger Kenzaburo - O- e, fu¨r Haruki Murakami und Saiichi Maruya und u¨bersetzte unter anderem Werke von Mori O-gai, Ryo-taro-Shiba und Mizuko Masuda. Patzschke, HeikeHeike Patzschke, geboren 1959, arbeitet seit 1994 als freiberufliche Dolmetscherin und Übersetzerin für Japanisch. Sie dolmetschte bisher für den Nobelpreisträger Kenzaburo Oe, für Haruki Murakami und Saiichi Maruya und übersetzte unter anderem Werke von Mori Ogai, Ryotaro Shiba und Mizuko Masuda.
Bibliographische Angaben
- Autor: Toshiki Okada
- 2012, 1. Auflage, 160 Seiten, Maße: 12,7 x 21,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Heike Patzschke
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100540174
- ISBN-13: 9783100540171
- Erscheinungsdatum: 05.10.2012
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