Der Mensch ist verschieden
Dreiunddreißig Charaktere
Mit „Der Mensch ist verschieden" hat das Ehepaar Köhlmeier eine humorvoll moderne Interpretation von Theophrasts „Charakterlehre" verfasst.
In 33 Beschreibungen zu unterschiedlichen Charakteren werden die verschiedenen...
In 33 Beschreibungen zu unterschiedlichen Charakteren werden die verschiedenen...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Mensch ist verschieden “
Mit „Der Mensch ist verschieden" hat das Ehepaar Köhlmeier eine humorvoll moderne Interpretation von Theophrasts „Charakterlehre" verfasst.
In 33 Beschreibungen zu unterschiedlichen Charakteren werden die verschiedenen Eigenschaften zu jedem Typen erläutert. Vom Unfertigen, über den Gewohnheitsmenschen bis zur Liebessüchtigen findet jeder Gleichheiten und Übereinstimmungen mit dem ein oder anderen Typen. Mit humorvollen Anekdoten, wiedergegeben als übertriebener Dialog, und überzogenen Charakterisierungen verstehen Michael und Monika Köhlmeier es wie kein anderes Paar, dem Leser Eigenheiten unterschiedlichster Menschen nahe zu bringen.
Klappentext zu „Der Mensch ist verschieden “
33 MENSCHLICHE CHARAKTERTYPEN - ACHTUNG: SELBSTERKENNTNIS-GEFAHR!Sind Sie der Erfolgsverwöhnte oder mehr der Versagende? Die Schweigerin oder doch eher die Auseinandersetzerin? Der Immerzu-Dankbare, der Nimmersatte oder gar die Feinste von den Feinen? Monika Helfer und Michael Köhlmeier stellen uns einen bunten Reigen an menschlichen Charaktertypen vor. Fantasievoll und erfinderisch erzählt das Schriftstellerehepaar vom Kunstverliebten und dem Magenleidenden, vom Gewohnheitsmenschen, der Einsamen und der Eingebildet-Vergesslichen. Und wer sich vor Selbsterkenntnis nicht scheut, kann sich im ein oder der anderen wiedererkennen.DIE EINZIGE ANTIKE CHARAKTERLEHRE MODERN INTERPRETIERTAls Nacherzähler antiker Stoffe beliebt und geschätzt, hat Köhlmeier gemeinsam mit seiner Frau den griechischen Philosophen Theophrast für das 21. Jahrhundert entdeckt. Die "Charaktere" des Theophrast, Nachfolger des großen Aristoteles in dessen Schule, bilden die erste und einzige Charakterlehre des Hellenismus, die zum Vorbild wurde für viele folgende bis hin zu Elias Canettis "Der Ohrenzeuge". Mit Blick auf den Menschen der Gegenwart betreiben Monika Helfer und Michael Köhlmeier seine berühmten Charakterstudien weiter. Anhand von besonderen und alltäglichen Situationen oder auch gewitzten Dialogen halten sie uns den Spiegel vor - ein Geschenkbuch mit philosophischem Mehrwert und Selbsterkenntnis-Gefahr.
Lese-Probe zu „Der Mensch ist verschieden “
Monika Helfer, Michael Köhlmeier - Der Mensch ist verschiedenInhalt
7 Der Gewohnheitsmensch
11 Die Liebessüchtige
15 Die Einsame
19 Die Abgeklärte
21 Der Abgeklärte, zehnjährig
23 Der Stumpfsinnige
25 Die Schweigerin
27 Der Langanhaltend-Traurige
29 Die Feinste von den Feinen
31 Der Wüstenmacher
33 Der Vampirgewordene
37 Der Abgestürzte
39 Der Nimmersatte
43 Der Uferlose und die Furchtsame
in Verbindung
45 Der Magenleidende
49 Der Sich-Unterwerfende
53 Die Eingebildet-Vergessliche
57 Der Immerzu-Dankbare
61 Der die Frauen sammelt
65 Der Gottkenner
67 Der-im-Spiegel
69 Die Kraftlos-Begabte
71 Die Extreme
75 Der Zaunzieher
77 Der Unfertige
81 Der Wortschöpfende
83 Der Nicht-an-das-Böse-
Glaubende
87 Die Kunstverliebte
91 Der Erfolgsverwöhnte
93 Der Versagende
97 Die Auseinandersetzerin
101 Der Bunte
105 Von den Affen
1 Der Gewohnheitsmensch
Über die Gewohnheit wurde schon viel geschrieben, und es
gibt keinen Menschen und gab nie einen, der, vorausgesetzt
es ward ihm genügend Zeit gegeben, nicht über sie nachgedacht
hätte.
Aus dem Lehm der Instinkte formt der Gewohnheitsmensch
die Seele, indem er nicht ruht, ein Gleiches oder doch ein Ähnliches
zu tun, immer wieder - Frühstück, Mittagessen, Abendessen,
Spaziergang, Fernsehen, Gespräche mit der geliebten
Frau, Gespräche mit dem geliebten Mann über die immer
gleichen geliebten Themen ... - Was anderes ist Zivilisation
als Wiederholung. Die Kunst der Gewohnheit ist die wahre
Lebenskunst; sie ist die einzige Lebenskunst.
... mehr
Die Meinungen aber, ab wann etwas zur Gewohnheit wird,
gehen auseinander. Die einen sagen: Von Gewohnheit lässt sich
bereits sprechen, wenn ein Mensch irgendetwas zum zweiten
Mal genauso oder ähnlich tut wie beim ersten Mal. Andere
sagen, es könne erst beim dritten Mal von Gewohnheit gesprochen
werden, weil einmal und zweimal den Zufällen des
Tages geschuldet sein könnten. Dann gibt es jene, die sich mit
dem bloßen Aspekt der Wiederholung einer Sache oder einer
Handlung nicht zufrieden geben, die zusätzlich fordern, die
Wiederholung dürfe kein planmäßiges Ziel einer Absicht sein;
müsse also aus dem quasi Vegetativen, aus einem Automatismus,
einem Ritual, besser: aus dem Ritus heraus geschehen,
der seine Blüte erst entfalte, wenn sein Ursprung vergessen sei.
Letztere bestreiten, dass der Mensch sich zu einer Gewohnheit
entschließen könne; eine beabsichtigte Gewohnheit gehe
schon bald in der Langeweile unter.
Auch über die Frage, ob man nur beim Menschen oder auch
bei den Tieren, vielleicht sogar bei den Pflanzen von Gewohnheit
sprechen soll, wird debattiert; ebenso die Frage, was Gewohnheit
in einem philosophisch-metaphysischen Sinn denn
überhaupt sei. (Ob sie gottgewollt sei?) Die einen sagen, in der
Gewohnheit ritualisiere sich die Urangst des Menschen vor
Seinesgleichen. Die anderen spekulieren, in ihr manifestiere
sich der Aufschrei gegen die fressende, vernichtende, alles
dem Vergessen anheimgebende Zeit. Beide Schulen sind sich
darin einig, dass die Gewohnheit erst den Menschen zum Menschen
mache, denn ohne Erinnern sei Gewohnheit nicht denkbar,
und nur die Fähigkeit, sich zu erinnern, gründe Kultur,
Zivilisation, Staat und Religion. Dem widerspricht der Besitzer
einer Hauskatze. Seine jedenfalls, argumentiert er, erinnere
sich, wo das Loch in der Tür sei, durch das sie ins Freie und
vom Freien zurück ins Haus komme.
Der Gewohnheitsmensch wirft zu einer genauen Tageszeit
einen Stein aus dem Fenster, holt ihn wieder herein und legt
ihn für den nächsten Tag auf dem Fenstersims bereit. Er ruht
sich auf seinem Spaziergang immer unter demselben Baum
aus, ob es regnet oder schneit, ob er müde ist oder nicht. Er
schaut ins Tal und steht soldatisch, wenn die Kirchturmglocke
zu läuten beginnt, genau dann, immer wieder, und das, obwohl
er aus der Kirche ausgetreten ist und an Gott nicht glaubt. Genau
so, hofft er, wiedergeboren zu werden.
2 Die Liebessüchtige
Liebessucht ist wie Krieg. Jede der beiden Parteien sagt: Wenn
du so wärst, wie ich möchte, dass du bist, dann gäbe es keinen
Krieg, also trägst du die Schuld. (Würde diese Definition nicht
eher zu einer Überschrift wie Die Liebeskriegerin oder Die
Hassliebende oder Die Eifersüchtige passen? Wir folgen der
Definition von Sucht, nämlich, dass sie darin besteht, nicht
aufhören zu können, und stellen fest, dass die Liebessüchtige
nicht aufhören kann, Liebe zu wollen und sie auch bewiesen
zu bekommen, zu jeder Stunde, an jedem Ort, was über kurz
oder lang in Tyrannei ausartet, die über kurz oder lang zu Rebellion
und Krieg führt, in dem sich, wie in jedem Krieg, die
Frage stellt, wer trägt die Schuld, was von der Liebessüchtigen,
wie oben beschrieben, beantwortet wird.)
„Wo warst du?"
„Muss ich dir antworten?"
„Niemand muss irgendetwas. Ich frage nur. Darf ich dich
fragen, wo du warst?"
„Du darfst. Aber ich möchte dir nicht antworten."
„Ich weiß es ohnehin. Ich wollte dir nur die Möglichkeit
geben, ehrlich zu sein."
„Ich antworte dir nicht, weil ich nicht unehrlich sein möchte."
„Das sagt alles."
„Was sagt das? Also bitte, was sagt das!"
„Das sagt: Wenn du redest, lügst du. Du schweigst, um nicht
zu lügen. Also lügst du, wenn du redest. Also schweigst du."
„Ich schweige ja gar nicht. Ich rede nicht weniger als du."
„Aber du sagst mir nicht, wo du warst. Ich ertrage dieses
Leben nicht mehr. Wenn du aus meinen Augen bist, stelle ich
mir alles Mögliche vor, und womöglich stellst du Sachen an,
die ich mir gar nicht vorstellen kann."
„Ich glaube, ich wäre entsetzt, wüsste ich, was du dir alles
vorstellst, dass ich anstelle."
„Wenn du nicht bei mir bist, bist du dann so, wie wenn du
bei mir bist?"
Wird die Liebessüchtige von ihrer Lust okkupiert wie ein friedliebendes
Land von einer militärischen Supermacht, dann
schlüpft sie in seidene Unterwäsche, als wäre sie ihre Uniform,
parfümiert sich, als wäre jedes Dufttröpfchen eine Patrone,
und setzt sich zwischen ihre Rosen wie in einen Jeep. Trotzdem:
Das ist alles nur, als würde alter Kohl aufgewärmt. So
sinnlos! So schamlos!
Die Liebessüchtige weiß, Bewunderung erfährt der Mensch
nur, wenn er sich den Anschein zu geben versteht, dass seine
Vorzüge - Herkunft, Schönheit, Talent - ihm gegeben wurden;
glauben die Leute, sie stammten aus eigener Hand, rümpfen
sie die Nase. Fleiß auf diesem Gebiet wird nicht geschätzt.
Dabei: Was für einer Mühe bedarf es, sich die Sterne selber
vom Himmel zu holen! Die ganze Innung ist blamiert! Anstatt
mit Kusshand zu nehmen, was übrig geblieben ist, resignierte
die Liebessüchtige verflossenen Stunden hinterher: „Man flog
durch die Luft und ging zu Boden ..." - Gewesene Pracht! -
„Der Krieg war das Beste an uns!" - „Die Liebesnächte in der
Rudolf-Hilferding-Straße sind unauslöschlich!"
Immer ist der Ort der Liebessüchtigen entweder ein potemkinsches
Dorf oder ein zerwühltes Bett oder der Schützengraben.
Was muss man alles tun, um die Engel im Himmel
pfeifen zu hören?
Um festzustellen, dass sich einer vom anderen unterscheidet
und somit unvergleichlich ist, benötigen wir die Liebe -
die Nase zum Riechen, die Ohren zum Hören, die Liebe, um
ein Individuum vom anderen zu unterscheiden.
„Du hast auf mich gewartet? Bitte, frag mich nicht wieder, wo
ich war."
„Tu ich doch gar nicht. Ich dachte, du wirst Hunger haben.
Ich habe etwas Kleines vorbereitet."
„Ein bisschen Hunger habe ich, das ist wahr."
„Einen Salat. Einen Brotsalat."
„Ein Brotsalat? Was ist das?"
„Ich dachte, es ist nicht gut, wenn du mitten in der Nacht
etwas Rohes isst ... Gurkensalat oder so ..."
„Es ist nicht mitten in der Nacht. Es ist über drei Uhr morgens
..."
„Ich habe nichts gesagt. Ich frage dich nicht, wo du warst ..."
„Dann tu es nicht."
„Ich tu es nicht. Ich wollte sagen ... Ich habe Zwiebeln und
getrocknete Tomaten in Öl angebraten, Knoblauch, nicht viel,
dann Brotbröckchen dazu, vom frischen Brot, von unserem
Roggenbrot, ebenfalls kross geröstet, in einer anderen Pfanne
habe ich Streifen von Hühnerbrust angebraten, mit Sambal
Oelek gewürzt, was soll ich sagen, ganz ohne etwas Grünes geht
es ja doch nicht, ich habe im Supermarkt Salatherzen gekauft
und Rucola, es wird so eine Art Caesar Salad, Parmesan darüber
gehobelt und eine Joghurt-Sauce mit Olivenöl und dem
guten italienischen Essig, den du gekauft hast ... am Schluss
den Rucola darüber, trocken, einfach so ... Magst du probieren?"
„Und du lässt mich essen, und du wirst nicht ..."
„Nicht eine Frage werde ich dir stellen."
Die Liebessüchtige altert nicht. An ihrem Ende ist sie immer
noch eine Jugendliche, eine gebrechliche Jugendliche zwar,
aber eine Jugendliche.
3 Die Einsame
Es gibt eine intentionale und eine existentielle Einsamkeit. Erstere
dauert nur eine gewisse Zeit, ein paar Jahre vielleicht,
meistens vom Tod zurückgerechnet. Die letztere beginnt eigentlich
mit der Geburt. An die erstere gewöhnt man sich mit
der Zeit, an die letztere nie. Beide interessieren uns in diesem
Zusammenhang nicht - wohl aber der Übergang von einer zur
anderen: diesen schwankenden, an seinen Grenzen undeutlichen
Zustand nennen wir die Einsamkeit an und für sich.
Die, von der man behauptet, sie sei freiwillig einsam, es sei also
ihre Intension, einsam zu sein, leidet in Wahrheit unter der
Einsamkeit und wäre viel lieber eine, die in der Gesellschaft
mitlacht.
Die Leute, im Bewusstsein tolerant zu sein, gönnen
ihr die Einsamkeit und lachen in ihrer Gegenwart nicht. Die
Einsame erfüllt allmählich ihr eigenes, vielleicht selbst verschuldetes,
jedoch nicht von Anfang an beabsichtigtes Image
und tut wie eine, die gern einsam ist: Sie sitzt unter Bäumen
und hält Zwiesprache mit den Tieren, im Winter mit denen
unter der Erde, im Frühling mit den Vögeln, die einander zuzwitschern.
Steht im Februar eine Gams am Waldrand, schauen sich
Mensch und Tier an. Die Einsame aber denkt: Die Gams ist
eine Verwandte des Teufels, sie interessiert sich für mich, sie
ist gesandt worden und will mich den Felsen hinunterjagen.
Dann fällt ihr ein, dass Satan der Einsamste der Einsamen ist
und dass seine Einsamkeit ganz aus Mangel gemacht ist, nämlich
aus Gottesferne. So ist dieses Tier, denkt die Einsame und
schaut der Gams in die Augen, inmitten der Natur, die Gott
gemacht hat, fern der Natur. So, denkt die Einsame, wie ich
inmitten der Menschen fern von ihnen bin. Und sie erinnert
sich an einen Besuch im Museum zusammen mit einem Mann,
der sie geliebt hat und von dem sie geliebt worden war, vorausgesetzt,
er hat ihr die Wahrheit gesagt. Sie waren vor einem
Gemälde gestanden, das eine Frau und einen Mann zeigte, die
sich ansahen, und sie, die damals noch nicht Einsame, die aber
bereits ahnte, dass sie bald einsam sein würde, hatte zu ihm,
ihrem Geliebten, gesagt: „Schau, die beiden, welche Sehnsucht
in ihren Augen!" Und er, er hatte geantwortet: „Sie leben in
der zweidimensionalen Welt des Bildes. Sie können nie zueinander
finden. Ebenso wenig, wie du zu einem deiner Vorfahren
finden kannst."
Manchmal gelingt es der Einsamen, doppelt wahrzunehmen,
und oftmals entgegengesetzt. Ist sie so unvorsichtig, diese Erkenntnis
jemandem mitzuteilen, und wird gefragt, was sie genau
damit meine, gerät sie ins Stocken und findet keine Worte
dafür. Zu Hause fragt sie sich: Ja, was meine ich damit? Ich
sah das Bild im Museum, und es tat mir wohl, weil ich meinte,
es beweise, dass Sehnsucht nicht nur wehtut. Zugleich wusste
ich, dass sich die Frau und der Mann auf dem Bild nie, nie, nie
würden berühren können. Nur jemand, der einsam sein will
und es doch nicht sein will, der mitlachen will und es doch
nicht will, kann das verstehen.
Sieht sie glänzend schwarzen Salamandern zu, die sich auf
der feuchten Erde paaren, überfällt die Einsame alles Elend.
Denn nun sieht sie ja: Vor ihren Augen bewegt sich die Kreatur
in Gottes Gegenwart.
Zu Hause sitzt die Einsame am Bettrand und hört überlaut
Musik. Ein Mensch streckt den Kopf zur Tür herein und
sagt mir zorniger Stimme, sie tue gerade so, als ob sie allein
auf der Welt wäre.
„Ich bin allein", sagt die Einsame. "Ihr tut gerade so, als wäret ihr nicht allein."
©Haymon Verlag
Die Meinungen aber, ab wann etwas zur Gewohnheit wird,
gehen auseinander. Die einen sagen: Von Gewohnheit lässt sich
bereits sprechen, wenn ein Mensch irgendetwas zum zweiten
Mal genauso oder ähnlich tut wie beim ersten Mal. Andere
sagen, es könne erst beim dritten Mal von Gewohnheit gesprochen
werden, weil einmal und zweimal den Zufällen des
Tages geschuldet sein könnten. Dann gibt es jene, die sich mit
dem bloßen Aspekt der Wiederholung einer Sache oder einer
Handlung nicht zufrieden geben, die zusätzlich fordern, die
Wiederholung dürfe kein planmäßiges Ziel einer Absicht sein;
müsse also aus dem quasi Vegetativen, aus einem Automatismus,
einem Ritual, besser: aus dem Ritus heraus geschehen,
der seine Blüte erst entfalte, wenn sein Ursprung vergessen sei.
Letztere bestreiten, dass der Mensch sich zu einer Gewohnheit
entschließen könne; eine beabsichtigte Gewohnheit gehe
schon bald in der Langeweile unter.
Auch über die Frage, ob man nur beim Menschen oder auch
bei den Tieren, vielleicht sogar bei den Pflanzen von Gewohnheit
sprechen soll, wird debattiert; ebenso die Frage, was Gewohnheit
in einem philosophisch-metaphysischen Sinn denn
überhaupt sei. (Ob sie gottgewollt sei?) Die einen sagen, in der
Gewohnheit ritualisiere sich die Urangst des Menschen vor
Seinesgleichen. Die anderen spekulieren, in ihr manifestiere
sich der Aufschrei gegen die fressende, vernichtende, alles
dem Vergessen anheimgebende Zeit. Beide Schulen sind sich
darin einig, dass die Gewohnheit erst den Menschen zum Menschen
mache, denn ohne Erinnern sei Gewohnheit nicht denkbar,
und nur die Fähigkeit, sich zu erinnern, gründe Kultur,
Zivilisation, Staat und Religion. Dem widerspricht der Besitzer
einer Hauskatze. Seine jedenfalls, argumentiert er, erinnere
sich, wo das Loch in der Tür sei, durch das sie ins Freie und
vom Freien zurück ins Haus komme.
Der Gewohnheitsmensch wirft zu einer genauen Tageszeit
einen Stein aus dem Fenster, holt ihn wieder herein und legt
ihn für den nächsten Tag auf dem Fenstersims bereit. Er ruht
sich auf seinem Spaziergang immer unter demselben Baum
aus, ob es regnet oder schneit, ob er müde ist oder nicht. Er
schaut ins Tal und steht soldatisch, wenn die Kirchturmglocke
zu läuten beginnt, genau dann, immer wieder, und das, obwohl
er aus der Kirche ausgetreten ist und an Gott nicht glaubt. Genau
so, hofft er, wiedergeboren zu werden.
2 Die Liebessüchtige
Liebessucht ist wie Krieg. Jede der beiden Parteien sagt: Wenn
du so wärst, wie ich möchte, dass du bist, dann gäbe es keinen
Krieg, also trägst du die Schuld. (Würde diese Definition nicht
eher zu einer Überschrift wie Die Liebeskriegerin oder Die
Hassliebende oder Die Eifersüchtige passen? Wir folgen der
Definition von Sucht, nämlich, dass sie darin besteht, nicht
aufhören zu können, und stellen fest, dass die Liebessüchtige
nicht aufhören kann, Liebe zu wollen und sie auch bewiesen
zu bekommen, zu jeder Stunde, an jedem Ort, was über kurz
oder lang in Tyrannei ausartet, die über kurz oder lang zu Rebellion
und Krieg führt, in dem sich, wie in jedem Krieg, die
Frage stellt, wer trägt die Schuld, was von der Liebessüchtigen,
wie oben beschrieben, beantwortet wird.)
„Wo warst du?"
„Muss ich dir antworten?"
„Niemand muss irgendetwas. Ich frage nur. Darf ich dich
fragen, wo du warst?"
„Du darfst. Aber ich möchte dir nicht antworten."
„Ich weiß es ohnehin. Ich wollte dir nur die Möglichkeit
geben, ehrlich zu sein."
„Ich antworte dir nicht, weil ich nicht unehrlich sein möchte."
„Das sagt alles."
„Was sagt das? Also bitte, was sagt das!"
„Das sagt: Wenn du redest, lügst du. Du schweigst, um nicht
zu lügen. Also lügst du, wenn du redest. Also schweigst du."
„Ich schweige ja gar nicht. Ich rede nicht weniger als du."
„Aber du sagst mir nicht, wo du warst. Ich ertrage dieses
Leben nicht mehr. Wenn du aus meinen Augen bist, stelle ich
mir alles Mögliche vor, und womöglich stellst du Sachen an,
die ich mir gar nicht vorstellen kann."
„Ich glaube, ich wäre entsetzt, wüsste ich, was du dir alles
vorstellst, dass ich anstelle."
„Wenn du nicht bei mir bist, bist du dann so, wie wenn du
bei mir bist?"
Wird die Liebessüchtige von ihrer Lust okkupiert wie ein friedliebendes
Land von einer militärischen Supermacht, dann
schlüpft sie in seidene Unterwäsche, als wäre sie ihre Uniform,
parfümiert sich, als wäre jedes Dufttröpfchen eine Patrone,
und setzt sich zwischen ihre Rosen wie in einen Jeep. Trotzdem:
Das ist alles nur, als würde alter Kohl aufgewärmt. So
sinnlos! So schamlos!
Die Liebessüchtige weiß, Bewunderung erfährt der Mensch
nur, wenn er sich den Anschein zu geben versteht, dass seine
Vorzüge - Herkunft, Schönheit, Talent - ihm gegeben wurden;
glauben die Leute, sie stammten aus eigener Hand, rümpfen
sie die Nase. Fleiß auf diesem Gebiet wird nicht geschätzt.
Dabei: Was für einer Mühe bedarf es, sich die Sterne selber
vom Himmel zu holen! Die ganze Innung ist blamiert! Anstatt
mit Kusshand zu nehmen, was übrig geblieben ist, resignierte
die Liebessüchtige verflossenen Stunden hinterher: „Man flog
durch die Luft und ging zu Boden ..." - Gewesene Pracht! -
„Der Krieg war das Beste an uns!" - „Die Liebesnächte in der
Rudolf-Hilferding-Straße sind unauslöschlich!"
Immer ist der Ort der Liebessüchtigen entweder ein potemkinsches
Dorf oder ein zerwühltes Bett oder der Schützengraben.
Was muss man alles tun, um die Engel im Himmel
pfeifen zu hören?
Um festzustellen, dass sich einer vom anderen unterscheidet
und somit unvergleichlich ist, benötigen wir die Liebe -
die Nase zum Riechen, die Ohren zum Hören, die Liebe, um
ein Individuum vom anderen zu unterscheiden.
„Du hast auf mich gewartet? Bitte, frag mich nicht wieder, wo
ich war."
„Tu ich doch gar nicht. Ich dachte, du wirst Hunger haben.
Ich habe etwas Kleines vorbereitet."
„Ein bisschen Hunger habe ich, das ist wahr."
„Einen Salat. Einen Brotsalat."
„Ein Brotsalat? Was ist das?"
„Ich dachte, es ist nicht gut, wenn du mitten in der Nacht
etwas Rohes isst ... Gurkensalat oder so ..."
„Es ist nicht mitten in der Nacht. Es ist über drei Uhr morgens
..."
„Ich habe nichts gesagt. Ich frage dich nicht, wo du warst ..."
„Dann tu es nicht."
„Ich tu es nicht. Ich wollte sagen ... Ich habe Zwiebeln und
getrocknete Tomaten in Öl angebraten, Knoblauch, nicht viel,
dann Brotbröckchen dazu, vom frischen Brot, von unserem
Roggenbrot, ebenfalls kross geröstet, in einer anderen Pfanne
habe ich Streifen von Hühnerbrust angebraten, mit Sambal
Oelek gewürzt, was soll ich sagen, ganz ohne etwas Grünes geht
es ja doch nicht, ich habe im Supermarkt Salatherzen gekauft
und Rucola, es wird so eine Art Caesar Salad, Parmesan darüber
gehobelt und eine Joghurt-Sauce mit Olivenöl und dem
guten italienischen Essig, den du gekauft hast ... am Schluss
den Rucola darüber, trocken, einfach so ... Magst du probieren?"
„Und du lässt mich essen, und du wirst nicht ..."
„Nicht eine Frage werde ich dir stellen."
Die Liebessüchtige altert nicht. An ihrem Ende ist sie immer
noch eine Jugendliche, eine gebrechliche Jugendliche zwar,
aber eine Jugendliche.
3 Die Einsame
Es gibt eine intentionale und eine existentielle Einsamkeit. Erstere
dauert nur eine gewisse Zeit, ein paar Jahre vielleicht,
meistens vom Tod zurückgerechnet. Die letztere beginnt eigentlich
mit der Geburt. An die erstere gewöhnt man sich mit
der Zeit, an die letztere nie. Beide interessieren uns in diesem
Zusammenhang nicht - wohl aber der Übergang von einer zur
anderen: diesen schwankenden, an seinen Grenzen undeutlichen
Zustand nennen wir die Einsamkeit an und für sich.
Die, von der man behauptet, sie sei freiwillig einsam, es sei also
ihre Intension, einsam zu sein, leidet in Wahrheit unter der
Einsamkeit und wäre viel lieber eine, die in der Gesellschaft
mitlacht.
Die Leute, im Bewusstsein tolerant zu sein, gönnen
ihr die Einsamkeit und lachen in ihrer Gegenwart nicht. Die
Einsame erfüllt allmählich ihr eigenes, vielleicht selbst verschuldetes,
jedoch nicht von Anfang an beabsichtigtes Image
und tut wie eine, die gern einsam ist: Sie sitzt unter Bäumen
und hält Zwiesprache mit den Tieren, im Winter mit denen
unter der Erde, im Frühling mit den Vögeln, die einander zuzwitschern.
Steht im Februar eine Gams am Waldrand, schauen sich
Mensch und Tier an. Die Einsame aber denkt: Die Gams ist
eine Verwandte des Teufels, sie interessiert sich für mich, sie
ist gesandt worden und will mich den Felsen hinunterjagen.
Dann fällt ihr ein, dass Satan der Einsamste der Einsamen ist
und dass seine Einsamkeit ganz aus Mangel gemacht ist, nämlich
aus Gottesferne. So ist dieses Tier, denkt die Einsame und
schaut der Gams in die Augen, inmitten der Natur, die Gott
gemacht hat, fern der Natur. So, denkt die Einsame, wie ich
inmitten der Menschen fern von ihnen bin. Und sie erinnert
sich an einen Besuch im Museum zusammen mit einem Mann,
der sie geliebt hat und von dem sie geliebt worden war, vorausgesetzt,
er hat ihr die Wahrheit gesagt. Sie waren vor einem
Gemälde gestanden, das eine Frau und einen Mann zeigte, die
sich ansahen, und sie, die damals noch nicht Einsame, die aber
bereits ahnte, dass sie bald einsam sein würde, hatte zu ihm,
ihrem Geliebten, gesagt: „Schau, die beiden, welche Sehnsucht
in ihren Augen!" Und er, er hatte geantwortet: „Sie leben in
der zweidimensionalen Welt des Bildes. Sie können nie zueinander
finden. Ebenso wenig, wie du zu einem deiner Vorfahren
finden kannst."
Manchmal gelingt es der Einsamen, doppelt wahrzunehmen,
und oftmals entgegengesetzt. Ist sie so unvorsichtig, diese Erkenntnis
jemandem mitzuteilen, und wird gefragt, was sie genau
damit meine, gerät sie ins Stocken und findet keine Worte
dafür. Zu Hause fragt sie sich: Ja, was meine ich damit? Ich
sah das Bild im Museum, und es tat mir wohl, weil ich meinte,
es beweise, dass Sehnsucht nicht nur wehtut. Zugleich wusste
ich, dass sich die Frau und der Mann auf dem Bild nie, nie, nie
würden berühren können. Nur jemand, der einsam sein will
und es doch nicht sein will, der mitlachen will und es doch
nicht will, kann das verstehen.
Sieht sie glänzend schwarzen Salamandern zu, die sich auf
der feuchten Erde paaren, überfällt die Einsame alles Elend.
Denn nun sieht sie ja: Vor ihren Augen bewegt sich die Kreatur
in Gottes Gegenwart.
Zu Hause sitzt die Einsame am Bettrand und hört überlaut
Musik. Ein Mensch streckt den Kopf zur Tür herein und
sagt mir zorniger Stimme, sie tue gerade so, als ob sie allein
auf der Welt wäre.
„Ich bin allein", sagt die Einsame. "Ihr tut gerade so, als wäret ihr nicht allein."
©Haymon Verlag
... weniger
Autoren-Porträt von Michael Köhlmeier, Monika Helfer
Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin mit ihrem Ehemann Michael Köhlmeier in Hohenems/Vorarlberg und Wien.Michael Köhlmeier, geboren 1949 in Hard am Bodensee, ebenfalls freier Schriftsteller, ist als Erzähler antiker und heimischer Sagenstoffe und biblischer Geschichten im gesamten deutschsprachigen Raum bekannt. Auch seine Romane, zuletzt "Das Mädchen mit dem Fingerhut" (2016), sind große Publikumserfolge. Monika Helfer machte sich mit ihrem Roman "Bevor ich schlafen kann" (2010) ebenso wie mit dem Erzählband "Die Bar im Freien" (2012) einen Namen.In "Der Mensch ist verschieden" entdeckt das Schriftstellerehepaar die einzige antike Charakterlehre für ein heutiges Publikum und schreibt sie auf vergnüglich-erhellende Art weiter.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Michael Köhlmeier , Monika Helfer
- 2017, 2. Aufl., 112 Seiten, Maße: 15,6 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Haymon Verlag
- ISBN-10: 3709972698
- ISBN-13: 9783709972694
- Erscheinungsdatum: 02.03.2017
Kommentar zu "Der Mensch ist verschieden"
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