Bittersüße Heimat
Bericht aus dem Inneren der Türkei
Woher kommt, wohin treibt die Türkei?
Vom europäischen Istanbul bis ins wilde Kurdistan ist Necla Kelek gereist, an traumhafte Küsten und durch die majestätische Bergwelt Anatoliens, und hat ein Land vorgefunden, dessen Geschichtsträchtigkeit und...
Vom europäischen Istanbul bis ins wilde Kurdistan ist Necla Kelek gereist, an traumhafte Küsten und durch die majestätische Bergwelt Anatoliens, und hat ein Land vorgefunden, dessen Geschichtsträchtigkeit und...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Bittersüße Heimat “
Klappentext zu „Bittersüße Heimat “
Woher kommt, wohin treibt die Türkei?Vom europäischen Istanbul bis ins wilde Kurdistan ist Necla Kelek gereist, an traumhafte Küsten und durch die majestätische Bergwelt Anatoliens, und hat ein Land vorgefunden, dessen Geschichtsträchtigkeit und Schönheit sich kaum ein Reisender entziehen kann; die Bewohner des einstigen osmanischen Weltreichs aber wirken seltsam unbehaust, heimatlos, als trieben sie auf einem Floß durch eine ihnen fremde Welt.
In Ankara erlebt Necla Kelek, wie ihr Lieblingsonkel, ein Mann der Republik, zu Grabe getragen wird und mit ihm die Vorstellung, aus der Türkei ein Land im Geiste Europas zu formen. »Wir sind mit der Geschichte im Reinen«, verkündet Präsident Gül. »Unsere Religion ist ohne Fehler«, sagt Ministerpräsident Erdogan. Bis heute ist der Genozid an den Armeniern ein Tabu, immer noch verbergen sich Christen hinter Mauern, um ihren Glauben leben zu können. Vom Selbstbehauptungswillen der alten Eliten erzählt Keleks Begegnung mit einem Militär, vom Aufstieg der neuen Macht ihr Besuch beim Amt für Religion, einer milliardenschweren »Missionsbehörde«. Befremdet registriert sie in ihrer ostanatolischen Kindheitsheimat, dass die Öffentlichkeit frauenlos geworden ist - ausschließlich Männer beherrschen das Straßenbild. Sie erzählt von dem Leben einer erfolgreichen Fabrikdirektorin, die - weil unverheiratet - von ihrem Teejungen kontrolliert wird; aber auch von vielen, die sich nicht abfinden wollen mit der neuen islamischen Leitkultur - wie der Bauchtänzer vom Bosporus, die Frauen, die gegen Ehrenmorde kämpfen, der Polizeioffizier, mit dessen Hilfe die Autorin eine junge Kurdin mit deutschem Pass aus den Fängen ihrer Familie befreit.
Keleks Bericht aus dem Inneren der Türkei deckt unter der Oberfläche eines modernen Landes die Zerklüftungen auf, die zerrissenen Mentalitäten, die politischen Widersprüche, die sozialen Brüche, in die die Republik zunehmend gerät. Woher kommt, wohin treibt die Türkei?
Lese-Probe zu „Bittersüße Heimat “
Bittersüße Heimat von Necla KelekLESEPROBE
Taksim
Was ist Heimat?
Vielleicht gab es sie damals in Istanbul, wenn die Sonne aufging und die Fensterläden morgens um sieben in unserer kleinen Straße Hürriyet geöffnet wurden, um die frische Brise vom Bosporus hereinzulassen. Wenn die Teekessel sirrten, die Radios angestellt wurden und auch bei uns aus dem »Koffer-Radio«, einem Apparat so groß wie ein Reisekoffer, leise die Istanbuler Lieder von Dede Efendi erklangen, die mit nur einem einzigen langsamen, schluchzenden Ton beginnen, der sich dann aber – kurz bevor Geige und Trommel einsetzen – aufschwingt, als fliege ein Vogel über die Stadt und das Meer. Ich war sieben oder acht Jahre alt und wartete gern im Nachthemd auf den drei Stufen vor unserem Haus auf Ismet Bey, den Kapitän einer Bosporus-Fähre, der jeden Morgen um die gleiche Zeit das Haus verließ, vor mir seine Mütze zog und mich grüßte: »Guten Morgen, meine Schöne!«
Vielleicht ist Heimat mein Onkel Enischte. Er, der fast so alt war wie die Republik und für mich alles verkörperte, was das Land in all seiner Herzlichkeit, seinem Stolz und seiner Unvernunft ausmacht.
Vielleicht ist Heimat die Familie, das Zusammenkommen zu Geburten, Hochzeiten oder Beerdigungen, das Wissen um die Zugehörigkeit, das Gefühl, da ist jemand, der auf dich wartet.
Vielleicht ist Heimat die Vertrautheit, die aus gemeinsam verbrachten Kindheiten entsteht.
Und doch kann keiner aus meiner Familie einen Ort benennen, an dem er bleiben oder wohin er zurückkehren möchte: weder das kleine Haus meiner Eltern in Zentralanatolien noch Istanbul, Ankara oder Bursa, wo meine Verwandten wohnen; weder Ayvalik, wo sie Ferien machen, noch Niedersachsen, wo meine Geschwister und ich später aufgewachsen sind.
Heimat ist kein Ort.
Mein Onkel Enischte war 13
... mehr
Jahre alt, als er 1943 aus Zentralanatolien nach Istanbul ging, um dort die Schule zu besuchen. Wie er haben auch meine Eltern und nach ihnen fast alle meine Verwandten Uzun Yayla, das »Weite Tal« bei Kayseri, verlassen. Niemandem ist es schwergefallen wegzugehen, niemand hatte wirklich Wurzeln geschlagen, schon die Eltern oder Großeltern nicht, die aus anderen Gegenden des Landes gekommen und dort angesiedelt worden waren. Zuerst wohnten sie in den verlassenen Dörfern der Armenier. Die Häuser, die sie dann selbst bauten, waren aus Lehm und Stroh, einfach und provisorisch, irgendwann würde man ja doch wieder weggehen.
Wegzugehen, weiterzuziehen scheint für meine Familie wie für die meisten Angehörigen des anatolischen Volkes das Selbstverständlichste der Welt zu sein. Immer wieder verließen sie Höfe, Gärten, Flüsse, Berge. Ganze Dorfgemeinschaften zogen in einen Häuserblock der wuchernden Großstädte, nach Izmir, Istanbul oder Ankara – nicht immer freiwillig; oft wurden sie gezwungen, vom Hunger, vom Militär, vom Mangel. Zurück blieben leere Häuser, Dörfer, die verfielen und verwahrlosten, als sei der Krieg dort durchgezogen.
»Der Türke blickt niemals zurück«, sagte mir Ece Temelkuran, eine türkische Journalistin, bei einem Gespräch in Berlin. Ein Zurück gibt es nicht. »Wen interessiert, woher wir kommen, wohin wir gehen«, sagt der Volksmund. »Das Leben währt drei Tage. Alles ist vergänglich, wir sind hier, um zu sterben. Das Leben ist nichts als eine Prüfung, die Allah uns auferlegt hat.«
Vor vierzig Jahren kam ich als Zehnjährige nach Deutschland. Ich ließ keine Heimat zurück, sondern Kocabasch, Großkopf, meinen Kater. Nicht um Istanbul, um ihn weinte ich. Das Gefühl, mehr noch verloren zu haben, kam erst später. Istanbul war nicht wirklich die Heimat meiner Eltern geworden. Nie waren sie in dieser Stadt heimisch geworden, sie lebten dort wie Besucher aus Anatolien, um zwanzig Jahre später wieder fortzugehen. In Anatolien waren wir Tscherkessen, in Istanbul Anatolier, in Deutschland Türken. Zurück in der Türkei Almancis, Deutschländer. Meine Geschwister und ich sind ratlos, wo wir unsere Mutter beerdigen sollen, wenn sie stirbt. Sie wäre mit keinem Ort, weder hier noch dort, einverstanden. Wenn ich ihr erzähle, dass ich in Pinarbashe war, sagte sie: »Was hast du dort verloren?« Auch Deutschland ist nie ihre Heimat geworden, obwohl sie seit Jahrzehnten hier lebt. Auf sie wartete überall nur die Fremde.
Mein Vater ging nach zehn Jahren wieder zurück nach Anatolien, meine Geschwister – wenn auch aus anderen Gründen – folgten ihm später. Sehnsucht nach Heimat, nach einer Stadt oder nach Freunden war es nicht, was sie zurücktrieb. Entweder mussten sie, wie meine Schwester, die nach Anatolien verheiratet wurde, oder sie wollten es, wie meine Brüder, die sich bessere berufliche Chancen erhofften.
Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen: Die ersten Jahre in Deutschland waren viel zu aufregend, boten zu viel Neues, als dass wir Kinder die Türkei oder die »Heimat« vermisst hätten. Wir waren Teil dieser Gesellschaft und nahmen an allem teil, was sie uns bot. Wir gingen ins Kino, ich spielte im Weihnachtsmärchen des Stadttheaters mit, bis meinem Vater diese Freiheit zu weit ging und er seinen drei Frauen verbot, weiter Kontakt mit den Deutschen zu haben. Ich durfte mit den Klassenkameradinnen nicht mehr gemeinsam Schularbeiten machen, ich durfte nicht mehr schwimmen, ich durfte nur noch an dem teilnehmen, was im Familienkreis stattfand. Meine Mutter traf Verwandte, Vater spielte mit seinen türkischen Bekannten Karten, und aus Weihnachten wurde wieder Ramadan. Von diesem Zeitpunkt an lebten wir getrennt von den deutschen Nachbarn. Nur zu Frau Zizske von nebenan ging ich manchmal. Sie brachte mir bei, gedeckten Apfelkuchen zu backen. »Unsere Eltern auf der einen und die meisten Deutschen auf der anderen Seite haben es uns nicht leicht gemacht, in Deutschland Wurzeln zu schlagen. Wir mussten und müssen uns aber unbedingt von beiden Seiten emanzipieren«, beschreibt Seyran Ates treffend die Situation.
1
Unsere kleine Welt wurde eine kleine Türkei. Uns türkische Mädchen überwachte »Big Brother«, die Volkspolizei aus Brüdern, Cousins, Onkeln und Vätern. Wie und wo wir uns bewegten, was wir taten – jede noch so kleine Abweichung vom Vorgeschriebenen wurde flugs in der Gerüchteküche registriert und dem »Volksgericht« der türkischen Verwandten und Bekannten signalisiert. Meine Cousine traf die Höchststrafe für unsittliches Verhalten: Nach einem heimlichen Besuch in einer Discothek, bei dem sie von einem Bekannten ihres Vaters beobachtet wurde, schaffte man sie in die Türkei und verheiratete sie dort.
Uns anderen Mädchen blieb das Leben in der Kälte des Nordens, der uns fortan wie der ewige Winter und die endlose Dunkelheit vorkam. Der einzige Lichtblick waren vier Wochen Ferien im Sommer bei den Verwandten. Ich flüchtete mich in meine Fantasiewelt, ins Bett, zu meinen Büchern und zu meinen Erinnerungen an Istanbul, wo mir die Sonne den Rücken gewärmt, wo immer etwas Schönes auf mich gewartet hatte – ein Eis an der Fähre über den Bosporus, eine kalte Limonade in den Pinienwäldern von Camlica. Oder eben Ismet Bey, der freundliche Kapitän.
Vielleicht ist Heimat sila, die Sehnsucht nach dem Verlorenen, wenn man in der Fremde ist.
Bei meinen Besuchen in der Türkei habe ich nach dieser Nähe, nach Vertrautem gesucht. Es waren »sentimentale Reisen«, die auf das hofften, was es nicht mehr gab. Gleich der erste Versuch schlug fehl. Vor zehn Jahren bin ich mit meinen beiden Brüdern und meiner Schwester nach Kadiköy in Istanbul gefahren, in die kleine Hürriyet Caddesi, die Straße der Freiheit. Wir wollten das Haus unserer Kindheit suchen, ein altes Holzhaus im osmanischen Stil, das am Anfang einer Straße lag, die sanft einen Hügel hinaufführte. Das Haus war abgerissen worden, das Grundstück diente als Parkplatz. Nur ein Rest himmelblauer Farbe an der Brandmauer zum Nachbarhaus erinnerte noch an unser Kinderzimmer. Wer geht, hat den Ort, der einmal Heimat war, für immer verloren.
Bevor ich mich wirklich mit dem Land meiner Herkunft auseinandersetzen konnte, musste ich klären, wohin ich gehöre. Bin ich nun Türkin mit einem deutschen Pass oder eine »türkischstämmige« Deutsche? Schreibe ich in diesem Buch als Türkin über die eigenen Landsleute? Oder als Deutsche? Und woher nehme ich das Recht, als eine, die gegangen ist, über die Türkei zu sprechen?
Aus dem Verlust von dem, was einst Heimat war, kann auch Gewinn werden. Es hat seine Zeit gebraucht, bis ich das erkannte. Denn dafür musste ich eine Menge lernen. Ich habe, als ich hierher kam, Menschen angetroffen, die eine andere Vorstellung vom Leben, von Beziehungen, Politik und Freiheit hatten als meine türkischen Eltern und Verwandten. Es hat seine Zeit gebraucht, bis ich verstanden habe, was Distanz oder Zurückhaltung meinen deutschen Freunden bedeutete: dass Respekt kein Gehorsam, sondern Achtung vor dem anderen ist, dass Zurückhaltung keine Kälte, sondern Höflichkeit ist. Ich musste mich damit auseinandersetzen, wenn ich nicht »fremd« bleiben wollte. Dadurch lernte ich mich selbst besser kennen und überwand allmählich die Angst vor dem Alleinsein.
»Wie kann ich ein ›Ich‹ sein, ohne meine Eltern, mein Land zu verraten?«, fragte mich ein türkischer Jugendlicher bei einem Interview. Muslimische Gesellschaften begreifen sich als unauflösliche Gemeinschaften – jede und jeder ist Teil dieser Schicksalsgemeinschaft. Die entscheidende Frage, nicht nur für die Integration, sondern auch für die eigene Identität, lautet deshalb, ob der Einzelne es schafft, sich von dem verordneten »Wir« zu befreien, ein »Ich« mit einer eigenen Stimme zu werden und sich selbst zu entscheiden, für die Gemeinschaft, in der er lebt, Verantwortung zu übernehmen.
Der Weg zu einem Platz in dieser Gesellschaft führt nur über die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst. Wer darauf wartet, dass die hiesige Gesellschaft für ihn ein neues Kleid bereithält, in das er nur hineinzuschlüpfen braucht, um zu einer anderen Identität zu kommen, der wird bitter enttäuscht werden. Man muss Distanz entwickeln, zu sich selbst, zu seinem Herkunftsland und zu seiner neuen Heimat. Nur dann wird man ein selbstbestimmtes Leben führen und neue Wurzeln schlagen können. Wer sich hingegen dem Fremden verschließt, vergibt eine große Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln – das gilt für beide Seiten, für die, die kommen, wie auch für die, die hier sind. Auch die aufnehmende Gesellschaft muss für Veränderungen offen sein.
Migranten, die bereit sind, sich auf eine solche Auseinandersetzung einzulassen, verfügen über ein doppeltes Kapital: Wir kennen die Kultur, aus der wir kommen, und lernen eine neue kennen. Aus der Differenz zwischen beiden kann Neues entstehen. Der Blick wird geschärft, man schaut kritischer auf manche gesellschaftlichen Vorkommnisse als diejenigen, die damit wie selbstverständlich aufgewachsen sind. Mir hat das ermöglicht, etwas zu sehen, was die hiesige Gesellschaft nicht sah oder nicht sehen wollte: die elende Situation der »Importbräute«, die ich in meinem Buch »Die fremde Braut« beschrieben habe; oder »Die verlorenen Söhne«, die gewalttätigen muslimischen jungen Männer, die sich – zerrissen zwischen den Imperativen ihrer Herkunftskultur und den Anforderungen einer modernen Gesellschaft – so schwertun, hier zurechtzukommen.
© Kiepenheuer & Witsch Verlag
Wegzugehen, weiterzuziehen scheint für meine Familie wie für die meisten Angehörigen des anatolischen Volkes das Selbstverständlichste der Welt zu sein. Immer wieder verließen sie Höfe, Gärten, Flüsse, Berge. Ganze Dorfgemeinschaften zogen in einen Häuserblock der wuchernden Großstädte, nach Izmir, Istanbul oder Ankara – nicht immer freiwillig; oft wurden sie gezwungen, vom Hunger, vom Militär, vom Mangel. Zurück blieben leere Häuser, Dörfer, die verfielen und verwahrlosten, als sei der Krieg dort durchgezogen.
»Der Türke blickt niemals zurück«, sagte mir Ece Temelkuran, eine türkische Journalistin, bei einem Gespräch in Berlin. Ein Zurück gibt es nicht. »Wen interessiert, woher wir kommen, wohin wir gehen«, sagt der Volksmund. »Das Leben währt drei Tage. Alles ist vergänglich, wir sind hier, um zu sterben. Das Leben ist nichts als eine Prüfung, die Allah uns auferlegt hat.«
Vor vierzig Jahren kam ich als Zehnjährige nach Deutschland. Ich ließ keine Heimat zurück, sondern Kocabasch, Großkopf, meinen Kater. Nicht um Istanbul, um ihn weinte ich. Das Gefühl, mehr noch verloren zu haben, kam erst später. Istanbul war nicht wirklich die Heimat meiner Eltern geworden. Nie waren sie in dieser Stadt heimisch geworden, sie lebten dort wie Besucher aus Anatolien, um zwanzig Jahre später wieder fortzugehen. In Anatolien waren wir Tscherkessen, in Istanbul Anatolier, in Deutschland Türken. Zurück in der Türkei Almancis, Deutschländer. Meine Geschwister und ich sind ratlos, wo wir unsere Mutter beerdigen sollen, wenn sie stirbt. Sie wäre mit keinem Ort, weder hier noch dort, einverstanden. Wenn ich ihr erzähle, dass ich in Pinarbashe war, sagte sie: »Was hast du dort verloren?« Auch Deutschland ist nie ihre Heimat geworden, obwohl sie seit Jahrzehnten hier lebt. Auf sie wartete überall nur die Fremde.
Mein Vater ging nach zehn Jahren wieder zurück nach Anatolien, meine Geschwister – wenn auch aus anderen Gründen – folgten ihm später. Sehnsucht nach Heimat, nach einer Stadt oder nach Freunden war es nicht, was sie zurücktrieb. Entweder mussten sie, wie meine Schwester, die nach Anatolien verheiratet wurde, oder sie wollten es, wie meine Brüder, die sich bessere berufliche Chancen erhofften.
Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen: Die ersten Jahre in Deutschland waren viel zu aufregend, boten zu viel Neues, als dass wir Kinder die Türkei oder die »Heimat« vermisst hätten. Wir waren Teil dieser Gesellschaft und nahmen an allem teil, was sie uns bot. Wir gingen ins Kino, ich spielte im Weihnachtsmärchen des Stadttheaters mit, bis meinem Vater diese Freiheit zu weit ging und er seinen drei Frauen verbot, weiter Kontakt mit den Deutschen zu haben. Ich durfte mit den Klassenkameradinnen nicht mehr gemeinsam Schularbeiten machen, ich durfte nicht mehr schwimmen, ich durfte nur noch an dem teilnehmen, was im Familienkreis stattfand. Meine Mutter traf Verwandte, Vater spielte mit seinen türkischen Bekannten Karten, und aus Weihnachten wurde wieder Ramadan. Von diesem Zeitpunkt an lebten wir getrennt von den deutschen Nachbarn. Nur zu Frau Zizske von nebenan ging ich manchmal. Sie brachte mir bei, gedeckten Apfelkuchen zu backen. »Unsere Eltern auf der einen und die meisten Deutschen auf der anderen Seite haben es uns nicht leicht gemacht, in Deutschland Wurzeln zu schlagen. Wir mussten und müssen uns aber unbedingt von beiden Seiten emanzipieren«, beschreibt Seyran Ates treffend die Situation.
1
Unsere kleine Welt wurde eine kleine Türkei. Uns türkische Mädchen überwachte »Big Brother«, die Volkspolizei aus Brüdern, Cousins, Onkeln und Vätern. Wie und wo wir uns bewegten, was wir taten – jede noch so kleine Abweichung vom Vorgeschriebenen wurde flugs in der Gerüchteküche registriert und dem »Volksgericht« der türkischen Verwandten und Bekannten signalisiert. Meine Cousine traf die Höchststrafe für unsittliches Verhalten: Nach einem heimlichen Besuch in einer Discothek, bei dem sie von einem Bekannten ihres Vaters beobachtet wurde, schaffte man sie in die Türkei und verheiratete sie dort.
Uns anderen Mädchen blieb das Leben in der Kälte des Nordens, der uns fortan wie der ewige Winter und die endlose Dunkelheit vorkam. Der einzige Lichtblick waren vier Wochen Ferien im Sommer bei den Verwandten. Ich flüchtete mich in meine Fantasiewelt, ins Bett, zu meinen Büchern und zu meinen Erinnerungen an Istanbul, wo mir die Sonne den Rücken gewärmt, wo immer etwas Schönes auf mich gewartet hatte – ein Eis an der Fähre über den Bosporus, eine kalte Limonade in den Pinienwäldern von Camlica. Oder eben Ismet Bey, der freundliche Kapitän.
Vielleicht ist Heimat sila, die Sehnsucht nach dem Verlorenen, wenn man in der Fremde ist.
Bei meinen Besuchen in der Türkei habe ich nach dieser Nähe, nach Vertrautem gesucht. Es waren »sentimentale Reisen«, die auf das hofften, was es nicht mehr gab. Gleich der erste Versuch schlug fehl. Vor zehn Jahren bin ich mit meinen beiden Brüdern und meiner Schwester nach Kadiköy in Istanbul gefahren, in die kleine Hürriyet Caddesi, die Straße der Freiheit. Wir wollten das Haus unserer Kindheit suchen, ein altes Holzhaus im osmanischen Stil, das am Anfang einer Straße lag, die sanft einen Hügel hinaufführte. Das Haus war abgerissen worden, das Grundstück diente als Parkplatz. Nur ein Rest himmelblauer Farbe an der Brandmauer zum Nachbarhaus erinnerte noch an unser Kinderzimmer. Wer geht, hat den Ort, der einmal Heimat war, für immer verloren.
Bevor ich mich wirklich mit dem Land meiner Herkunft auseinandersetzen konnte, musste ich klären, wohin ich gehöre. Bin ich nun Türkin mit einem deutschen Pass oder eine »türkischstämmige« Deutsche? Schreibe ich in diesem Buch als Türkin über die eigenen Landsleute? Oder als Deutsche? Und woher nehme ich das Recht, als eine, die gegangen ist, über die Türkei zu sprechen?
Aus dem Verlust von dem, was einst Heimat war, kann auch Gewinn werden. Es hat seine Zeit gebraucht, bis ich das erkannte. Denn dafür musste ich eine Menge lernen. Ich habe, als ich hierher kam, Menschen angetroffen, die eine andere Vorstellung vom Leben, von Beziehungen, Politik und Freiheit hatten als meine türkischen Eltern und Verwandten. Es hat seine Zeit gebraucht, bis ich verstanden habe, was Distanz oder Zurückhaltung meinen deutschen Freunden bedeutete: dass Respekt kein Gehorsam, sondern Achtung vor dem anderen ist, dass Zurückhaltung keine Kälte, sondern Höflichkeit ist. Ich musste mich damit auseinandersetzen, wenn ich nicht »fremd« bleiben wollte. Dadurch lernte ich mich selbst besser kennen und überwand allmählich die Angst vor dem Alleinsein.
»Wie kann ich ein ›Ich‹ sein, ohne meine Eltern, mein Land zu verraten?«, fragte mich ein türkischer Jugendlicher bei einem Interview. Muslimische Gesellschaften begreifen sich als unauflösliche Gemeinschaften – jede und jeder ist Teil dieser Schicksalsgemeinschaft. Die entscheidende Frage, nicht nur für die Integration, sondern auch für die eigene Identität, lautet deshalb, ob der Einzelne es schafft, sich von dem verordneten »Wir« zu befreien, ein »Ich« mit einer eigenen Stimme zu werden und sich selbst zu entscheiden, für die Gemeinschaft, in der er lebt, Verantwortung zu übernehmen.
Der Weg zu einem Platz in dieser Gesellschaft führt nur über die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst. Wer darauf wartet, dass die hiesige Gesellschaft für ihn ein neues Kleid bereithält, in das er nur hineinzuschlüpfen braucht, um zu einer anderen Identität zu kommen, der wird bitter enttäuscht werden. Man muss Distanz entwickeln, zu sich selbst, zu seinem Herkunftsland und zu seiner neuen Heimat. Nur dann wird man ein selbstbestimmtes Leben führen und neue Wurzeln schlagen können. Wer sich hingegen dem Fremden verschließt, vergibt eine große Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln – das gilt für beide Seiten, für die, die kommen, wie auch für die, die hier sind. Auch die aufnehmende Gesellschaft muss für Veränderungen offen sein.
Migranten, die bereit sind, sich auf eine solche Auseinandersetzung einzulassen, verfügen über ein doppeltes Kapital: Wir kennen die Kultur, aus der wir kommen, und lernen eine neue kennen. Aus der Differenz zwischen beiden kann Neues entstehen. Der Blick wird geschärft, man schaut kritischer auf manche gesellschaftlichen Vorkommnisse als diejenigen, die damit wie selbstverständlich aufgewachsen sind. Mir hat das ermöglicht, etwas zu sehen, was die hiesige Gesellschaft nicht sah oder nicht sehen wollte: die elende Situation der »Importbräute«, die ich in meinem Buch »Die fremde Braut« beschrieben habe; oder »Die verlorenen Söhne«, die gewalttätigen muslimischen jungen Männer, die sich – zerrissen zwischen den Imperativen ihrer Herkunftskultur und den Anforderungen einer modernen Gesellschaft – so schwertun, hier zurechtzukommen.
© Kiepenheuer & Witsch Verlag
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Autoren-Porträt von Necla Kelek
Necla Kelek wurde in Istanbul geboren und lebt in Berlin. Sie hat Volkswirtschaftslehre und Soziologie studiert und wurde zum Dr. phil. promoviert. Ihre Bücher »Die fremde Braut«, »Die verlorenen Söhne«, »Bittersüße Heimat« und »Him melsreise« sind Best- und Longseller und haben die Debatte um Integration und den Islam in Deutschland nachhaltig geprägt. Necla Kelek wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Geschwister-Scholl-Preis 2005, dem Hildegard-von-Bingen-Preis 2009 und zuletzt dem Freiheitspreis 2011.
Bibliographische Angaben
- Autor: Necla Kelek
- 2008, 1. Auflage, 304 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462040421
- ISBN-13: 9783462040425
- Erscheinungsdatum: 20.09.2008
Rezension zu „Bittersüße Heimat “
»Der melancholische Blick zurück, auf das Familienleben, auf die duftenden Speisen oder die besondere Aura von Istanbul - all das sind Höhepunkte in Keleks Buch.« Barbara Schmidt-Mattern Deutschlandfunk
Pressezitat
»Der melancholische Blick zurück, auf das Familienleben, auf die duftenden Speisen oder die besondere Aura von Istanbul - all das sind Höhepunkte in Keleks Buch.« Barbara Schmidt-Mattern Deutschlandfunk
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